URI: 
       # taz.de -- Hilfsmittel im Leistungssport: Der Kampf um Teilhabe
       
       > Brille beim Sport? Okay. Prothese beim Weitsprung? Nicht okay. Der Fall
       > Markus Rehm zeigt: Das Recht auf Teilhabe müssen Behinderte noch
       > erstreiten.
       
   IMG Bild: Darf nicht an der EM teilnehmen: Markus Rehm, deutscher Meister im Weitsprung.
       
       BERLIN taz | Der Sport ist stolz auf seine einfache Symbolik. Alle Menschen
       dürfen bei ihm mitmachen, sich in Wettkämpfen messen, an ihre körperlichen
       Grenzen gehen. Am Ende weiß man dann, wer der Stärkste ist, wer der
       Schnellste, oder auch, wer am weitesten springt.
       
       Markus Rehm springt ziemlich weit. Doch der Leichtathlet aus Leverkusen,
       dem ein Unterschenkel fehlt, darf nicht bei den Europameisterschaften dabei
       sein, wenn die am weitesten springenden Menschen des Kontinents ermittelt
       werden.
       
       Während mit allerlei biomechanischen Hinweisen so getan wird, als sei die
       sportjuristische Behandlung von Rehms Karbonprothese ein Problem, für
       dessen Lösung es nur naturwissenschaftlicher Fachleute bedürfe, so geht es
       doch vor allem um einen sozialen Ausschluss – beziehungsweise, nur wenig
       komplizierter, darum, dass Sportverbände die Teilnahme von neuen
       Personengruppen bei ihren doch eigentlich für alle offenen Wettbewerben
       abwehren.
       
       Sozialer Ausschluss im Sport ist immer problematisch. Historisch betrachtet
       ging es bei ihm meist darum, dass Menschen ihr Recht auf Teilhabe erkämpfen
       mussten: Arbeiter, denen man nachsagte, gegen das Amateurstatut zu
       verstoßen, weil sie ja gemeinerweise in täglicher Lohnarbeit ihre Körper
       kräftigten; Frauen, denen untersagt wurde, ihre Körper in unschicklicher
       Weise zu präsentieren.
       
       Der Kampf gegen sozialen Ausschluss war immer einer für Demokratie und
       Teilhabe. Aber lässt sich der Ausschluss prothesentragender Leichtathleten
       historisch vergleichen? Mit den Negro Leagues im amerikanischen Baseball,
       als Afroamerikaner nicht in der weißen Profiliga spielen durften? Liegt
       etwas vor, das man mit der feinen und fast nur noch im organisierten Sport
       denkbaren Unterscheidung zwischen „Schach“ und „Frauenschach“ vergleichen
       könnte? Oder ist das alles nur so bedeutend wie die Gewichtsklassen, die
       sich am Körpergewicht des Sportlers orientieren?
       
       Letzteres wäre die einfachste Antwort. Sie wäre unskandalös und für den
       organisierten Sport am elegantesten. Es ist nur – leider, lieber Sport –
       von allen möglichen Analogien die falscheste: Zum einen kann die
       Gewichtsklasse gewechselt werden, in dem man ab- oder zunimmt und ein Boxer
       darf selbstverständlich den Meister einer schwereren Klasse herausfordern.
       Zweitens ist, etwa im Gewichtheben, die Leistung der leichteren Heber
       schlicht niedriger, denn es gibt eine Korrelation zwischen Muskelmasse und
       Kraft.
       
       ## Die übliche Behindertenfeindlichkeit
       
       Es ist also schon klassischer sozialer Ausschluss, wenngleich er vielleicht
       nicht an Rassismus oder an Sexismus erinnert. Es geht aber um übliche
       Behindertenfeindlichkeit.
       
       Denn bei allen vermeintlich objektiven Argumenten, die gerade vorgetragen
       werden, sollte doch auffallen, dass bestimmte Handicaps, die dank
       Medizintechnik nicht mehr als Behinderung gelten, im Sport schon längst
       keine Rolle mehr spielen: Wer wollte Brillenträger von Schießwettbewerben
       ausschließen? So borniert, dass ein Bogenschütze mit Brille ja einen
       unfairen Vorteil hätte, hat man vielleicht vor 60 oder 90 Jahren
       schwadroniert – aber heute?
       
       Es dürfte kein Zufall sein, dass wir gerade jetzt über das Recht von
       Prothesenträgern auf Teilhabe diskutieren. Rehm und andere stehen nämlich
       auch für das Ende eines unangenehm patriarchalen Umgangs mit Behinderten
       (ehrlicherweise muss man einschränken: mit körperlich Gehandicapten). Rehm
       repräsentiert also mit seinen sportlichen Erfolgen, die er nicht mehr nur
       bei gönnerhaft rezipierten Events wie den Paralympics erreichen möchte,
       einen selbstbewussten Typus des Behinderten, der zu Recht aufbegehrt.
       
       Seine selbstbewusste Wortmeldung fällt aber in eine Zeit, in der im Sport
       über Doping und in der übrigen Welt über Enhancement gestritten wird:
       Leistungssteigerung durch externe Unterstützung. Auch wenn es weder aktuell
       noch auf absehbare Zeit ein Beispiel dafür gibt, erlaubt die Diskussion ein
       bizarres Gedankenspiel: Es könnte unter den Bedingungen eines noch
       schlimmer kapitalistisch durchdrungenen Profisports für einen Athleten,
       dessen gesamtes materielles, soziales und kulturelles Kapital darauf fußt,
       Weltrekorde zu erzielen, attraktiv erscheinen, seine Beine durch Prothesen
       zu ersetzen. Das klingt irre und dürfte auch irre sein.
       
       Es geht also aktuell um die Teilhabe von allen Menschen am Sport.
       Gleichzeitig muss es darum gehen, dass dieses urdemokratische Recht, das
       viele noch erstreiten müssen, selbst verantwortet wahrgenommen werden kann
       – und nicht zum von der kapitalistischen Konkurrenz vermittelten Zwang
       wird.
       
       31 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Krauss
       
       ## TAGS
       
   DIR Markus Rehm
   DIR Leichtathletik
   DIR Prothese
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Darpa
   DIR Doping
   DIR Inklusion
   DIR Doping
   DIR Uli Hoeneß
   DIR Leichtathletik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Erschwingliche Open-Source-Prothesen: Lass dich mal drucken
       
       Prothesen sind teuer. Ein Open Source Projekt versucht das zu ändern und
       entwickelt Hände für alle – aus dem 3-D-Drucker.
       
   DIR Inklusion im Sport: Vorsprung durch Technik?
       
       Eine Studie sollte klären, ob Prothesenspringer Markus Rehm an Olympia
       teilnehmen darf oder nicht. Das Ergebnis fällt zweideutig aus.
       
   DIR Hightech-Prothesen: Die Macht der Gedanken
       
       Die Schnittstellen zwischen Neuronen und Computerchips werden immer besser.
       Selbst das Fühlen mit einer Robot-Hand ist schon möglich.
       
   DIR Daily Dope (675): Spitzensportlern droht Strafanstalt
       
       Der erste Entwurf eines deutschen Antidopinggesetzes sieht schwere Strafen
       vor. Das dürfte den Sportfunktionären kaum gefallen.
       
   DIR Kommentar Markus Rehm: Vielleicht haben die Angst
       
       Wegen seiner Prothese darf Weitspringer Markus Rehm nicht an der EM
       teilnehmen. Da wird eine Tür zugeschlagen, meint unser Autor.
       
   DIR Hilfsmittel im Leistungssport: Fortschritt durch Technik
       
       Nicht nur Behinderte profitieren von mechanischen Veränderungen am Körper.
       In allen Disziplinen gibt es Methoden zur Leistungssteigerung.
       
   DIR Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch
       
       Prothese und Antithese Rehm, die verschwörerischen neuen „Montagsdemos“,
       einfach mal den Mund halten und Uli Hoeneß’ fehlendes Herz.
       
   DIR Kolumne Pressschlag: Mein Holzbein, dein Dope
       
       Der am Unterschenkel amputierte Weitspringer Markus Rehm ist plötzlich
       EM-Medaillenkandidat. Doch seine Prothese könnte ihm ein Hindernis sein.