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       # taz.de -- Nachlese zur Fußball-WM: Wir Deutschland? Wenn ja, wie laut?
       
       > Beobachtungen zur WM von einem Angehörigen des Teams, dem die Deutschen
       > einmal ganz ohne Fußball einen Stern auf die Brust hefteten.
       
   IMG Bild: „Schland, halt’s Maul!“, schreien nur die integrationsunwilligen Deutschen in Deutschland.
       
       Erstaunlicherweise ist immer noch kein Bürgerkrieg in Deutschland
       ausgebrochen. Ein Krieg zwischen jenen Zivilisten, die sich wochenlang
       schwarz-rot-goldene Perücken aufs Hirn klemmten und „Schland“ brüllten, den
       Integrationalisten und jenen, die „Schland, halt’s Maul!“ zurückschreien –
       den integrationsunwilligen Deutschen in Deutschland.
       
       23 Fußballer mit deutscher Staatsbürgerschaft haben den Rest der Welt
       besiegt und damit den innerdeutschen Konflikt heraufbeschworen. Wir BRD,
       ja? Nein? Und wenn ja, wie laut? Während des Turniers in Brasilien konnte
       ich den Deutschen dabei zusehen, wie sie sich an diesen Fragen abkrampften.
       
       Diese Beobachtungen konnte ich aus einer relativ luxuriösen Perspektive
       heraus anstellen: als Angehöriger des Teams, dem die Deutschen vor etwa 80
       Jahren ganz ohne Fußball einen Stern auf die Brust geheftet haben. Wobei
       das so auch wieder nicht stimmt. Auch ich habe mich bei der Frage, was ich
       vom Vormarsch der Integrationalisten halten soll, inzwischen verzettelt.
       Aber der Reihe nach:
       
       Eröffnungsspiel gegen Portugal. Als ich im überfüllten Biergarten am
       Max-Weber-Platz, München, ankomme, führt Deutschland bereits 4:0. Die
       Stimmung des sozial durchmischten Publikums ist heiter bis blutrünstig. Bei
       allem, was Portugal misslingt, brandet an Chauvinismus grenzende
       Schadenfreude auf. Abpfiff, deutsches Fahnenmeer, Bierseligkeit.
       
       Das Spiel gegen Algerien ist großartig und dann doch wieder pervers.
       Großartig, weil Außenseiter Algerien den Favoriten Deutschland überfordert.
       Verstörend, weil die Menschen um mich herum diesen Umstand nicht wahrhaben
       wollen. Hieße der Gegner Frankreich, England, Spanien, das Publikum wäre
       nicht so sehr über Schweinsteigers Fehlpässe entsetzt. Gegen die fastenden
       Wüstenköppe aber dürfen wir doch nicht … gut, ich will nicht behaupten,
       dass alle deutschen Zuschauer so gedacht haben. Ich möchte nur zum Ausdruck
       bringen, dass mich die Ernsthaftigkeit, mit der mein Umfeld die drohende
       Blamage bezitterte, verstört hat.
       
       Das Spiel gegen Frankreich erlebe ich auf einer Journalistenkonferenz in
       Hamburg. Der Sieg wird mit vorsichtigem Wohlwollen beklatscht. Man könnte
       fast annehmen, dass Fußball dann doch nicht sooo wichtig sei. Dieser
       Eindruck legt sich, als wir über die Reeperbahn fahren. Ein weißer Jeep
       hält neben uns. Drei Araber?/Türken?/Südländer? (sorry, Jungs) rufen
       „Schlaaaaand“.
       
       ## Keiner träumt vom Tausendjährigen Reich
       
       Nach dem an Unmenschlichkeit grenzenden 7:1-Sieg gegen Brasilien ploppen
       immer mehr Adorno-Videos in meiner Facebook-Timeline auf. Bei Twitter das
       Gleiche. Überall warnen die Deutschen vor sich selbst. Die Rufe der
       verfeindeten Lager werden in der entscheidenden Turnierphase lauter. Mich
       nerven die integrationsunwilligen Deutschen in Deutschland. Vor allem wohl,
       weil sie recht haben. So wie Mütter damit recht haben, dass man für den
       kälteren Abend besser noch einen Pullover mitnimmt.
       
       Götze trifft, Argentinien ist besiegt. Die Karl-Heine-Straße in Leipzig
       beherbergt eher reflektiertes Milieu. Sächselnde Kosmopoliten, Hipster mit
       DDR-Anstrich. Ich sehe einige aufrichtig bewegte und fassungslos glücklich
       auf den Bildschirm starrende Gesichter. Übergeschnappte Deutsche, die
       wieder vom Tausendjährigen Reich träumen, sehe ich nicht.
       
       Ich freue mich in diesem Moment für Deutschland. So wie ich mich über den
       Erfolg eines guten Freundes freue. Ich freue mich darüber, dass die
       Deutschen die Möglichkeit erhalten, sich über sich selbst freuen zu dürfen.
       Und zu zeigen, dass die meisten das auf eine reflektierte und gesunde Weise
       tun können. Anzunehmen, dass Deutsche das nicht können, wäre, nun ja,
       rassistisch. Wer sich selbst nicht akzeptieren darf, kann auch niemand
       anderen akzeptieren.
       
       Diese Argumente vermittle ich meinen deutschen
       Mittzwanziger-Akademikerfreunden. Manche wollen darüber nachdenken, andere
       halten mich für einen Idioten. Wahrscheinlich haben Letztere recht.
       
       Deutschland gewöhnt sich an in Hungerstreik tretende Asylanten, wie es sich
       an ertrinkende Flüchtlinge auf dem Mittelmeer gewöhnt hat. Es ist noch gar
       nicht lange her, da hat ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Sarrazin
       zum Hüter der Meinungsfreiheit erklärt, weil dieser Türken zu Mutanten
       herabstufte.
       
       Vielleicht hätte ich auch gegen die Integrationalisten mobilmachen sollen?
       Widerliche T-Shirts mit Blitzsieg- und Endsieg-Emblemen sind bei Amazon
       erhältlich. Bei der Feier am Brandenburger Tor zeigen deutsche Spieler, wie
       die Gauchos gehen. Ekelhaft. Möglicherweise wäre es doch besser, wenn ein
       Bürgerkrieg ausbräche. Aber was ist, wenn die Falschen gewinnen?
       
       24 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dima Kapitelman
       
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