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       # taz.de -- Roman über Exil-Jugoslawen: Auf dem Floß der Gegenwart
       
       > „Bonavia“ von Dragan Velikic ist ein labyrinthischer, überbordender Text
       > über die versprengten Schicksale ehemaliger Jugoslawen in der Diaspora.
       
   IMG Bild: Verflossene Heimat: die Sterne von Novi Sad.
       
       Hundert Jahre Erster Weltkrieg sind auch hundert Jahre Balkankrise. Das
       eine war Auslöser des anderen und brachte bekanntlich die
       österreichisch-ungarische Monarchie zu Fall – respektive zum Zerfall.
       
       Ein Ergebnis des wackeligen Friedens von 1918 war die Konstituierung des
       Staates Jugoslawien, der fortan in unterschiedlichen territorialen und
       politischen Ausrichtungen existierte, bis er sich im Zuge der
       Jugoslawienkriege der 90er Jahre auf blutige Weise wieder auflöste. Die
       traumatischen Folgen sind noch heute vielerorts spürbar, lange wird die
       Aufarbeitung andauern und auch Künstler verschiedenster Disziplinen
       beschäftigen – wie etwa in der glänzenden Inszenierung „Common Ground“ am
       Berliner Maxim-Gorki-Theater, in der emigrierte Schauspieler aus Belgrad,
       Sarajevo, Novi Sad oder Prijedor ihre Herkunft erforschen.
       
       Als Pulverfass wurde der Balkan oft bezeichnet, und in der Tat zersprengten
       die Kriege nicht nur das Land in einzelne Teile, sondern versprengten auch
       die dort heimischen Menschen in alle Winkel der Welt. Von diesen Menschen
       und ihren seelischen Erschütterungen erzählt nun Dragan Velikic in seinem
       neuen, labyrinthischen Roman „Bonavia“.
       
       1953 in Belgrad geboren, war er einer der wichtigsten kritischen
       Journalisten der Milosevic-Ära und später, in den Jahren von 2005 bis 2009,
       Botschafter Serbiens in Österreich. Die Romanhandlung ist schnell umrissen
       – die kosmopolitischen Protagonisten Marco, seine Partnerin Marija und
       deren Freundin Kristina reisen über Umwege nach Wien, wo Marcos Vater
       Miljan einen Herzinfarkt erleidet –, nur ist damit noch nicht viel gesagt.
       Viel wichtiger als der vordergründige Plot ist die teils komplizierte
       Verfasstheit der Figuren, die allesamt entwurzelt in der Diaspora leben
       oder dort vielmehr „schwimmen“.
       
       ## Melancholische Kristina
       
       Von Bodenhaftung kann nämlich bei keiner von ihnen die Rede sein. Die
       Konsistenz ihrer Identität ist von dem Verlust der Heimat – und damit ist
       auch immer eine ideelle gemeint – schwer beeinträchtigt. Am schlimmsten hat
       es wohl die melancholische Kristina getroffen, die von ihren alten Freunden
       abgekapselt im fernen Kalifornien weilt, wo ihr Leben durch einen
       Seitensprung ihres Partners ins Straucheln gerät. Während sie von ihren
       Erinnerungen – an Jugoslawien und ihre Jugendliebe – heimgesucht wird,
       reist sie in die Sigmund-Freud-Stadt Wien zu einem Symposion, das
       signifikanterweise der „Erinnerungsfähigkeit des Wassers“ gewidmet ist.
       
       Die Reise in die verlorene Vergangenheit endet für sie tragisch. Kristinas
       kapriziöser Freundin Marija dagegen können die Erinnerungen wenig anhaben,
       da sie sie entweder vergisst oder nostalgisch verklärt und sich auch in
       ihrer Beziehung zu dem verhinderten Schriftsteller Marco als Meisterin der
       Verdrängung erweist. Marco wiederum, der anstelle von Romanen oder Lyrik
       Reiseführer schreibt (für die ihm nie ein passender Titel einfällt) und mit
       Marija zu einer Buchmesse nach Budapest reist, hat mit einem
       undurchsichtigen Familienerbe zu kämpfen. In Wien, am Kranken- oder
       womöglich Sterbebett seines Vaters aber kommt es schließlich zu einer –
       wenn auch nicht alles klärenden – Aussprache.
       
       Die Erzählweise von Dragan Velikic ist sprunghaft, assoziativ und dabei
       streckenweise sehr poetisch und metaphernreich. „Ohne Verse kein Leben.
       Umgepflügte Friedhöfe. Hilferuf am Grabstein. Das Werk die einzige
       Erinnerung“, heißt es etwa. Oder: „Marija ging wie ein Wirbelsturm durch
       die Zeit, in der es weder abgestandene Vergangenheit noch klebriges
       Zukunftsmalz gab. Leicht und schmerzlos, weil ohne Schulden, verlor sie ihr
       Ich von gestern. Sie trieb stets auf dem Floß der Gegenwart.“
       
       ## Graben im Bewusstsein
       
       Der Autor gräbt sich immer tiefer ins Bewusstsein seiner Figuren, nur ist
       das offenbar ein bodenloses Unterfangen – und mitunter fragt man sich als
       Leser schon, ob die Verwirrung, die sich gelegentlich einstellt, intendiert
       ist oder ob Velikic das Geschehen zeitweise entgleitet.
       
       Dem Lesefluss tut das allerdings keinen großen Abbruch und aus den arbiträr
       anmutenden Erinnerungs- oder Bewusstseins-Fragmenten entsteht nach und nach
       ein verschwommenes geografisches und historisches Panorama, eine Art
       Phantom dessen, was die Heimat vielleicht einmal war und zu was sie sich in
       der Gegenwart entwickelt hat; auch die Schattenseiten des Sozialismus, die
       Gräueltaten des Krieges und die Verfehlungen politischer Führungen kommen
       wie beiläufig zur Sprache.
       
       Vor allem das lange Leben von Marcos Vater liefert einen breiten Überblick
       über die historischen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte. Zudem wird
       Miljan als früherer Gigolo im „wandelnden Freudenhaus“ seines Freundes
       Franz und als Betreiber eines jugoslawischen Restaurants namens
       Balkan-Grill zur vielleicht plastischsten Figur dieses überbordenden
       Romans.
       
       13 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schwartz
       
       ## TAGS
       
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