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       # taz.de -- Keine Hamburger Verhältnisse: Elternwille zählt nicht
       
       > Mehr Verantwortung, weniger Behördenvorgaben wollen die freien Bremer
       > Träger in der Kindertagesbetreuung. Rot-Grün lehnt ab – mit
       > fadenscheinigen Argumenten
       
   IMG Bild: In Hamburg demonstrierten Eltern vor zehn Jahren dafür, dass kein Kind ausgeschlossen wird.
       
       Zu teuer, schlecht für Kinder in Brennpunkt-Vierteln und Elternvereine,
       miese Arbeitsbedingungen für ErzieherInnen und Türöffner für Unternehmen
       mit 24-Stunden-Betreuung: Als vor zehn Tagen alle freien Anbieter von
       Kindertagesbetreuung in Bremen forderten, sich Kindergartenplanung und
       -finanzierung von Hamburg abzugucken, lehnte die Regierungskoalition aus
       SPD und Grünen dies ab. Auch die Fraktion der Linken warnte vor dem
       Hamburger Gutscheinsystem, das Eltern und Trägerns mehr Macht gibt als bei
       der zentralistischen Planung in Bremen. Selbst die Träger wollen es nicht
       übernehmen, sondern sich nur daran „orientieren“, weil es nicht zu „Bremer
       Verhältnissen“ passe. Doch ein Nachfragen in Hamburg ergibt, dass keins der
       vorgetragenen Argumente stichhaltig ist.
       
       ## Die Kosten
       
       Richtig ist, dass die Umstellung in Hamburg vor zehn Jahren Geld gekostet
       hat. Ein Kita-Gutscheinsystem sei aber „tendenziell günstiger“, so Marcel
       Schweitzer von der Hamburger Familienbehörde. „Es werden nur noch die
       Betreuungsstunden bezahlt, auf die ein Kind einen Rechtsanspruch hat.“ Das
       sind fünf Stunden täglich – oder mehr, wenn das Jugendamt auf Antrag der
       Eltern einen Bedarf für zusätzliche Stunden ermittelt hat. In Bremen
       bekommen die Einrichtungen pauschal Stundenkontingente zugewiesen –
       unabhängig von dem, was Eltern gern in Anspruch nehmen würden. Das können
       mehr sein – aber auch weniger, vor allem bei Kleinkindern. Was eine Kommune
       genau für Kinderbetreuung ausgeben muss, hängt davon ab, wie hoch sie die
       Beiträge ansetzt, die Eltern dazu zahlen müssen und wie viele Kinder
       ErzieherInnen gleichzeitig betreuen. Mit Systemfragen hat das nichts zu
       tun.
       
       ## Der Creming-Effekt
       
       Ein Wort, das der kinderpolitische Sprecher der Grünen, Stephan Schlenker,
       gerne benutzt. Wenn die Träger selbst entscheiden könnten, wo sie in
       welchem Umfang tätig sein wollen, dann, glaubt Schlenker, würde nur noch
       der kommunale Anbieter „Kita Bremen“ in Vierteln mit hoher Arbeitslosigkeit
       Kindergärten betreiben. Weil dort weniger „zu holen“ ist: Die
       Betreuungsquote ist niedriger als in Stadtteilen, wo berufstätige Eltern
       Anspruch auf Acht-Stunden-Betreuung haben oder sie aus eigener Tasche
       bezahlen können. Zudem bleiben Kinder aus Familien mit migrantischem
       Hintergrund häufiger und länger zu Hause. Doch schließen mussten in Hamburg
       laut Sozialbehörde infolge der Umstellung nur sehr wenige Häuser, insgesamt
       eröffneten mehr. Und: Wie jetzt in Bremen war auch in Hamburg bereits vor
       der Umstellung der kommunale Anbieter besonders präsent in den armen
       Stadtteilen. Wer das als Problem betrachtet, hält offenbar wenig von dessen
       Arbeit.
       
       ## Keine Migranten in Kita
       
       Der Staat hat ein großes Interesse daran, dass nicht-deutschsprachige
       Eltern ihre Kinder möglichst früh fremd betreuen lassen. Dadurch, so die
       Hoffnung, könnten Sprachschwierigkeiten bekämpft und Integrationschancen
       verbessert werden. Doch warum eine zentrale Planung das besser erreichen
       kann, bleibt ein Bremer Geheimnis. Nur weil die Behörde einen Kindergarten
       an den Stadtrand stellt, heißt das noch lange nicht, dass Eltern dort ihre
       Kinder hingeben. Die Bremer Träger, insbesondere der Verband evangelischer
       Kindertagesstätten, argumentieren genau anders herum: Wenn ihnen die
       Planung überlassen würde, könnten sie viel gezielter auf Familien zugehen
       und für ihr Angebot werben.
       
       ## Die Qualität sinkt
       
       Wer den Trägern mehr Freiheiten gibt, verliert an Einfluss. Das sei aber im
       Sinne der Qualitätsentwicklung gut, sagt ein Sprecher der Berliner
       Sozialbehörde, die das Modell von Hamburg übernommen hat. „Die Träger
       verhandeln mit uns auf Augenhöhe.“ Für den Hamburger Senat ist
       entscheidend, dass jetzt diejenigen „mit den Füßen abstimmen“ können, die
       die Qualität am besten beurteilen können: die Eltern, die täglich erleben,
       ob sich ihr Kind wohl fühlt. Eine Behörde kann das nicht beurteilen, wohl
       aber pädagogische, räumliche und personelle Standards festlegen, wie sie
       das in beiden Stadtstaaten getan hat. Hamburg will dennoch eine externe
       Evaluation einführen, einen Kindergarten-TÜV. Doch neben den genannten
       Standards gibt es kaum objektive Kriterien, sagt Sabine Kümmerle,
       Geschäftsführerin des alternativen Wohlfahrtsverbandes Soal in Hamburg.
       „Das hängt individuell von Eltern und Kindern ab, was die brauchen – und
       von der Erzieherin.“
       
       ## Die Kleinen gehen kaputt
       
       Auch in anderen Städten gibt es Kleinstanbieter, seit den 80ern von Eltern
       als Initiativen gegründet. In Hamburg sind sie im Verband Soal organisiert
       – das ist jede fünfte Hamburger Kita. Noch. Denn tatsächlich, sagt
       Geschäftsführerin Kümmerle, müssen derzeit einige schließen. Nachdem sich
       zu Beginn des Gutscheinsystems erst einmal viele neue gründeten. Der Grund:
       Weil vor allem in den reichen Hamburger Stadtteilen auch nach Beobachtung
       der Behörden ein extremer Wettbewerb um Kinder eingesetzt hat und teilweise
       ein Überangebot vorhanden ist, bleiben Plätze unbesetzt. Das fällt in einer
       Einrichtung mit 20 Kindern stärker ins Gewicht als in einer mit 200. Aber:
       Auch in Bremen merken die privaten Elternvereine, dass die Zeiten der
       Unterversorgung, in denen Eltern genommen haben, was sie kriegen konnten,
       vorbei sind. Und weil die Elternvereine abhängig sind von Zuzahlungen der
       Eltern, bereiten auch ihnen unbesetzte Plätze Probleme. Das Gutscheinsystem
       an sich, sagt Soal-Chefin Kümmerle, habe ansonsten nur Vorteile gebracht.
       „Es gab erstmals eine klare betriebswirtschaftliche Kalkulation.“
       
       ## 24 Stunden betreut
       
       Neun von über 1.000 Kitas bieten in Hamburg eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung
       an. Diese müssen Extra-Auflagen der Behörde für die besondere
       Übernachtungssituation erfüllen. Auch in Bremen werden Kinder länger als
       acht oder zehn Stunden am Tag fremdbetreut. Ob es besser ist, sie dafür an
       einem Ort zu lassen oder nach der Kita noch den Babysitter oder die
       Tagesmutter zu bestellen, müssen Eltern selbst wissen. Laut
       Bundessozialgesetz entscheiden die über die Betreuungszeiten: „Das Angebot
       soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder
       und ihrer Familien orientieren.“ Deshalb ist es auch nicht im Sinne des
       Gesetzes beziehungsweise der Familien, wenn Bremer Einrichtungen wie
       derzeit Eltern feste Mindestzeiten vorschreiben. So müssen Einjährige
       beispielsweise täglich von 9 bis 15.30 Uhr in die Krippe – auch wenn den
       Eltern vielleicht zwei, drei Tage die Woche mit maximal vier Stunden
       reichen würden. Die Kehrseite der freien Stundenwahl: In manchen Hamburger
       Häusern sei die Zeit, in der alle Kinder einer Gruppe da sind, auf
       anderthalb Stunden geschrumpft, sagt Gerlinde Gehl vom Diakonischen Werk
       Hamburg. Dies erschwere gemeinsame Aktivitäten. Gehl bestätigt den Eindruck
       anderer HamburgerInnen, dass zudem bevorzugt Kinder aufgenommen werden, die
       einen Achtstundenplatz brauchen.
       
       ## Erzieherinnen leiden
       
       „Die ErzieherInnen der städtischen Kitas mussten herbe Lohnverluste
       hinnehmen. Befristungen haben zugenommen, teilweise werden ErzieherInnen im
       Herbst angestellt und vor den Sommerferien, mit Ablauf des Kitajahres,
       wieder entlassen“, behauptet die Bremer Linksfraktion über die aktuellen
       Hamburger Verhältnisse. Richtig daran ist nur, dass anfangs ErzieherInnen
       krude Beschäftigungszeiten angeboten wurden. Heute kann sich das angesichts
       des Fachkräftemangels niemand mehr leisten. Deswegen bekommen die
       HamburgerInnen auch dieselben Gehälter wie die Bremer ErzieherInnen.
       Weniger als vorher kriegen nur diejenigen, die im Hauswirtschaftsbereich
       arbeiten, sagt Marina Jachenholz, Betriebsrätin bei den „Elbkindern“, dem
       ehemals städtischen Kita-Betrieb, der in eine GmbH umgewandelt wurde.
       Jachenholz hält die Arbeitsbedingungen ihrer pädagogischen KollegInnen für
       schlechter als früher. Diese Klage hört man auch aus Bremen. Zu viel
       Bürokratie, zu wenig Zeit, um individuell auf alle Kinder einer Gruppe
       eingehen und die steigenden Ansprüche erfüllen zu können – bei
       gleichbleibend niedrigen Gehältern. Die Geschäftsführerin von Soal,
       Kümmerle, findet, dass im ökonomisierten Hamburger System nicht mehr die
       Bindung eines Kindes an eine Erzieherin im Vordergrund stehe, sondern die
       Einlösung des Gutscheins. So würden ErzieherInnen auch mal gebeten, ihre
       Arbeitszeit zu reduzieren, weil gerade nicht alle Plätze belegt sind. „Den
       Kindern fehlen dann die vertrauten Personen.“
       
       13 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eiken Bruhn
       
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