URI: 
       # taz.de -- Interessenkonflikte bei der WHO: Gesundheitswächter in der Kritik
       
       > Wissenschaftler fordern mehr Transparenz in der WHO. Vor allem sollen bei
       > Richtlinien verstärkt evidenzbasierte Daten berücksichtigt werden.
       
   IMG Bild: Die Pharmaindustrie war begeistert über die Empfehlungen der WHO zur Schweinegrippe.
       
       MÜNCHEN taz | Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat unter anderem die
       Pocken ausgerottet. Auch für die Framework Convention on Tobacco Control
       heimst sie viel Lob ein. Die WHO gilt als verdienstvolle Instanz in vielen
       Bereichen der Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung weltweit. Doch
       in letzter Zeit werden immer wieder auch kritische Stimmen laut.
       
       So hat im vergangenen Januar ein amerikanisches Wissenschaftlerteam
       diejenigen WHO-Richtlinien untersucht, die mit dem sogenannten Grade-System
       erstellt worden sind. Das stammt aus der evidenzbasierten Medizin und soll
       Empfehlungen wissenschaftlich untermauern. Die Arbeitsgruppe um Paul
       Alexander, Epidemiologe an der McMaster University in Ontario, hat 436
       Empfehlungen aus 36 Richtlinien auf ihre Glaubwürdigkeit abgeklopft.
       
       Das Ergebnis: Zwei Drittel davon waren sogenannte starke Empfehlungen, die
       also vom Anwender keine weiteren Überlegungen abverlangen. Doch nur jede
       Zweite davon ließ sich dann auch auf eine gute Beweislage stützen. Vor
       allem die Ernährungsempfehlungen fielen bei der Prüfung durch, ebenso wie
       die Ratschläge aus Genf in Sachen Schweinegrippe-Pandemie. Alexander und
       seine Kollegen fragen sich nun, ob die WHO-Panelisten das Grade-System
       richtig anwenden.
       
       Zudem fordern sie, dass die WHO transparenter arbeiten müsse, vor allem in
       Sachen Einflussnahme von der Industrie. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen
       kürzlich drei US-Wissenschaftler, die sich unabhängig voneinander 124
       Richtlinien angesehen haben. Auch sie fordern Verbesserungen bei der
       Entwicklung der Richtlinien und mehr Einsichtnahme.
       
       Eigentlich sind die Probleme bekannt. Bereits im Jahr 2007 zeigten
       Analysen, dass WHO-Empfehlungen meist auf Expertenmeinungen und selten auf
       evidenzbasierten Methoden aufbauen. Daher wurde das Guidelines Review
       Comittee ins Leben gerufen, um die anerkannten Standards anzuwenden.
       
       David Sinclair, Epidemiologe an der Liverpool School of Tropical Medicine,
       hat letztes Jahr die Auswirkungen dieses neuen Gremiums untersucht. Fazit:
       Zwar arbeitet die Gesundheitsorganisation seither systematischer und
       transparenter, aber die Regeln sind noch nicht in allen Abteilungen
       angekommen.
       
       ## Unklare Empfehlungen
       
       Dass die Ernährungsempfehlungen nicht hieb- und stichfest sind, liegt
       allerdings auch in den Besonderheiten der Ernährungswissenschaft. „Wir
       können nicht so klare Empfehlungen erarbeiten wie in der Medizin“, sagt
       Hans-Georg Joost, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für
       Ernährungsforschung (Dife). „Wir haben fast nur Beobachtungsstudien, und
       die lassen viel Interpretationsspielraum.“
       
       Ihn wundert es daher nicht, dass sich die WHO-Empfehlungen nicht messen
       lassen können mit den Vorgaben etwa bei chronischen Krankheiten oder der
       Patientensicherheit. Das sieht man auch bei dem umstrittenen Vorschlag der
       obersten Gesundheitswächter, den täglichen Richtwert für Zucker von 10
       Prozent der Energiezufuhr zu halbieren. So begrüßt etwa die Deutsche
       Adipositas Gesellschaft diesen Vorschlag, schließlich steigere Zucker
       nachweislich den Appetit und sei darum ein Gewichttreiber.
       
       Joost findet die Empfehlung dagegen übertrieben: „Es ist nicht ausgemacht,
       ob Zucker selber schädlich ist oder nur in Kombination mit Fertigprodukten,
       Fast Food und vor allem Softdrinks“. Schwierig findet Joost auch das
       Anliegen der WHO, für alle Menschen gleiche Empfehlungen zu formulieren.
       „Es gibt so viele kulturelle Unterschiede in den Ernährungsweisen. Die
       mediterrane Ernährung, die die WHO als Goldstandard propagiert, ist zum
       Beispiel auf Deutschland einfach nicht übertragbar.“
       
       ## Risiken beim Stillen
       
       Gleiches gilt für die Empfehlung aus Genf, Neugeborene sechs Monate
       ausschließlich zu stillen. In Entwicklungsländern ist dieser Ratschlag
       häufig überlebenswichtig für die Babys, da Wasser oft kontaminiert ist und
       damit angerührte Tütenmilch gefährlich werden kann. Zudem schützen
       Immunstoffe aus der Muttermilch vor Durchfall. Auch dies kann bei bereits
       durch Hunger geschwächten Säuglingen über Leben und Tod entscheiden. In
       Industrieländern hingegen ist das Wasser sauber und eine Magen-Darm-Grippe
       selten lebensbedrohlich. Daher werden von deutschen Fachgesellschaften nur
       vier Monate Stillen ohne Zufüttern empfohlen.
       
       Umstritten ist auch die Einschätzung der WHO zur Gefährlichkeit von
       Alkohol. „Wenig evidenzbasiert“, lautet dazu etwa das Urteil des
       International Scientific Forum on Alcohol Research. So suggeriere der
       kürzlich erschienene World Cancer Report 2014, dass jeglicher Alkoholkonsum
       schädlich sei. „Die WHO untergräbt ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die
       Studienlage zur positiven Wirkung eines moderaten Alkoholkonsums
       ignoriert“, schreiben die Wissenschaftler.
       
       Auch Joost geht nach der derzeitigen Studienlage davon aus, dass ein
       maßvoller Umgang mit Alkohol, das heißt 20 Gramm Alkohol pro Tag für Männer
       und 10 Gramm für Frauen, keine größeren nachteiligen Folgen für die
       Gesundheit hat. Trotzdem verteidigt er hier die WHO: „Daraus darf natürlich
       keine Empfehlung zum Alkoholverzehr abgeleitet werden. Denn die Suchtgefahr
       und die schädlichen Wirkungen des Alkoholmissbrauchs sind unbestreitbar“,
       so der ehemalige Dife-Chef.
       
       ## Schweinegrippe-Alarm
       
       Bei der Schweinegrippe-Pandemie sieht es hingegen anders aus. Hier könnten
       vielmehr Interessenkonflikte eine Rolle spielen. Denn im Jahr 2009 haben
       führende Wissenschaftler der Gesundheitsorganisation zum massenhaften
       Impfen gegen H1N1 aufrufen lassen, obwohl die Wirksamkeit des
       Influenza-Impfstoffs nicht belegt und die des antiviralen Medikaments
       Tamiflu mehr als fragwürdig war.
       
       In den Studien, die 1999 zur Zulassung der Arznei in den USA führten,
       konnte der Wirkstoff eine normale siebentägige Virusgrippe um einen Tag
       verkürzen. Kürzlich hat die renommierte Cochrane Collaboration mithilfe von
       unveröffentlichten Studiendaten dies noch mal bestätigt. Zudem ließen sich
       weder mit den Impfstoffen noch mit Tamiflu gefährliche Nebenwirkungen einer
       Influenza wie bakterieller Pneumonien verhindern.
       
       In vielen Ländern haben Regierungen jedoch massenweise Impfstoffe gebunkert
       – in Deutschland waren es 34 Millionen Impfstoffdosen. Dieselben
       Wissenschaftler der WHO, die damals Alarm schlugen, haben jedoch bis heute
       Kontakte zu den einschlägigen Impfstoffherstellern, schrieben Deborah Cohen
       und Philip Carter kürzlich im British Medical Journal. „Diese
       Interessenkonflikte sind von der WHO niemals öffentlich dargelegt worden“,
       so die Autoren.
       
       Ulrich Keil, Epidemiologe an der Universität Münster, der die WHO seit über
       40 Jahren berät, glaubt, dass die Performance einer UN-Unterorganisation
       sehr stark vom jeweiligen Direktor abhängt. „Nach 1990 hat die WHO mit
       ihren Generaldirektoren nicht viel Glück gehabt. Seither ist sie auch
       zunehmend ins Fahrwasser der Pharmaindustrie geraten“, sagt er.
       
       19 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
       ## TAGS
       
   DIR Weltgesundheitsorganisation
   DIR WHO
   DIR Transparenz
   DIR Interessenskonflikte
   DIR Schweinegrippe
   DIR Blut
   DIR Medizin
   DIR Ebola
   DIR Zucker
   DIR Vogelgrippe
   DIR Medikamente
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abbauprodukte der Nahrung: Biomarker in Blut und Urin
       
       Verzehrstudien sind ungenau. Blut- und Urintests sollen die
       Ernährungsforschung verbessern. Abbau-Produkte im Körper zeigen, was es zu
       essen gab.
       
   DIR Älteste Pockenviren entdeckt: Erreger jünger als gedacht?
       
       Bislang dachte man, Pharao Ramses V. sei an Pocken gestorben. Neue
       Forschungen bringen Hinweise, dass der tödliche Erreger vielleicht gar
       nicht so alt ist.
       
   DIR Ebola in Westafrika: Gemeinsam gegen das Fieber
       
       Viele westafrikanische Staaten wollen die schwere Epidemie mit einer
       länderübergreifenden Strategie bekämpfen. Bisher starben 460 Menschen an
       der Krankheit.
       
   DIR WHO-Empfehlung zum Zucker-Konsum: Schon eine Cola ist zu viel
       
       Experten der Weltgesundheitsorganisation raten, nicht mehr als fünf Prozent
       des täglichen Kalorienbedarfs mit Zucker zu decken. Die Industrie
       protestiert.
       
   DIR Tödliche Grippeviren: Neue Infektionswellen
       
       In China sind seit Jahresanfang mindestens 20 Menschen an der Vogelgrippe
       gestorben. Tote gibt es auch in Mexiko: Dort ist die Schweinegrippe die
       Ursache.
       
   DIR Studien zu Arzneimitteln: Datengemauschel der Pillendreher
       
       Pharmakonzerne, Wissenschaftler und Fachmagazine veröffentlichen kaum
       Misserfolge in der Forschung. Die Ergebnisse vieler Studien bleiben
       unbekannt.
       
   DIR Pharmastudien unter Verschluss: Der große Grippekrach
       
       Der Pharmakonzern Roche soll Studienergebnisse zum Grippemittel Tamiflu
       erheblich geschönt haben. Forscher wollen in einer Studie die
       unveröffentlichten Daten untersuchen.
       
   DIR Mutiertes Schweinegrippe-Virus: Gesundheitsbehörden entwarnen
       
       Die Weltgesundheitsorganisation gibt wegen in Norwegen entdeckter
       Mutationen des Schweinegrippe-Virus Entwarnung. Der Impfstoff greife auch
       hier.