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       # taz.de -- Bestseller über moderne US-Biografien: Vom Silicon Valley zur Tea Party
       
       > Nummer 1, doch der Mittelstand stagniert: Starreporter George Packer
       > erzählt in spannenden Biografien, wie sich die USA verändert haben.
       
   IMG Bild: George Packer, preisgekrönter Autor des „New Yorker“, gelang mit „Die Abwicklung“ ein großer Wurf.
       
       Es stimmt, George Packers „Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen
       Amerikas“ ist ein Sachbuch. Doch es liest sich über weite Strecken wie eine
       Sammlung von Novellen, in deren Mittelpunkt so unterschiedliche Charaktere
       wie Dean Price (Biodiesel-Unternehmer) oder Jeff Connaughton (Anwalt,
       Politiker) stehen. „Die Abwicklung“ ist in gewisser Hinsicht ein
       soziologischer Jonathan Franzen, nur dass es hier statt um einen
       Familienroman um die dokumentarische, multiperspektivische Abbildung einer
       ganzen Nation geht.
       
       Es sind sorgfältig ausgewählte Biografien, die Packer im Stile des New
       Journalism erzählt, aneinandermontiert, collagiert, um so die Brüche
       innerhalb der US-Gesellschaft der letzten fünfzig Jahre in den Blick zu
       kriegen. Den Abstieg der alten Industrien, die Verödung ganzer Regionen,
       daneben der Aufstieg neuer computer- und wissensbasierter Unternehmen, der
       Finanzwirtschaft sowie eines neuen Typs von Unternehmer- und Politikertums.
       
       ## Das egalitäre Valley
       
       Packers Buch ist dabei von einem selbstbewussten, die Subjektivität
       betonenden Erzählstil getragen, der in seiner Unverklemmtheit gerade auch
       Nichtsoziologen zur Lektüre einlädt. Seine Analyse ist in knappen
       Beschreibungen eingebettet. „Das Valley war egalitär, die Menschen waren
       gebildet, das Leben angenehm“, so klar charakterisiert Packer die
       Ausgangslage im kalifornische Silicon Valley der 1960er Jahre. Das Valley,
       eine Hochburg des amerikanischen Mittelstands.
       
       Dort lebt auch der Sohn deutscher Einwanderer, Peter Thiel, der 1985 die
       High School abschließt. „Als Schüler trank er nicht, und er rauchte kein
       Gras. Seine Zeugnisse waren perfekt.“ Thiel ist hochbegabt. An der
       Eliteuniversität Stanford wird er die konservative Stanford Review
       herausgeben und gegen den Linksliberalismus der Post-68er argumentieren.
       1967 geboren, Schachspieler und libertärer Nerd, wird Thiel in den 2000er
       Jahren zu einem der reichsten Männer der USA. Sein Name steht für Start-ups
       wie PayPal, Facebook, Hedgefonds, Immobilien- und Finanzspekulationen.
       
       Thiel, Kind des kalifornischen Mittelstands, spülen die neuen Ökonomien in
       unerhörte Kapitalregionen. Am Boden der alten kleben Existenzen wie die von
       Tammy Thomas, die Packer als Kontrastpersonal ins Spiel bringt. Etwa gleich
       alt wie Thiel lebt die schwarze Arbeiterin Tammy in Youngstown, Ohio. Die
       frühere Hochburg der US-amerikanischen Stahlindustrie ist in den 1990ern
       längst eine Shrinking City.
       
       „Block für Block verfiel die Innenstadt, die Zerstörung beschleunigte sich
       und blieb Tammy auch nach dem Umzug dicht auf den Fersen.“
       Standortkonkurrenz und Globalisierung haben Youngstown ab den 70ern
       ruiniert. Tammy arbeitet wie Peter Thiel hart, doch sie ist zur falschen
       Zeit am falschen Ort und dies vielleicht auch immer schon. Packers großes
       Thema ist die Auflösung eines gemeinsamen nationalen Empfindens, eines
       Konsenses, ohne den die amerikanische Ideologie des „Du kannst es schaffen,
       wenn du dich nur nur richtig anstrengst“ hohl klingt.
       
       ## Misstrauen gegenüber dem Staat
       
       Im Misstrauen gegen den Staat („alle korrupt!“) bringt sie am rechten Rand
       irrational agierende Protestbewegungen wie die Tea Party hervor, auch dies
       schildert Packer an Biografien. Packer, Redaktionsmitglied von The New
       Yorker, kennt die Statistiken, wonach die US-Ökonomie und das
       durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen weiter stark gewachsen sind. Die USA
       sind 2014 unangefochtene Nummer eins der Welt. Doch der Mittelstand
       stagniert, vom unteren Drittel ganz zu schweigen.
       
       Die New York Times veröffentlichte im April einen Datenreport, nach dem
       Kanada erstmals die Mittelschicht der USA in Breite und Wohlstand eingeholt
       hat. Auch Norwegen oder die Niederlande rückten heran, nicht aber die gern
       so amerikakritischen Deutschen, deren Mittelstand dem der USA weiterhin
       meilenweit hinterhinkt.
       
       Wie eine schlimme Naturkatastrophe wüteten Banken- und Immobilienkrise in
       den USA ab 2007/2008 (und danach weltweit). Sie traf die verschuldeten
       Mittelständler in ihren kreditfinanzierten Immobilien besonders hart.
       Packer skizziert dies am Beispiel Tampas, Florida. „Unsere Eltern waren
       fett und faul, unsere Großeltern hätten nie ihre Häuser belastet, um davon
       zu leben“, zitiert er Anwalt Weidner, der in Florida pleitegegangene
       Mittelständler gegen die „Justizrakete“ vertritt.
       
       ## "Yes, we can!"
       
       Doch zurück zu Tammy Thomas in den Rust Belt, den Rostgürtel, dem ältesten
       und früher größten Industriegürtel im Nordosten der USA. Den Abstieg von
       Tammys Heimatstadt Youngstown in Ohio besang 1995 die patriotische
       Rockröhre Bruce Springsteen in einem Lied. Als Barack Obama 2008 die
       Präsidentschaftswahl für sich entschied, war dies für Tammy, die schwarze
       Proletin, ein bewegender Moment: „Yes, we can“.
       
       Nicht unterkriegen lassen, weiter anständig bleiben und schuften. Tammys
       Urgroßmutter arbeitete als Bedienstete für die reiche Stahlfamilie der
       Purnells. Hiervon profitierte auch Tammy, die bei der Urgroßmutter
       aufwuchs. Großmutter (zu arm) und Mutter (Drogen) fielen aus, die Männer
       sowieso. Das Setting bei den Purnells in Youngstown war Ende der 1960er
       stärker kolonial als postkolonial geprägt, doch Bedienstete genossen
       immerhin eine gewisse Teilhabe am großbürgerlichen Leben.
       
       Ein bisschen Bruce Springsteen spricht auch aus Packer, wenn er über Tammy
       und ihre Urgroßmutter voll Empathie sagt: „Diese Frauen hatten einfach ein
       Gespür dafür, was richtig war – und taten es einfach.“ Das gehört wohl
       dazu, so man das proletarische Amerika und seine Mentalität verstehen will.
       Wie auch Gangsta Rap. Jay Z und seiner Gangsterökonomie hat Packer ein
       eigenes Kapitel gewidmet. Ob Tammy Thomas oder Peter Thiel, sie sind
       Prototypen des amerikanischen Traums, Selbsterfinder, die sich durch nichts
       unterkriegen lassen. Immer tätig bleiben und dabei manchmal auch Erfolg
       haben.
       
       ## Niemals Sozialhilfe
       
       „Tammy schwor sich, niemals Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.“ Dann wird
       sie schwanger, bleibt als jugendliche Mutter aber fleißig und schafft den
       höheren Schulabschluss. Weitere Kinder kommen dazu, die sie wie gehabt ohne
       Männer aufzieht. Endlich ist sie eine relativ privilegierte
       Fabrikarbeiterin. Als sie an die Pforte des Mittelstands klopft, geht der
       Betrieb pleite.
       
       Tammy kann nicht wie das Kapital von einer Branche und Region in die
       nächste flüchten. Sie steht wieder auf, und da Packer kein zynischer
       Pessimist ist, zeigt er an ihr, wie es weitergehen kann: Erneuerung des
       amerikanischen Traums durch Graswurzler wie Tammy, nachhaltige und regional
       ausgerichtete Ökonomien.
       
       Fehlen nur noch steuerrechtliche und institutionelle Reformen. Denn dass
       die große Politik von Lobbyismus und Spendenwesen des „organisierten
       Geldes“ (Packer) korrumpiert ist, dafür stehen in „Die Abwicklung“ die
       Erfahrungen des Jeff Connaughton. Der lernte 1979 als 19-jähriger Student
       in Alabama den aufstrebenden Senator Joe Biden kennen. Er schwor sich: Das
       ist mein Mann. Connaughton wurde Spendeneintreiber und Wahlkämpfer Bidens,
       des heutigen Vizepräsidenten.
       
       ## „Wie im Kasino“
       
       Connaughton pendelte zwischen Wall Street und Weißem Haus. Er sah das
       Unglück kommen, plädierte bei Clinton 1994 dafür, härter gegen Aktienbetrug
       und Finanzspekulation an der Wall Street vorzugehen: Doch es half wenig.
       Und als sein früheres Idol Biden mit Obama nach 2008 ins Weiße Haus zog,
       noch weniger. Trotz der großen Krise, wie Connaughton anmerkt: „Es war wie
       im Kasino, die Bank gewann am Ende immer.“
       
       „Ich bin in die Politik gegangen“, zitiert Packer Connaughton, „um etwas an
       der Wall Street zu verändern, und jetzt beginne ich zu verstehen, dass der
       Lobbybetrieb, dem ich gerade erst den Rücken gekehrt habe, größeren
       Einfluss auf das Gesetz hat als ich, der ich im Senat arbeite.“
       
       ## Kronzeuge Connaughten
       
       Für Packer ist Connaughton der Kronzeuge gegen Biden und Obama, dessen
       Urteil vernichtend: „Am Kapitol arbeitete eine Horde von dreitausend
       Lobbyisten, und jeder schien den Kongress zu drängen, trotz des
       Totalschadens, den die Banken angerichtet hatten, alles so zu lassen, wie
       es war.“ Doch so süffig sich das liest, Packer hinterfragt die Thesen
       Connaughtons nicht, räumt Gegenargumenten keinen Raum ein.
       
       So herausragend er die Biografien vieler zu einem gesellschaftlichen Ganzen
       zusammenfügt, so klischeehaft klingt es, je näher der Journalist die
       politische Machtzentrale ansteuert. Da ist nichts mehr multiperspektivisch,
       zu Connaughton fehlt schlicht ein Gegenredner. Das ganze System nur Lug,
       Trug, Betrug und Bestechung? Das ist zu billig und wird der Regierung Obama
       nicht gerecht.
       
       Doch Packers Buch ist insgesamt sehr aufschlussreich, sein Stil kräftig
       zupackend und anregend. Wenn man eines von ihm, der den Schriftstellern
       Raymond Carver und John dos Passos huldigt, lernen kann, dann dies:
       Recherche geht vor Meinen. Sucht die Quellen, bevor ihr alle die gleichen
       Nachrichtenströme kommentiert. Nebenbei also ein Plädoyer für qualitativ
       hochwertigen Journalismus. Gut so.
       
       27 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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