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       # taz.de -- Sozialstaat Schweden: Ein Amt auf Fehlersuche
       
       > Falsche Behandlungen, Vernachlässigung im Pflegesektor: In Schweden
       > versucht eine Behörde herauszufinden, wo es hakt, wenn im Sozialen etwas
       > schiefläuft.
       
   IMG Bild: Läuft was schief, versucht die schwedische Behörde IVO eine Fehlerquelle ausfindig zu machen.
       
       STOCKHOLM taz | Rund 15 Stunden muss ein dementer 93-jähriger Patient im
       Krankenhaus Trollhättan in derselben Windel liegen. In Stockholm
       verwechselt eine Hebamme zwei Medikamente, was zu schweren Komplikationen
       bei einer Geburt führt. Und das Einzige, was ein westschwedisches Sozialamt
       glaubte für eine misshandelte und zur Prostitution gezwungene Frau aus
       Rumänien tun zu können, war statt wirklicher Hilfe – eine Fahrkarte in die
       Heimat.
       
       Wenn es wie bei dieser kleinen Auswahl aus Zeitungsnotizen der vergangenen
       Zeit um Fehler und Versäumnisse im schwedischen Sozialwesen, um Kunstfehler
       oder die Verletzung von Patientenrechten geht, taucht regelmäßig der
       Hinweis auf die IVO auf. Die Abkürzung steht für „Inspektionen för vård och
       omsorg“, die schwedische „Gesundheits- und Vorsorgeinspektion“.
       
       Die IVO gibt es seit einem Jahr, und mit ihren derzeit rund 600
       Angestellten soll sie die öffentliche Aufsicht und Kontrolle über das
       Gesundheits- und Fürsorgewesen straffer, effektiver und stärker machen.
       
       Eine solche Aufsicht gab es schon vorher, doch war sie auf ein Dutzend
       verschiedene Abteilungen u. a. bei der zentralen Gesundheitsbehörde
       „Socialstyrelsen“ sowie regionaler Ämter verteilt. Doch das schwedische
       Gesundheits- und Fürsorgewesen hat in den letzten beiden Jahrzehnten einen
       grundlegenden Umbau erlebt: War es früher vor allem eine öffentliche
       Angelegenheit, ist dieser Sektor mittlerweile von Ambulanzen über
       Krankenhäuser und von der Altenfürsorge bis hin zu Apotheken zunehmend für
       private, gewinnorientierte Akteure geöffnet worden.
       
       Diese zunehmende Vielfalt der Anbieter und die Schnelligkeit der
       Veränderungen im Gesundheits- und Pflegebereich stellen neue Anforderungen
       an Aufsicht und Kontrolle, so die IVO in ihrem ersten Jahresbericht.
       
       In Schweden hat man schon relativ frühzeitig grundlegende Lösungen für die
       Problematik vermeidbarer Fehlbehandlungen im Gesundheitsbereich gesucht.
       Eine gesetzliche Meldepflicht für „unerwünschte Ereignisse“ – gleich, ob
       dabei tatsächlich ein Patient zu Schaden kam oder nur eine
       Gefährdungssituation bestand – gibt es seit 1937.
       
       Der Hintergrund dieser „Lex Maria“, des „Maria-Gesetzes“, waren einige
       Todesfälle im Stockholmer Krankenhaus Mariahemmet, die durch verwechselte
       Injektionen verursacht worden waren und die man zunächst zu vertuschen
       suchte.
       
       1999 wurde die „Lex Maria“ um die „Lex Sarah“ ergänzt, eine entsprechende
       gesetzliche Meldepflicht bei Missständen im Pflegebereich. Benannt ist das
       Gesetz nach der 23-jährigen Krankenschwester Sarah Wägnert, die 1997 in
       einem TV-Programm auf schwere Mängel in einem Pflegeheim aufmerksam
       gemacht, damit eine öffentliche Debatte und letztendlich eine entsprechende
       Gesetzesinitiative ausgelöst hatte.
       
       ## Der Staat haftet
       
       „Sarah“ und „Maria“ sind auch wichtige Werkzeuge im operativen Kern des
       IVO-Arsenals. Wobei es in Schweden – und überhaupt in den nordischen
       Ländern – einen wesentlichen Unterschied zu der Haftungslage bei
       Kunstfehlern und Behandlungsschäden in den meisten anderen europäischen
       Rechtssystemen gibt: Patienten haben einen direkten Entschädigungsanspruch
       gegenüber dem Staat. Dieser ist von straf- oder zivilrechtlicher Haftung
       und der gerichtlichen Klärung der Schuldfrage unabhängig.
       
       Anlaufstelle für entsprechende Anzeigen ist die IVO. Bekommt ein
       Geschädigter dort recht, besteht also gar nicht erst die Notwendigkeit,
       einen Prozess zu führen. In der Praxis sind es daher meist nur komplexe
       oder besonders strittige Schadensfälle, bei denen es zur Eröffnung von
       Ermittlungs- und Gerichtsverfahren kommt.
       
       Für die ist auch bei den Anklagebehörden die entsprechende Kompetenz
       gebündelt worden und es wurden spezialisierte „Pflege-Staatsanwaltschaften“
       eingerichtet. In der Mehrzahl der Fälle, die im vergangenen Jahr zur
       Anklage führten, handelte es sich aber gar nicht um Behandlungsfehler oder
       Pflegemissstände, sondern um fehlerhaften Umgang mit persönlichen Daten
       oder anderen Verstößen gegen den Datenschutz.
       
       ## Die meisten Vorfälle wären vermeidbar gewesen
       
       Neben der Überwachungs- und Kontrollfunktion, dem Aktivwerden bei Schadens-
       oder Gefährdungsereignissen und Genehmigungsverfahren im Gesundheits- und
       Fürsorgesektor soll die IVO auch systematische Analysen liefern. Also
       Antworten auf die Frage, woran es – über den jeweiligen Einzelfall hinaus –
       denn liegen könnte, wenn Patienten falsch behandelt oder Pflegefälle
       vernachlässigt werden.
       
       Wie hoch hier das Verbesserungspotenzial ist, zeigte beispielsweise eine
       vor fünf Jahren veröffentlichte schwedische Studie, wonach drei von vier
       solcher „unerwünschten Ereignisse“ meist ohne größeren Aufwand „eigentlich“
       vermeidbar gewesen wären.
       
       Die entsprechende Analysetätigkeit ist bei der IVO zwar erst allmählich in
       Gang gekommen, eine Durchsicht der in den ersten Monaten von ihr erstellten
       Rapporte zeigt aber bereits, dass Stress, zu hohe Arbeitsbelastung und
       offensichtliche Fehler in der Arbeitsorganisation als durchgängig größter
       Risikofaktor für „unerwünschte Ereignisse“ festgemacht werden konnten.
       
       ## Fehlerquelle war die Software
       
       Doch entdeckte man beispielsweise auch, dass bei der Verwechslung von
       Medikamenten oder deren Fehldosierung im Klinikbereich grundlegende
       Schwächen eines weithin gebräuchlichen IT-Systems eine wesentliche Rolle
       spielten. Mehrfach wurden auch Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen bei
       der Verabreichung von Medikamenten oder der Anwendung spezieller
       Behandlungsmethoden konkretisiert und verdeutlicht.
       
       „Fehler und Versäumnisse aufnehmen, daraus lernen, Schlussfolgerungen
       ziehen und diese an die Gesundheits- und Pflegeinstitutionen
       zurückvermitteln“, beschreibt IVO-Generaldirektorin Gunilla Hult-Backlund
       den Grundansatz ihrer Behörde. Als „Gesundheitspolizei“ sehe man sich
       eigentlich nicht so gern, denn mit Dialog und Hilfe gehe es normalerweise
       besser als mit Bestrafung: „Aber natürlich müssen wir auch schnell
       eingreifen können, wenn beispielsweise die Sicherheit von Patienten
       gefährdet ist.“
       
       13 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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