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       # taz.de -- Psychotherapie nach der Revolution: Tunesien auf der Couch
       
       > Seit der Revolution 2011 suchen viele Tunesier psychologische Hilfe. Der
       > Versuch, ihr Leben während der Diktatur aufzuarbeiten?
       
   IMG Bild: Tunis, Juni 2014: Anhänger der islamistischen Partei Ennahda schwenken Fahnen. Viele Tunesier beunruhigt ihr Erfolg
       
       TUNIS taz | Soumaya F.* zupft an den Fransen ihres Halstuchs. Ihr Blick
       fällt auf einen der großen baumbestandenen Boulevards in Tunis, ein Erbe
       der einstigen Kolonialmacht Frankreich. Langsam schieben sich die Autos
       durch den Berufsverkehr, Hupen und Flüche klingen durch die Luft. Die Welt
       da draußen vor dem Fenster ist schon lange nicht mehr ihre Welt.
       
       „Ich habe den 14. Januar 2011 vor dem Fernseher erlebt, als ob ich nicht
       mehr Teil dieser Gesellschaft bin“, sagt Soumaya F. Zwar sehnte auch die
       Universitätsprofessorin wie fast alle Tunesier das Ende der Diktatur
       herbei, doch der Umsturz und seine politischen Folgen haben sie zugleich
       zutiefst verunsichert. „Ich habe das Vertrauen in alles und jeden
       verloren“, sagt Soumaya F.
       
       Der Psychoanalytiker Houssem Louiz hat in den letzten drei Jahren in seiner
       Praxis viele solcher Patienten empfangen. Angststörungen, Depressionen.
       „Die Zeit des Umsturzes war für viele Tunesier traumatisierend“, sagt er.
       Acht von zehn seiner Patienten führten ihre Probleme spontan auf die
       unklare politische und wirtschaftliche Situation zurück. Vor allem
       Angehörige der tunesischen Mittelschicht fühlten sich bedroht. Denn die
       neuen Freiheiten bringen Ungewissheiten mit sich. Viele Menschen sind auch
       davon irritiert, dass die Islamisten im neuen Tunesien so viel Anklang
       finden.
       
       Für Soumaya F. ein Schreckgespenst: Vor dem 14. Januar habe sie ein
       normales Leben geführt, klagt sie, jetzt werde sie wegen ihrer „säkularen“
       Attitüde diskriminiert. Dass die im Januar 2014 verabschiedete neue
       Verfassung Frauen weitgehende Rechte einräumt, beruhigt sie nicht. Sie
       lehnt sich aus dem Sessel nach vorne, stützt die Hände auf die Knie. „Wenn
       mich auf der Straße jemand angreift, dann kommt da nicht die Verfassung und
       sagt: ’Hey, so geht das nicht.‘ “ Auch Soumaya F. hat schon darüber
       nachgedacht, eine Therapie zu machen – und sich dagegen entschieden. „Ich
       bin nicht krank, das Problem liegt in der Gesellschaft.“
       
       ## Selbsttherapie durch Arbeit
       
       Sie schreit diesen Satz fast heraus. Der 6. Februar 2013, der Tag an dem
       der Oppositionspolitiker Chokri Belaïd mutmaßlich von radikalislamistischen
       Tätern ermordet wurde, hat sich ihr wie kein anderes Erlebnis nach dem 14.
       Januar 2011 eingeprägt. Es war ihr Geburtstag, die Literaturdozentin war
       wie immer an der Uni. „Plötzlich kam der Direktor herein und hat den Kurs
       abgebrochen. Der Mord war ein Schock, aber keine Überraschung“, sagt sie.
       „Er wird nicht der letzte gewesen sein.“
       
       Statt in eine Therapie hat sie sich in die Arbeit gestürzt. Sie ist Mitte
       40, tiefe Augenringe und ihre überquellende Aktentasche legen Zeugnis davon
       ab: Unterricht an der Uni, Nachhilfe, Sprachkurse in einem privaten
       Institut. „Ob das die richtige Entscheidung war oder ich mich auf niedriger
       Flamme umbringe, weiß ich nicht.“
       
       Geistesabwesend drückt Soumaya F. auf der Fernbedienung ihrer Klimaanlage
       herum. Vor allem ihre Tochter leidet unter ihrem Verhalten. „Ich kaufe ihr
       die Miniröcke, die sie will, und dann verbiete ich ihr, sie draußen
       anzuziehen. Das ist paradox, oder? Ich lebe in einem Paradox, das ich
       selbst konstruiert habe. Und das tut mir weh.“
       
       ## Infantilisiertes Volk
       
       In der Privatpraxis von Houssem Louiz in Menzah, einer bürgerlichen
       Wohngegend von Tunis, hängt Kunst an hellgelb gestrichenen Wänden, wie in
       vielen europäischen Praxen. Bemüht patientenfreundlich. Die Tunesier seien
       von der Diktatur infantilisiert worden, sagt Louiz. „Das Volk war ein Kind,
       das sich nicht um das Leben der ’Erwachsenen‘ zu kümmern hatte. Und von
       einem Tag auf den anderen verändert sich alles. Und nun suchen alle etwas,
       was sie in Sicherheit wiegt – Religion, eine Partei oder einfach das
       Dagegensein.“
       
       Der Mittvierziger lehnt sich in seinem ledernen Schreibtischstuhl zurück,
       schiebt die Hände in den Nacken. Er betrachtet die Depression seiner
       Patienten als dezidiert politisches Problem: Die tunesische Linke, ja das
       gesamte bürgerliche Lager habe versagt, doziert er. Unter Ben Ali sei man
       gemeinsam gegen die Diktatur gewesen, heute ist man gegen die Islamisten
       und gegen Ennahda, die islamistische Partei. Mit denen habe man früher den
       Feind, nicht aber die Ideologie geteilt. „Die Linke ist immer Opposition
       gewesen, sie hat in einer demokratischen Logik keinen Bestand.“
       
       Wer nichts findet, wo er politisch oder emotional andocken kann, fällt
       schnell durchs Raster. Ein alter Mann in dunkelblauem Trainingsanzug
       schlurft zu der kleinen Cafeteria am Eingang des Razi-Krankenhauses, eines
       weitläufigen Klinikkomplexes in Manouba, einem Vorort der Hauptstadt.
       Wortlos stellt ihm ein Junge einen Pappbecher auf den Tresen. Der Mann
       schiebt die abgezählten Münzen rüber, wirft drei Stücke Zucker in den
       Kaffee, rührt einmal um. „Bis morgen“, nickt er dem Jungen hinterm Tresen
       zu und geht wieder. In der Ecke steht eine Familie und diskutiert leise,
       wann ihr Angehöriger wohl entlassen wird.
       
       ## Im Razi war man abgestempelt
       
       Im Wartesaal der Ambulanz drängen sich an diesem Morgen die Patienten. Die
       Sitzschalen sind aus ausgebleichtem Plastik, an der Anmeldung ist der
       Ellenbogen das stärkste Argument. Anissa Bouasker, die Leiterin der
       psychiatrischen Ambulanz, empfängt in ihrem kleinen Büro: zwei Stühle, ein
       Schreibtisch aus Sperrholz, darauf ein graues Telefon, das nicht aufhören
       will zu klingeln, ein Stapel Papiere.
       
       Ein Viertel mehr Konsultationen verzeichnet das Razi-Krankenhaus seit der
       Revolution, es ist die einzige Psychiatrie in dem
       10-Millionen-Einwohner-Land. Im Razi landet, wer gesetzlich versichert ist
       und sich den Besuch beim Spezialisten oder Analytiker nicht leisten kann.
       
       Dabei ist das Razi der vielleicht stigmatisierendste Ort Tunesiens: Wer
       dort landet, gilt als verrückt. Ob durch die Revolution die Zahl der
       psychischen Erkrankungen tatsächlich gestiegen oder nur die Hemmschwelle
       gesunken ist, weiß Anissa Bouasker nicht mit Sicherheit zu sagen. „Es ist
       jedenfalls positiv, dass die Leute sich jetzt trauen, über ihre Leiden zu
       sprechen.“ Auch wenn deren Ursprung oft schon in der Zeit vor dem Umbruch
       liegt.
       
       ## Für verrückt erklärt
       
       Houda Abdessalem würde am liebsten mit allen über ihre Probleme reden.
       „Meine Mutter meint, das gehört sich nicht, aber das ist mir egal. Es ist
       ein Ersatz für die Therapie, die ich mir nicht leisten kann.“
       
       Abdessalem war auch im Razi und sie war 17, als ihr Bruder Karim 1992
       festgenommen wurde. Die Verhaftung mutmaßlicher Islamisten und
       Ennahda-Anhänger war damals an der Tagesordnung. „Als ich ihn nach Monaten
       der Folter vor Gericht gesehen habe, konnte er kaum laufen“, erinnert sich
       Abdessalem. „Ich habe meine Stimme verloren. Sie lieferten mich in die
       Psychiatrie ein und gaben mir irgendwelche Pillen und erklärten mich für
       verrückt.“
       
       Als sie wieder rauskommt, beginnt für Houda Abdessalem ein neues Leben. Die
       Mutter ist Analphabetin, die Teenagerin muss sich um alles kümmern:
       Anwälte, Gerichtstermine, Besuche im Gefängnis, zwölf Jahre lang. „Ich habe
       meinen Bruder gehasst. Ich wollte ins Kino gehen wie meine Freundinnen
       auch, einen Freund haben, aber es ging nicht. Ich hatte kein eigenes
       Leben.“ Ihr Bruder ist inzwischen wieder frei, verheiratet, hat Kinder.
       Houda Abdessalem sagt, er habe ihr Leben zerstört.
       
       ## Im Wechsel zum Neurologen und Psychologen
       
       2006, sie arbeitete nach einem abgebrochenen Juraatudium als Animateurin in
       Hotels, wurde bei ihr multiple Sklerose diagnostiziert. Auf einem
       Flachbildschirm flimmert lautlos ein libanesischer Musiksender. Mühsam
       steht Houda aus dem schwarzen Kunstledersessel auf, um sich ein Glas Saft
       zu holen. In ihrem bunten Trainingsanzug mit Adidas-Imitation humpelt sie
       in die Küche. 2010 ist sie noch 100-Meter-Läufe gerannt.
       
       Houda Abdessalem wohnt mit ihrer Mutter in der Wohnung eines Verwandten,
       der aus beruflichen Gründen im Ausland lebt. 100 Dinar, rund 45 Euro
       Krankengeld bekommt sie monatlich vom Staat. 45 Dinar gehen für die
       Medikamente drauf, 40 Dinar kostet ein Besuch beim Neurologen oder
       Psychologen. Sie geht monatlich im Wechsel zu einem von beiden. Seit einem
       halben Jahr nimmt sie Antidepressiva, seitdem gehe es etwas besser. Nach
       Razi will Houda um keinen Preis zurück.
       
       Sie zieht einmal stark an ihrer schmalen Mentholzigarette, schiebt dann den
       Ärmel ihrer Trainingsjacke hoch und hält ihren vernarbten Unterarm hin. Ihr
       letzter Selbstmordversuch liegt ein Jahr zurück, damals hatte sie Tabletten
       genommen, im Haus ihres Bruders, als wolle sie sich an ihm rächen.
       
       Doch ihr vierjähriger Neffe alarmierte die Nachbarn. „Die Fenster des
       Krankenwagens sind oben durchsichtig. Ich erinnere mich, dass ich im
       Vorbeifahren Bab Bhar, den Torbogen zur Altstadt, gesehen habe, und den
       Himmel. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss und wieder aufschlug, dachte
       ich, jetzt wäre ich dort, im Himmel.“
       
       ## Aufarbeitung kommt für Houda zu spät
       
       „Ich war für ihn im Gefängnis das Fenster nach draußen. Ich habe ihm
       Postkarten geschickt, Filme beschrieben und Theaterstücke erzählt, damit er
       am Leben bleibt. Ich habe ihm mehr Briefe geschrieben, als ich Hausaufgaben
       gemacht habe.“ Nur deshalb sei er noch klar im Kopf. „Und zu mir sagt er:
       ’Niemand hat dich darum gebeten.‘ “
       
       Die geplante Aufarbeitung und Wiedergutmachung der Verbrechen der Diktatur
       haben für Houda Abdessalem keine Relevanz mehr. Psychiatrieleiterin Anissa
       Bouasker bereitet diese allgemeine Ablehnung des öffentlichen Lebens
       Sorgen. „Nach der Euphorie des 14. Januar und den ersten freien Wahlen sind
       die Leute jetzt wirklich enttäuscht. Das öffentliche Leben interessiert sie
       nicht mehr.“ Ohne Überwindung der gesellschaftlichen Differenzen werde das
       Land auch seine „kollektive Depression“ nicht überwinden können, meint auch
       Analytiker Houssem Louiz. „Man kann sich keine Zukunft als Individuum
       vorstellen, wenn die Gesellschaft als Ganzes es nicht tut.“
       
       Houdas Bruder leitet inzwischen eine NGO zur Rehabilitierung politischer
       Häftlinge. Wenn er mal wieder in einer Talkshow auf dem großen Bildschirm
       an der Wand auftaucht, schaltet sie den Ton aus.
       
       * Name geändert
       
       7 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Mersch
       
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