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       # taz.de -- Meinungsforscher über russische Feindbilder: „Mitgefühl gibt es nicht“
       
       > Putin hat Erfolg, weil er den Großmachtstatus reanimieren will. Seine
       > Propaganda sorgt für klare Trennungen: hier die Russen, dort das Fremde,
       > sagt Lew Gudkow.
       
   IMG Bild: „Als Untergebene der Sowjetunion fühlten sie sich zumindest anerkannt, weil die Welt vor ihnen zitterte.“
       
       taz: Herr Gudkow, hat sich das Ukrainebild in der russischen Öffentlichkeit
       seit dem Krieg verändert? 
       
       Lew Gudkow: Die Öffentlichkeit hat sich von der ukrainischen Seite
       losgesagt, es findet eine Entidentifizierung statt. Das brutale Vorgehen
       der russischen Seite wird im Rückgriff auf die offizielle Propaganda
       gerechtfertigt. Ukrainer sind Nationalisten und Feinde Russlands.
       
       Hat sich seit dem Abschuss der Boing 777 daran etwas geändert? 
       
       Hierfür liegen uns noch keine Daten vor. Doch ich vermute, dass sich die
       öffentliche Meinung weiterhin an der Propaganda orientiert. Die sieht die
       Schuld allein bei der Ukraine.
       
       Und das Feindbild der Ukrainer? 
       
       In Umfragen ukrainischer Kollegen war das Verhältnis der Ukrainer zu
       Russland bis Mai noch deutlich wohlwollender als umgekehrt. Seit den
       Kämpfen im Donbass aber hat sich das Feindbild verhärtet. Die Aggression
       hat die Konsolidierung der Ukraine als Nation beschleunigt.
       
       Damit die Propaganda des Kreml verfängt, muss der Resonanzboden ideologisch
       doch vorbereitet sein … 
       
       Natürlich war die russische Gesellschaft für nationalistisches Gedankengut
       bereits empfänglich. Der Zerfallsprozess der Sowjetunion ist noch immer
       nicht abgeschlossen. Das imperiale Bewusstsein hat sich nicht verflüchtigt,
       es wurde nur überlagert.
       
       Vor den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan sprachen sich noch etwa zwei
       Drittel der Russen gegen eine Einmischung in der Ukraine aus. 
       
       Nur 28 Prozent begriffen die Kiewer EU-Ausrichtung als Verrat an dem Mythos
       einer „slawischen Bruderschaft“. Erst als alternative Informationsquellen
       abgeschaltet und die Propagandamaschine angeworfen wurde, änderte sich das.
       In der Provinz waren 75 Prozent binnen Kurzem überzeugt, an allem sei der
       Westen schuld.
       
       Hat sich die Indoktrination in den letzten sechs Monaten verändert? 
       
       Die Menschen werden nun sehr direkt und persönlich angesprochen: „Unsere
       Frauen verzweifeln“, „unsere Kinder leiden“, „uns Russen töten sie“. Der
       antiwestliche Impetus läuft im Hintergrund mit. Anders funktioniert es
       nicht mehr. Als der Kreml 2012 gegen die Opposition mobilisierte und sie zu
       Handlangern des „faulenden Westens“ erklärte, hörte niemand hin. Zudem
       lässt die Propaganda bis in die Tonlage hinein den Kampf gegen den
       Faschismus aus dem Zweiten Weltkrieg wiederaufleben. Am Ende ergibt sich
       eine klare Trennung: hier die Russen, dort das Fremde – die Faschisten.
       
       Was bezweckte der Kreml, als er auf angeblich massive faschistische
       Tendenzen in der Ukraine verwies? 
       
       Die Revolution musste diskreditiert werden. Die Gründung eines
       demokratischen Staates durchkreuzte Präsident Putins Projekt einer
       Eurasischen Union, die die Kontrolle über den postsowjetischen Raum
       wiederherstellen sollte. Putins Erfolg begründet sich vor allem durch seine
       Außenpolitik, der Wiederherstellung des Großmachtstatus. Die Zugehörigkeit
       zu einer Großmacht kompensiert für viele Bürger das Gefühl der permanenten
       Erniedrigung und relativen Armut im eigenen Land. Als Untergebene der
       Sowjetunion fühlten sie sich zumindest anerkannt, weil die Welt vor ihnen
       zitterte. Nach dem Anschluss der Krim meinten 80 Prozent einmütig: Russland
       ist wieder Großmacht. Dieser Zustand der Erregung hält noch an.
       
       Putin genießt höchste Zustimmungsraten, trotzdem vertraut die Bevölkerung
       den staatlichen Institutionen nicht. 
       
       Gereiztheit und Misstrauen gegenüber den Machthabern sind nicht
       verschwunden. Jeder weiß, worauf sich das Regime stützt: Geheimdienst,
       Putins Oligarchen-Freunde, Beamte, Direktoren der staatlichen Großbetriebe
       und Vertreter der Gewaltministerien wie dem Innen- oder
       Verteidigungsministerium. Dennoch sind es nur 10 bis 16 Prozent, die Putin
       für das, was im Land passiert, verantwortlich machen. Im Herbst 2013 waren
       es noch 43 Prozent. Die Menschen sind desillusioniert und hilflos, weil sie
       keine Alternative sehen. Da sind noch Relikte des totalitären Systems am
       Werk. Niemand will Verantwortung übernehmen, zeigt aber demonstrativ nach
       außen Loyalität. Russlands moralische Verfassung ist beklagenswert.
       
       Viele Bürger verlangen von Putin, die Separatisten zu unterstützen. 40
       Prozent wären am liebsten gleich in der Ukraine einmarschiert. 
       
       Die Bereitschaft, Experten und humanitäre Hilfe in die Ostukraine zu
       schicken, hat zugenommen. Die Unterstützung ist aber virtuell, da niemand
       zu finanziellen Opfern bereit ist. Keiner möchte für die abenteuerliche
       Politik der Führung zur Verantwortung gezogen werden. Die Bevölkerung
       fürchtet auch Sanktionen nicht, weil sie glaubt, die würden nur die kleine
       Oberschicht treffen. Sobald die Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird,
       dürfte die Zustimmung abnehmen. So langsam müsste auch eine Ermüdung über
       diesen Krieg einsetzen.
       
       Könnte das die Stimmungslage verändern? 
       
       Nein, dem steht der weit verbreitete Zynismus im Wege. Mitgefühl dürfen die
       Ukrainer nicht erwarten. Mich erinnert das an den Zweiten
       Tschetschenienkrieg (1999), als die Gesellschaft weder Verständnis noch
       Mitgefühl für die Tschetschenen aufbrachte.
       
       Gibt es auch kein Gefühl der Scham gegenüber den Ukrainern? 
       
       Nein. Scham empfinden die meisten, weil sie in einem Land mit
       ungeschliffenen Sitten leben. Viele schämen sich wegen ihrer
       Unterwürfigkeit, sie fühlen sich erniedrigt und abhängig. Die alltägliche
       Frustration äußert sich im imperialen Komplex, der sich auf der kollektiven
       Ebene zu einer Machtdemonstration auswächst, die aus der Erinnerung an eine
       heldenhafte Vergangenheit gespeist wird. Das Werteverständnis ist sehr
       widerstandsfähig: Wir führen seit 1985 ein und dieselbe Erhebung durch,
       danach hat sich der Wertekanon kaum verändert.
       
       Leidet die junge Generation auch am Imperiumsverlust? 
       
       Das Bildungssystem reproduziert alte sowjetische Vorstellungen. Fast alle
       Altersgruppen haben diesen Komplex. Nur in der Altersklasse zwischen 40 und
       50 Jahren mit Hochschulbildung gibt es ein paar kritischere Stimmen.
       
       Welche Zukunftsvision hat der Kreml? 
       
       Er hat keine. Alles, was wir haben, ist die ewige Anrufung der
       Vergangenheit.
       
       25 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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