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       # taz.de -- Opferangehörige im NSU-Prozess: Der vergessene Blick
       
       > Alle schauen auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe – auch die
       > Hinterbliebenen der Opfer. Aber wie geht es ihnen dabei?
       
   IMG Bild: Gamze Kubasik, deren Vater 2006 ermordet wurde, umarmt ihre Mutter am Mahnmal für die NSU-Opfer (2013 in Dortmund).
       
       MÜNCHEN/BERLIN taz | Yildirim Özcan und Mitat Özdemir sitzen auf der
       Tribüne im Saal A101, gedrängt zwischen Jurastudenten, Touristen und
       Dauergästen. Konzentriert schauen die beiden hinunter in den Saal, auf die
       Anklagebank. Auf Beate Zschäpe. So wie alle.
       
       Der Andrang auf der Empore ist so groß wie seit Monaten nicht. Es ist
       Dienstag dieser Woche, der Tag, an dem Richter Manfred Götzl im Münchner
       NSU-Prozess den Misstrauensantrag von Beate Zschäpe gegen ihre drei
       Pflichtverteidiger abweist. Alle Augen richten sich auf die 39-jährige
       Angeklagte. Wie geht sie jetzt mit ihren Anwälten um? Ist da ein Riss?
       Bekommt sie weiterhin Bonbons von ihnen angeboten?
       
       Auf Mitat Özdemir und Yildirim Özcan richtet sich kein Blick. Seit 35
       Jahren betreibt Özdemir in der Kölner Keupstraße einen Kiosk. Vor dem Laden
       von Özcan explodierte am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe. 22 Menschen wurden
       damals verletzt, Özcans Bruder schwer. Als Richter Götzl verkündet, der
       Antrag Zschäpes sei „nicht hinreichend“, atmen Özcan und Özdemir sichtbar
       auf. Sie sind nicht die Einzigen.
       
       Von einer „ungeheuren Anspannung“ seiner Mandanten spricht auch Anwalt
       Thomas Bliwier, von ihrer großen Sorge, dass der Prozess ausgesetzt oder
       neu aufgerollt werden könnte. Bliwier vertritt die Familie von Halit
       Yozgat, der 2006 in Kassel in einem Internetcafé erschossen wurde. „Noch
       mal das Ganze von vorne, noch mal aussagen müssen“, sagt auch Gamze
       Kubasik, deren Vater zwei Tage zuvor in Dortmund ermordet wurde, „es wäre
       der Horror gewesen.“
       
       Tagelang war zuvor spekuliert worden, was Zschäpe vorhat. Das
       Medienspektakel ließ leicht aus den Augen verlieren, worum es bei diesem
       Prozess geht. Um zehn Menschen, die der „Nationalsozialistische
       Untergrund“, das Neonazi-Trio aus Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos,
       ermordet haben soll. Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü,
       Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet
       Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kommen noch 14
       Banküberfälle und zwei Anschläge in Köln, einer in der Keupstraße.
       
       ## Von der Nähe zu Zschäpe „nicht überrollt“ werden
       
       77 Nebenkläger, Verletzte oder Angehörige der Mordopfer zählt der Prozess.
       Özcan und Özdemir sind zwei von ihnen. Mit zwölf Mitgliedern der
       Interessengemeinschaft „Keupstraße ist überall“ ist er angereist. Özdemir,
       ein schlanker, ernster Mann, ist ihr Ehrenvorsitzender. Man wolle „einen
       Eindruck von dem Verfahren bekommen, ein Gefühl“, sagt er. Denn wenn im
       Herbst über den Kölner Anschlag verhandelt wird, werden einige von ihnen
       unten auf der Zeugenbank sitzen. Die Enge, die Nähe zu Zschäpe, sagt
       Özdemir, von all dem wolle man „nicht überrollt“ werden.
       
       Am Dienstag zerschellte aber auch eine Hoffnung vieler Angehöriger: dass
       Zschäpe doch noch ihr Schweigen bricht und aussagt. Dass sie die eine,
       immer gleiche Frage aller Hinterbliebener beantwortet: Warum traf es gerade
       unsere Angehörigen?
       
       Ayse Yozgat, Mutter von Halit Yozgat, hatte sich im Oktober direkt an
       Zschäpe gewandt. „Ich spreche als Mutter. Ich bitte Sie, all diese Vorfälle
       aufzuklären.“ Seit sieben Jahren schlafe sie nachts nur zwei Stunden, sagte
       die zierliche Frau. Immer plage sie die Frage nach dem Warum. Zschäpe hörte
       zu. Aber sie reagierte nicht. Wie immer.
       
       „Mit ihrem anhaltenden Schweigen verhöhnt sie die Opfer weiter“, sagt Peter
       Bach, Mitgründer der Kölner Keupstraßen-Initiative. Anwalt Bliwier sagt,
       die Yozgats hätten noch immer die Hoffnung, dass Zschäpe spricht. „Es ging
       der Familie nie um eine hohe Strafe, sondern darum, den Mord an ihrem Sohn
       vollständig aufzuklären.“
       
       Gamze Kubasik dagegen zweifelt. „Frau Zschäpe könnte sicher vieles
       beantworten.“ Nur glaubt die 28-jährige Dortmunderin nicht, dass sich die
       Angeklagte ehrlich und umfänglich einlassen würde. Sie verweist auf andere
       Zeugen aus dem rechten Milieu, die die Aussage verweigerten oder sich nicht
       mehr erinnern mochten. „Es ist wirr“, sagt Kubasik. „Der NSU verschickt
       Bekennerschreiben, die Szene prahlt mit den Taten. Vor Gericht aber
       schweigen Nazizeugen oder lügen von oben bis unten.“
       
       ## Warten auf Antworten
       
       Dennoch will Kubasik Antworten. Wie kamen die Mörder auf ihren Vater?
       Hatten sie Helfer vor Ort? Warum wurde der NSU nicht eher entdeckt und
       wurden weitere Morde nicht verhindert? Es ist eine kaum einlösbare
       Hoffnung. Denn das Gericht leitet eine andere Frage: Was beweist die Schuld
       von Zschäpe und den vier Männern, die als Unterstützer angeklagt sind?
       
       Alexander Hoffmann, Anwalt einiger Kölner Opfer, kritisiert den engen
       Blick. Das Netzwerk um das Trio werde zu wenig beleuchtet, Befragungen
       früherer Gesinnungskameraden würden ausgebremst. „Gericht und Ankläger
       haben die Bedeutung der damaligen Szene für den NSU, deren Radikalität und
       Militanz, nicht erfasst.“ Peter Bach spricht aus, was viele in der
       Keupstraße denken: dass die Verstrickung der Geheimdienste in die Sache
       wohl nie aufgeklärt wird.
       
       Dennoch sind viele Angehörige mit dem Prozess auch zufrieden. Obwohl ein
       Urteil in noch weiterer Ferne liegt. „Wichtig ist, dass die Angehörigen im
       Verfahren eine Stimme haben“, sagt Anwalt Bliwier. „Und das haben sie.“
       Richter Götzl ließ viele Anträge der Opferanwälte zu, Angehörige durften
       Erklärungen verlesen. „Mit dem Verfahren“, sagt Mitat Özdemir, „sind alle
       falsch Beschuldigten endlich rehabilitiert“; auch Yildirim Özcan, der
       Ermittlern lange als Hauptbeschuldigter galt, weil er zur Zeit der
       Bombenexplosion nicht in seinem Friseurladen war.
       
       Es gibt Angehörige, die sich vom Prozess abwandten, ihn nicht ertragen.
       Gamze Kubasik und die Yozgats hoffen im Saal weiter auf Antworten.
       
       Als Ayse Yozgat im Oktober vor Gericht sprach, auch da richteten sich die
       Blicke auf Beate Zschäpe. Es waren andere Blicke als heute. Damals sah man
       nicht die Taktiererin. Sondern eine Angeklagte, die zehn Menschen auf dem
       Gewissen haben soll. „Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins
       Bett legen“, sagte Yozgat. „Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen
       kann.“
       
       25 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Speit
   DIR Konrad Litschko
       
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