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       # taz.de -- Forscher über Antisemitismus: „Hitler steht nicht wieder vor der Tür“
       
       > Auf Demos gegen den Gazakrieg werden Juden beschimpft. Dennoch könne man
       > nicht von einer neuen Antisemitismuswelle sprechen, sagt Wolfgang Benz.
       
   IMG Bild: Der Gaza-Konflikt treibt pro-palästinenische Demonstranten auf die Straße, hier am Dienstag in Berlin.
       
       taz: Herr Benz, auf Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza hört man
       zurzeit wüste Beschimpfungen gegen Juden. Haben wir es mit einer neuen
       Welle des Antisemitismus zu tun? 
       
       Wolfgang Benz: Keineswegs. Man muss ja doch die Dimensionen im Auge
       behalten. Wenn sich Fanatiker verschiedener Couleur zusammentun – junge
       arabische Muslime, Rechtsextreme Arm in Arm mit Linksextremen –, um ihre
       Wut über Israel auszudrücken, dann werden da leider auch antisemitische
       Parolen gegrölt. Aber es ist nicht gleich so, dass Hitler wieder vor der
       Tür steht und eine neue Lawine von Antisemitismus Deutschland unter sich
       begräbt. Es handelt sich um eine kleine Minderheit von Fanatikern und nicht
       um die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Diese Minderheit bekommt jetzt
       eine Aufmerksamkeit, die sie von ihrem politischen und zahlenmäßigen
       Gewicht nicht verdient.
       
       Ist es denn auch eine Minderheit unter den palästinafreundlichen
       Demonstranten? 
       
       Wie viele sind das denn? Das betrifft doch nur eine kleine Gruppe. Auch in
       der deutschen muslimischen Bevölkerung ist die radikale Ablehnung Israels
       eine Minderheitenposition. Seit Jahr und Tag wollen uns manche Leute
       glauben machen, dass der Islam mit Judenhass untrennbar verbunden wäre.
       Aber das ist falsch.
       
       In Deutschland kommt es immer wieder zu Demonstrationen, wenn sich die Lage
       im Nahen Osten zuspitzt. Hat das jetzt eine neue Qualität? 
       
       Das sehe ich nicht so. Antisemitismus hat immer dieselbe abscheuliche
       Qualität. Wenn etwas neu ist, dann die Zunahme von Skepsis gegenüber der
       israelischen Politik. Die Stimmung gegenüber Israel unterliegt seit Jahren
       einer Erosion. Deshalb ist aber nicht jeder, der den Frieden wünscht und
       die israelische Politik kritisiert, ein Antisemit. Das wäre eine grobe
       Verkehrung von Tatsachen.
       
       Ist denn die Vehemenz, mit der die Menschen auf die Straße gehen, heute
       eine andere? 
       
       Allenfalls entspricht die Stimmung dem drakonischen Vorgehen der
       israelischen Armee im Gazastreifen. Diese militärische Wucht und diese
       Opferzahlen, die sind ja auch neu.
       
       Auf den Demos gab es Parolen wie „Kindermörder Israel“, „Tod Israel“ bis
       hin zu „Jude, Jude, feiges Schwein“. Welche Äußerungen sind für Sie als
       Meinungsäußerung noch im Rahmen, wo kippt es in Antisemitismus? 
       
       Im Rahmen ist da nichts. Auch „Kindermörder Israel“ ist ein nicht
       akzeptabler Schmähruf gegen Israel. Endgültig antisemitisch wird es, wenn
       man sagt „Jude, Jude, feiges Schwein“. Damit ist nicht mehr der Staat
       Israel und seine Organe gemeint, sondern der Jude. Das ist eine pauschale
       Diffamierung aller Individuen einer Gruppe. Insofern ist der Rubikon hier
       überschritten. Aber auch „Kindermörder Israel“ halte ich nicht für
       tolerabel.
       
       Diesen Slogan kann man auch als Kritik am militärischen Vorgehen des
       Staates Israel verstehen. 
       
       Ja, aus Sicht der Bevölkerung ist das sogar nachvollziehbar. Die weinende,
       schreiende Mutter, die ihr getötetes Kind in die Kamera hält – das ist ein
       starkes Bild, das auch den engagierten Philosemiten berühren muss.
       
       Die Berliner Polizei sagte zunächst, sie könne gegen Rufe wie „Jude, Jude,
       feiges Schwein“ nicht vorgehen, weil sie von der Staatsanwaltschaft als
       nicht volksverhetzend eingestuft würden. Was halten Sie von dieser
       Einschätzung? 
       
       Um Volksverhetzung handelt es sich immer dann, wenn Individuen
       pauschalisierend beleidigt werden, wenn man aufgrund der Zugehörigkeit zu
       einer Gruppe Eigenschaften unterstellt. Insofern ist „Jude, Jude, feiges
       Schwein“ aus meiner Sicht durchaus volksverhetzend. Es gibt natürlich
       Richter, die da anders entscheiden. Aber aus Sicht der
       Antisemitismusforschung kann ich klar sagen: Hier ist der Tatbestand der
       Volksverhetzung erfüllt.
       
       Insofern hat sich die Polizei zu lax verhalten? 
       
       Ich denke schon. Wenn irgendwo Juden geschmäht werden, sollte die Polizei
       den Verdacht entwickeln, dass da eine Ordnungswidrigkeit stattfindet und
       dann zur Tat schreiten. Das erwarte ich von der Polizei. Die Polizeiführung
       findet das selbst inzwischen offenbar auch.
       
       Sie erteilt jetzt per Versammlungsgesetz Auflagen, dass bestimmte Parolen
       nicht gerufen werden dürfen. Ob das greift, wird man am Freitag sehen: Dann
       findet in Berlin der alljährliche Al-Quds-Tag statt für eine „Befreiung
       Palästinas“. Auch ohne den Krieg in Gaza wurde Israel in der Vergangenheit
       dort heftig angegriffen. Rechnen Sie angesichts der aktuellen Lage mit
       einer Eskalation? 
       
       Das wird vermutlich ziemlich rabiat werden. Da treffen sich alle, die etwas
       gegen Israel haben, unterstützt von anderen, die generell gegen Juden sind.
       Das ist traditionell schon so, jetzt hat das auch noch Konjunktur. Ich
       fürchte, es wird schlimm zur Sache gehen.
       
       23 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Antje Lang-Lendorff
       
       ## TAGS
       
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