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       # taz.de -- Die Wahrheit: Im Kuriosenkabinett
       
       > Die deutsche Sprache ist derart kompliziert, dass sich selbst
       > Muttersprachler mitunter im Dschungel ihrer Präfixe zerfranzen.
       
       „Sprösse steinreicher Eltern“, ein ranghoher Militär, „der vor Empörung
       sichtlich nach Luft schlappen“ muss, eine Buchhändlerin, die sich „für die
       Unanämlicheiten“ bei einer Bestellung entschuldigt – das sind
       Formulierungen, auf die man in der deutschen Übersetzung von Michel
       Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“, in der taz und in einer gewöhnlichen
       Geschäfts-E-Mail stößt und die in jenes „Kuriosenkabinett“ gehören, das in
       einer neueren Übersetzung von Mark Twains Aufsatz über die angeblich
       „schreckliche deutsche Sprache“ zu entdecken war.
       
       In Wahrheit ist die deutsche Sprache natürlich lustig. Gerade weil sie
       schwer ist, verleitet sie zu albernen Fehlern und überfordert schon die
       Muttersprachler. Die Verben „verbitten“ und „verbieten“ etwa ähneln sich
       derart, dass selbst ein F. C. Delius durcheinanderkommt und sich in seinem
       Roman „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ daran erinnert, dass
       „Gott jede Lüge verbat“. Oder wenn bei „winken“ fast alle das
       Perfektpartizip „gewunken“ verwenden, obwohl es richtig „gewinkt“ heißt,
       dann muss es bei „dingen“ genauso sein und also „gedingte Mörder“ geben,
       und zwar im von Kurt Wagenseil übersetzten Kurt-Vonnegut-Roman „Schlachthof
       5“.
       
       Besonders schwierig ist es mit den Präfixen, von denen das Deutsche einen
       Sack voll hat. Besonders nahe liegt die Annahme, dass sie Ähnliches meinen,
       wenn sie ähnlich lauten: Nach ihrem Erfolg mit dem Song „Da Da Da“,
       schreibt die taz über die Neue-Deutsche-Welle-Band Trio, „verstritten sich
       die Musiker bald“ – und zertut sich bei der Wahl der Vorsilbe.
       
       Ein anderes Zersehen ist in einem Beispiel zu besichtigen, in dem es um die
       mögliche Rolle von Israels früherem Ministerpräsidenten Scharon bei Arafats
       Tod geht: „Die Tatsache, dass trotz zahlreicher Untersuchungen eine
       Diagnose ausblieb, erschwert den Verdacht gegen den israelischen Politiker
       zusätzlich“, raunt die taz geheimnisvoll und sagt das Gegenteil des
       ursprünglich Gemeinten.
       
       Erschweren, dass sie oft zitiert wird, sollte sich die taz nicht. Ihre
       Schreibkräfte begehen nun einmal überdurchschnittlich viele Fehler. Aber,
       dies zum Troste, ganz allein abgetatzelt werden sie nicht: Nicht nur bei
       der taz, auch anderswo gibt es „die von immer neuen Horrormeldungen
       abgebeutelten Mitarbeiter“, wie NDR 4 Info mitteilt. Auch die Leute vom
       Radio müssen abgerüffelt werden, wenn sie die Sprache vertrümmern!
       
       Bei der Jagd nach dem richtigen Ausdruck einfach auf das Präfix zu
       verzichten, um nichts falsch zu machen, wäre die Lösung, wenn das Ergebnis
       nicht darin bestände, dass man es wieder falsch macht. Man will
       beispielsweise „die Lebensbedingungen bessern“ (taz) und verwechselt die zu
       verbessernden Zustände mit den Menschen, die sich in ihnen befinden.
       
       ## Strauss-Kahn mit Schweißbrenner
       
       Dringend notwendig wäre die Verbesserung der Lebensbedingungen auch in
       jener Stadt, in der das Göttinger Tageblatt erscheint: „Mehr als 25 Prozent
       aller Unternehmensgründungen fallen auf ausländische Mitbürger“ – wie viele
       sich dabei die Knochen gebrochen haben oder erschlagen wurden? Hingegen
       muss man die taz fragen, ob Dominique Strauss-Kahn einen Schweißbrenner
       dabei hatte, als er im Südsudan weilte: „Der vielseitige Franzose öffnet im
       jüngsten Land der Welt eine Bank“ – und verteilte das Geld hoffentlich an
       die Armen.
       
       By the way: Wie der umtriebige Strauss-Kahn in den Sudan gekommen ist?
       Schön wäre: mit der „Bimmelnbahn“ (Göttinger Tageblatt). Doch einer wie er,
       der ein „Weltenbürger ist“, wohl weil er nicht bloß in der Welt
       herumgekommen ist, sondern sich in allerlei Welten und womöglich
       Unterwelten herumtreibt, ein Globentrotter also wie Strauss-Kahn wird
       sicherlich Fliegezeuge oder Flügezeuge benutzen, in denen die weltenweit
       orientierte „Zeitschrift für Weltenbürger“ (beworben in Lettre
       International) ausliegt. Kostenlos, versteht sich, Strauss-Kahn müsste
       dafür nicht erst sein Portemonnaie eröffnen.
       
       Die Fehler sind alle schon da, sie müssen nur gemacht werden. Mit
       Deklinationsformen, Präfixen, Infixen wie im letzten Absatz oder mit ganzen
       Wörtern. Hauptsache, man weiß, was gemeint ist, sagt sich zum Beispiel das
       Göttinger Tageblatt und gibt von einem vielseitigen Talent Kunde: „Neben
       dem Schriftstellertum ist der Künstler noch Musiker, Schauspieler und
       Politiker“, was aber inkonsequent ist; es muss folgerichtiger heißen: „ist
       der Künstler noch Musik, Schauspiel und Politik“. Der Mensch ist Sache, an
       diese Devise hält sich auch NDR 4 und teilt mit: „Alfred Nobel war ein
       vielschichtiger Mensch“, denn wo es dümmlich menschelt, braucht es einen
       „vielschichtigen Charakter“ nicht noch eine ebensolche „Persönlichkeit“.
       
       Damit genug, liebe vielschichtige Leser! Die „Anwesendheit“ (taz) weiterer
       Fehler in dieser Zeitung und anderswo prüfen Sie bitte selbst.
       
       14 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Köhler
       
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