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       # taz.de -- Gaza unter Beschuss: Wir tranken Kaffee unter Drohnen
       
       > Menschen prügeln sich um Brot, ein Vater will sein Haus wieder aufbauen,
       > die Fischer fangen Sardinen. Eindrücke von einer Seite des Krieges.
       
   IMG Bild: Während der Waffenruhe: Bewohner holen Habseligkeiten aus ihren zerstörten Häusern.
       
       GAZA taz | Am 15. Juli fiel mir das Haus vor unserem Küchenfenster auf. Es
       war mein erster Tag in Gaza-Stadt. Das sanfte Licht des Nachmittags tauchte
       es in ein warmes Gelb, die Palme davor warf einen gezackten Schatten auf
       den Vorgarten. Jemand hatte ein buntes Graffiti auf die sandfarbenen Mauern
       gesprüht. Auf einer Wäscheleine hingen T-Shirts und Hosen. Sie schienen wie
       ein Zeichen, dass es in diesen vier Wänden noch einen Alltag gab.
       
       Aber ich täuschte mich. Am nächsten Morgen war die Wäsche noch da. Der Wind
       hatte sie über den Garten verstreut, die Haustür und die Fenster waren
       immer noch geschlossen. Das Haus stehe leer, erzählte mir Mahmud, unser
       Vermieter. Als der Krieg begann, war die Familie ins Zentrum von Gaza
       gezogen, eine Gegend, die bei früheren Konflikten meist verschont blieb.
       Aber während dieses Krieges, den Israel als Operation „Fels in der
       Brandung“ bezeichnet, wird das Zentrum viel stärker angegriffen als die
       nördliche Hafengegend, in der ich wohne.
       
       Die malerische Ruhe des Nachbarhauses bekam jetzt etwas Unheimliches. Auf
       einem Streifen von 44 Kilometer Länge und 8 Kilometer Breite, der vom Land,
       vom Meer und von der Luft aus beschossen wird, gibt es weder Frontlinien
       noch sichere Orte. Das Haus machte mir klar, dass jede Straßenecke in Gaza
       eine Geschichte von diesem Krieg erzählt.
       
       Da ist der muslimische Taxifahrer, dessen Familie eine Bleibe in der
       griechisch-orthodoxen Kirche fand. Da sind die langen Schlangen, in denen
       Menschen für Brot anstehen und immer wieder übereinander herfallen. Da sind
       die palästinensischen Freunde, die anrufen, weil sie seit dem Bombardement
       des wichtigsten Kraftwerks am Dienstag keinen Strom haben und deshalb keine
       Nachrichten.
       
       An einem grauen Morgen, dem 20. Juli, strömten Menschen durch die Straße
       auf uns zu. Sie kamen aus Schedschaija, einer Vorstadt im Osten von
       Gaza-Stadt, gleich an der Pufferzone. Die israelische Armee geht davon aus,
       dass von hier viele der Raketen abgeschossen werden und dass auch die
       Grenztunnel hier verlaufen.
       
       ## Das Rattern einer Kalaschnikow
       
       Männer und Frauen trugen ihre Kinder, sonst kaum etwas. Raketen und
       Artilleriefeuer trafen auf Häuser, die nur ein paar hundert Meter entfernt
       lagen, Drohnen surrten über den Köpfen, und immer wieder war das Rattern
       einer Kalaschnikow zu hören, viel zu nah. Die Menschen schrien,
       diskutierten, was sie zurücklassen konnten, und bettelten darum, dass
       Fremde sie in ihren Autos mitnehmen.
       
       Mohammed Abu Qumbaz trug beide Kinder in seinen Armen. Sein weißer Bart
       lässt ihn älter aussehen, obwohl er erst Mitte 30 ist. Die ganze Nacht,
       erzählte er, habe er die Kinder von einem Zimmer ins nächste gebracht,
       damit keines der Geschosse sie treffen konnte. In den frühen Morgenstunden
       hatten sie die Kinder gepackt und waren nach Westen aufgebrochen, zu seiner
       Schwester. „Wir können unsere Kinder hier nicht schützen. Aber wo können
       wir das?“, rief er. „Ich kann einen Kilometer laufen, dann bin ich für
       heute sicher, aber was ist morgen?“
       
       Vorausgegangen war wieder eines dieser Rituale, die mit halbherziger
       Diplomatie beginnen, der Ausrufung und dem Bruch des Waffenstillstands, die
       dann dazu führen, dass noch mehr Menschen sterben, verletzt werden oder
       ihre Häuser verlieren.
       
       An den Waffenstillstand vom vergangenen Samstag erinnern sich hier noch
       alle, weil manche zu ihren Häusern zurückkonnten, weil andere erfuhren, ob
       ihre Häuser überhaupt noch stehen, und wieder andere, ob die Leichen ihrer
       Verwandten gefunden wurden. Sie liefen über Straßen, die sie einmal gekannt
       hatten und die jetzt voll Schutt lagen. Die Häuser, die Läden, die Bäume am
       Straßenrand waren verschwunden. Alle kletterten über die Trümmerberge, die
       einmal ihre Häuser gewesen waren, und suchten nach Verwandten, als wären
       die von einer Lawine verschüttet worden.
       
       ## Habseligkeiten überall verteilt
       
       In Abusan, beim Flüchtlingslager Chan Junis, las ein Mann Papierfetzen auf.
       Das sei der Koran, sagte er. Er sammelte die Fetzen in einer Plastiktüte.
       Der Islam verbietet es, den Koran in den Müll zu werfen.
       
       In Schedschaija hatten die Explosionen die Habseligkeiten überall verteilt.
       T-Shirts hingen von Bäumen. Häuser waren entzweit, widerwillig öffneten
       sich ihre Zimmer den Blicken der Öffentlichkeit.
       
       Auch Abed Qarara, ein junger Muslim, hat sein Haus am 20. Juli verlassen.
       Jetzt kampiert seine Familie vor einer Klinik im Westen von Gaza-Stadt. Ein
       Bild von seinem Sohn und seiner Tochter trägt er bei sich. Als wir die
       Treppen seines zerbombten Hauses hinaufstiegen, zeigte er auf die Vorhänge,
       auf Teppiche, Sessel und bemühte sich zu betonen, wie schön alles einmal
       ausgesehen hatte. Dem Wohnzimmer fehlten jetzt die Wände.
       
       Was er tun werde, wenn der Krieg vorbei sei, fragte ich. „Wir kommen mit
       einem Zelt zurück“, antwortete er. „Wir werden das Haus einreißen müssen,
       reparieren lässt sich da nichts mehr. Und dann“, er zögerte, „werden wir es
       wieder aufbauen.“ Er zählt zu den Optimisten. Andere haben Angst, dass ein
       langfristiger Waffenstillstand diese östliche Gegend für unbewohnbar
       erklären wird.
       
       ## Die Anzahl der sicheren Orte sinkt
       
       Nach fast jedem Waffenstillstand setzen aber bisher die Bombardements
       wieder ein, und die Beschuldigungen zwischen Israel und Palästina, wer nun
       welchen Angriff wann und wo zu verantworten hatte. Am Montag starben
       palästinensische Kinder im Flüchtlingslager Beach Camp. Am Dienstag starben
       Menschen beim Bombardement einer Schule in Beit Lahia, am Mittwoch in einer
       Schule in Dschabalija, am Donnerstag beim Angriff auf einen Markt in
       Schedschaija.
       
       Die Anzahl der sicheren Orte sinkt, während die Zahl der Toten, die in den
       Leichenhallen ankommen, steigt. Mit ihnen kommen die Familien, ihre Kleider
       blutgetränkt. Eltern versuchen verzweifelt zu begreifen, ob ihre Kinder
       wirklich tot sind.
       
       Am lebhaftesten können die Menschen beschreiben, was sie vermissen. Ein
       palästinensischer Kollege etwa vermisst es, nachts durch die Straßen zu
       laufen. Einmal haben wir uns mit ihm rausgeschlichen. Wir gingen in ein
       Restaurant namens Thailandi. Alles schließt zurzeit sehr früh, wo das
       Nachtleben sonst doch bis in den Morgen dauert.
       
       Wir durften trotzdem ein wenig länger bleiben. Die Bedienungen hängten
       Lampen auf. Dann fiel der Strom aus und damit auch der Fernseher, der
       Hamas-Einsätze an der Grenze gezeigt hatte. Die tragbaren Lichter verliehen
       dem Raum eine seltsame Atmosphäre. Wir saßen bewegungslos da, bis eine
       Bedienung, die sah, dass wir das Essen im Dunkeln nicht gewohnt waren, uns
       noch ein Licht brachte. Den Kaffee tranken wir draußen. Die Drohnen
       übertönten unsere Gespräche.
       
       Niemand bemüht sich mehr, das sinnlose Töten zu verstehen. Also kümmern
       sich die Menschen um die kleinen Dinge, wischen Treppen, bereiten
       Süßigkeiten zu oder lesen in der Sonne ein gutes Buch.
       
       ## Schutt in den Straßen
       
       Am Freitagmorgen weckte mich das Röhren der Motorbote, die den Hafen
       verließen. Der neue Waffenstillstand setzte um acht Uhr unserer Zeit ein.
       Er sollte 72 Stunden dauern. Seit dem 8. Juli hatten die Fischer nicht
       gearbeitet. Während wir zwischen dem Schutt durch die Straßen liefen, um
       die Folgen der letzten Bombardements zu inspizieren, hörten wir immer
       wieder Explosionen.
       
       Gegen Mittag erzählte unser Fahrer, dass Kämpfer irgendwo auf einen
       israelischen Jeep getroffen seien. Ein Freund hatte mich gebeten, sein Haus
       zu filmen. Das Haus war eine Ruine. Kein Vorgarten mehr, keine Palmen auf
       der Einfahrt. Ein Granatsplitter schlug in der Nähe ein, und wir machten
       uns auf den Nachhauseweg. Als wir uns dem Hafen näherten, drang der Geruch
       von Fisch ins Auto. Die Fischer waren zurück und verkauften Sardinen. Dann
       klingelte das Handy. Der Waffenstillstand ist vorbei.
       
       Immer wenn es mir wieder einfällt, mache ich ein Bild von dem Haus vor
       unserem Küchenfenster. Ich halte die Veränderungen fest. Und jeden Tag
       hoffe ich, dass morgen der Tag sein wird, an dem ich seine Bewohner treffe,
       an dem sie mir ihre Geschichte erzählen.
       
       ## ■ , 37, arbeitet als Fotojournalistin in Jerusalem. Aus Gaza berichtet
       sie unter anderem für die italienische und Al-Dschasira International
       
       1 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silvia Boarini
       
       ## TAGS
       
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