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       # taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der islamische Augustus
       
       > Die kommende Präsidentschaftswahl könnte das Land ins antike Rom
       > zurückschicken: Die Republik wird Kulisse und es herrscht nur noch einer:
       > Recep Erdogan.
       
   IMG Bild: Systemwechsel: Erdogan möchte erster direkt gewählter Präsident der Türkei werden.
       
       ISTANBUL taz | Am 14. August jährt sich der Todestag des bekanntesten
       römischen Kaisers, Augustus, zum 2.000. Mal. Ein guter Tag, um eines Mannes
       zu gedenken, der das römische Weltreich über 40 Jahre lang regierte und
       dabei vor allem eines vollbrachte: das Ende der Republik und die Einführung
       des Kaisertums. Mit anderen Worten: Die Herrschaft der vielen wurde
       abgeschafft zugunsten der unbeschränkten Machtausübung des einen.
       
       Auch wenn der römische Senat keine Demokratie im heutigen Sinne darstellte,
       sondern eher so etwas wie die Oligarchenversammlung des Reiches, war die
       Herrschaft des Augustus die entscheidende Zäsur in der Republikgeschichte
       Roms. Augustus ist ein hervorragendes Vorbild für die gerissenen Autokraten
       unserer Tage, meinte Simon Strauss kürzlich in der Süddeutschen Zeitung.
       
       Männer wie Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin sei es meisterhaft
       gelungen, unter dem Deckmantel des formalen Fortbestands der Republik die
       De-facto-Alleinherrschaft durchzusetzen. „Gesagt wird das eine, gemeint das
       andere.“ „Totengräber der Republik“ wurde Augustus von dem Philosophen
       Petrarca genannt.
       
       Bei der Wahl zum neuen türkischen Präsidenten an diesem 10. August ist
       Recep Tayyip Erdogan der große Favorit. Nachdem selbst die landesweiten
       Gezi-Proteste gegen seinen autokratischen Führungsstil und der
       anschließende Korruptionsskandal den Sieg Erdogans bei den Kommunalwahlen
       im Frühjahr nicht verhindern konnten, geht es nun nur noch um die Frage, ob
       Erdogan bereits im ersten Wahlgang gewinnt.
       
       ## Demagogie statt Demokratie
       
       Schon jetzt feiern seine Anhänger die Wahl als großen Sieg der Demokratie,
       weil der Präsident erstmals in der türkischen Geschichte direkt gewählt
       wird. Auch die Türken im Ausland dürfen mitwählen – im Berliner
       Olympiastadion und anderswo sind die Urnen noch bis Sonntag geöffnet.
       
       Die Demokratiekampagne Erdogans ist allerdings pure Demagogie. Wenn es bei
       der Wahl Erdogans um Demokratie geht, dann vor allem um deren Abschaffung.
       Die bekannte türkische Soziologin und Abgeordnete der Oppositionspartei
       CHP, Binnaz Toprak, sagte kürzlich in einem Interview, dass es bei der
       Präsidentenwahl um nicht weniger als einen Systemwechsel gehe, der eine
       völlige Neuausrichtung des Landes nach sich ziehen werde.
       
       Wie einst Augustus wird Erdogan als Präsident eine Alleinherrschaft vor
       republikanischer Kulisse ausüben. Über kurz oder lang wird es eine neue
       Verfassung geben, die in ein Präsidialsystem führt. Doch das ist dann gar
       nicht so wichtig. Wichtig ist die mit Erdogans Wahl zum Alleinherrscher
       einhergehende Neuausrichtung.
       
       Seit Gründung der türkischen Republik 1923 gibt es einen anhaltenden Kampf
       um Demokratie. In den ersten Jahrzehnten herrschte eine Staatspartei,
       später wurde die demokratische Entwicklung durch drei Militärputsche brutal
       gestoppt. Trotzdem hatte die türkische Republik ein Ziel, das bislang nicht
       infrage gestellt wurde: Die Türkei soll Teil der westlichen Zivilisation
       sein.
       
       ## Teil der europäischen Zivilisation
       
       Formuliert wurde dieses Ziel vom Gründervater der Republik, Mustafa Kemal,
       der später den Titel Atatürk bekam. Die Türkei sollte Teil der europäischen
       Zivilisation werden, raus aus dem Kreis der muslimischen Staaten, der
       Sultane und religiösen Potentaten, die das Leben am Osmanischen Hof
       bestimmt hatten.
       
       Mit diesem Ziel wurde die Türkei zwangsreformiert: eine neue Sprache, neue
       Schrift, neue Kleiderordnung, Einführung des europäisches Zivil- und
       Strafrechts und die absolute Festlegung auf den säkularen Staat. Da die
       Demokratie ein Teil der westlichen Zivilisation ist, konnten türkische
       Demokraten immer darauf setzen, dass eine weitere Annäherung an Europa auch
       die demokratischen Defizite des Landes nach und nach minimieren würde.
       Gekrönt worden wäre diese Politik durch den Beitritt der Türkei zur EU.
       
       Wenn Erdogan im August 2014 zum Präsidenten gewählt wird, geht die Epoche
       der türkischen Republik zu Ende. Allerdings können auch Präsidialsysteme
       wie Frankreich oder die USA demokratisch sein. Doch das türkische
       Präsidialsystem wird eher dem in Kasachstan oder Ägypten gleichen.
       
       Vor allem die bisherigen Staatsziele der Republik werden auf dem Müllhaufen
       der Geschichte landen. Erdogan macht schon länger keinen Hehl mehr daraus,
       dass er „seine Türkei“ als Teil der muslimischen und nicht der westlichen
       Zivilisation begreift.
       
       ## Vom Partner zum Feind
       
       Es mag eine Zeit gegeben haben, wo er darin keinen Gegensatz sah. Aber
       diese Zeit ist vorbei. Auch wenn die Kulissen noch stehen, die Türkei also
       weiterhin Mitglied der Nato bleibt und wohl auch die Beitrittsgespräche mit
       der EU zunächst nicht beenden wird, der Westen ist für Erdogan und die
       Ideologen seiner Partei immer häufiger vom Partner zum Feind geworden.
       
       Seine Rhetorik anlässlich des Gazakrieges lässt daran keinen Zweifel. Der
       kulturelle und politische Neoosmanismus, den Erdogan und seine Leute
       pflegen, ist mit einer Zugehörigkeit zu Europa, zur westlichen Zivilisation
       längst nicht mehr kompatibel.
       
       Schon wird in regierungsnahen Publikationen ganz offen darüber räsoniert,
       dass sich Demokratie und Islam nicht vertragen. Man könne sich schließlich
       nicht per Mehrheitsentscheid über göttliche Gebote hinwegsetzen.
       
       Auch in Deutschland wird darüber diskutiert werden, ob dieser Weg unter
       Erdogan zwangsläufig war. Wäre der Beitrittswunsch der Türken 2004 ernst
       genommen worden, es wäre auch angesichts der türkischen Einwanderung eines
       der spannendsten politischen Projekte Europas geworden.
       
       An Ungarn zeigt sich, dass auch die EU nicht grundsätzlich vor der
       Entwicklung zum Autoritarismus schützt, aber man darf doch annehmen, dass
       die Türkei in den letzten zehn Jahren einen anderen Weg genommen hätte,
       wenn Erdogan gleich zu Beginn seiner Amtszeit eng in die politischen
       Strukturen der EU eingebunden worden wäre. Sein bestimmt das Bewusstsein.
       
       Erdogan hätte sich innenpolitisch weniger bedroht gefühlt, und die Türkei
       wäre außenpolitisch ein Teil Europas gewesen. Den Drang zur eigenständigen
       muslimischen Regionalmacht hätte es so nicht gegeben, stattdessen wäre
       Europa im Nahen Osten ganz anders präsent gewesen. Jetzt gibt es nur noch
       europäische Kulissen, hinter denen die Brache beginnt.
       
       2 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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