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       # taz.de -- Künstler Jeremy Deller: „Subkulturell bin ich Spätentwickler“
       
       > Inszeniert zwischen Pop und Kunst: Der britische Künstler Jeremy Deller
       > über Geschichte, Arbeiterkultur und sein besonderes Verständnis von
       > Blaskapellen.
       
   IMG Bild: Jeremy Deller, Acid Brass mit Williams Fairey Band am Airport Manchester.
       
       taz: Herr Deller, was ist der Unterschied zwischen einem Ei und Margaret
       Thatcher? 
       
       Jeremy Deller: Da muss ich passen.
       
       Die Premierministerin kann man nicht weich kochen. 
       
       Ist das ein deutscher Witz?
       
       Leider nein, ich habe ihn dem Roman „GB 84“ des britischen Schriftstellers
       David Peace entnommen. 
       
       Geniales Buch! Peace ist damit eine dichte Beschreibung der britischen
       Gesellschaft Mitte der Achtziger geglückt.
       
       Ich dachte, es wäre ein guter Aufhänger, um dieses Gespräch zu beginnen.
       Denn Sie beschäftigen sich in Ihrer Kunst ausführlich mit der
       Gesellschaftsrealität zu jener Zeit. Dem Buch von Peace sind
       Schwarz-Weiß-Fotografien aus Nordengland zur Zeit des Bergarbeiterstreiks
       von 1984 beigefügt. Darauf zu sehen sind Auseinandersetzungen zwischen
       Polizei und Streikenden. Die Menschen wirken erschöpft. Aber Sie
       inszenieren diese Ereignisse heute weniger dramatisch, eher spielerisch. 
       
       Das spielerische Element ist meiner eigenen Reflexion über jene Zeit
       geschuldet. Mir fällt es auf diese Weise leichter, Geschichte zu schildern.
       Wenn Sie so wollen, dann mische ich dem Schwarz-Weiß von einst nun Farbe
       bei. Und ich injiziere Humor, ein menschliches Maß.
       
       Erklären Sie mir bitte, warum Sie die „Battle of Orgreaves“, eine
       Feldschlacht die zur Zeit des großen Bergarbeiterstreiks 1984 zwischen
       Polizisten und streikenden Arbeitern stattfand, mit Tausenden von Statisten
       nachgestellt haben? 
       
       Orgreaves hatte Symbolcharakter. Denn dort überwand die Polizei mit neuen
       Methoden der Aufstandsbekämpfung nach stundenlangen Auseinandersetzungen
       die Streikpostenkette vor einer Kokerei, die blockiert wurde, um die
       Nachschubmöglichkeiten der Stahlindustrie lahmzulegen. Es war brutal, es
       gab viele Verletzte.
       
       Normalerweise beschäftigen sich Reenactments mit weiter in der
       Vergangenheit zurückliegenden Ereignissen, etwa mit Ritterturnieren im
       Mittelalter. Umso seltsamer wirkt es, dass Sie sich auf ein Ereignis der
       jüngeren Geschichte stützen. 
       
       Die Vorkommnisse habe ich als Jugendlicher im Fernsehen verfolgt, sie haben
       mich nachhaltig geprägt. Ganz allgemein frage ich mich mit dem Reenactment:
       Wie lässt sich Geschichte darstellen? Was passiert mit uns, wenn wir
       Schlachten nachspielen? Und da kam mir Orgreaves als Beispiel für einen
       Bürgerkrieg in den Sinn. Ich wollte ergründen, was in den Leuten vorgeht,
       wenn Sie sich selbst in der Geschichte spielen.
       
       Warum ist der Streik von 1984 politisch bedeutsam? 
       
       Er gilt in Großbritannien als Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Die
       Thatcher-Regierung wurde sich ihrer neoliberalen Ideologie bewusst, denn
       sie wollte die mächtigsten Gewerkschaften des Landes ausschalten, die
       dieser Ideologie im Weg standen. Es war eine Lehrstunde in Machtpolitik,
       und wir mussten verstehen lernen, dass sich der britische Staat nicht
       erweichen lässt.
       
       Wie hat Ihr Land jene Jahre verarbeitet? 
       
       Ältere Briten, die ich kenne, haben immer noch Schwierigkeiten, darüber zu
       reden. Ich selbst kann unbefangener mit den Ereignissen umgehen, ich komme
       nicht aus Nordengland, und meine Familie war nicht direkt vom Streik
       betroffen. Aber bis heute ist der Bergarbeiterstreik von 1984 ein
       signifikanter Moment unserer Geschichte. Politisch, gesellschaftlich und
       kulturell ist er noch keineswegs aufgeklärt.
       
       Mit meinem Reenactment wollte ich seine Geister wieder lebendig machen, an
       die Phantome der Erinnerung appellieren. Großbritannien ist ein toughes
       Land, und die Politiker, die heute an der Regierung sind, ähneln denjenigen
       der Achtziger.
       
       Blaskapellen waren ein wichtiger Teil der Gewerkschaftsbewegung. 
       
       Jeder Industriezweig, ob Stahl oder Kohle, hatte seine eigenen
       Gewerkschaftsverbände, und die hatten wiederum in jeder Fabrik, in jedem
       Bergwerk eigene Blaskapellen. Ihr Wirken gehörte zur kulturellen
       Ertüchtigung der Arbeiter, wie man das früher nannte.
       
       Und nun kommen Sie nach Berlin mit einer Firmenkapelle, die aber keine
       Gewerkschaftslieder spielt, sondern die Hits des Acid House in
       Blasmusikarrangements. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem großen
       Streik und der Explosion von Acid House und Rave-Kultur in Großbritannien? 
       
       Die Streikfront brach 1985 zusammen, und der Summer of Love, also die
       Explosion der Ravekultur, geschah nur kurze Zeit später, 1987. Man könnte
       also sagen, dass Acid House eine Antwort auf den Nihilismus der
       Thatcher-Jahre ist.
       
       Waren Sie ein Raver? 
       
       Ein bisschen später, Anfang der neunziger Jahre, ging ich oft auf Raves.
       
       Was änderte sich durch House und die Ravekultur? 
       
       Die Musik war härter als alles, was vorher war, der Groove hörte nicht mehr
       auf, und die Leute begegneten sich auf dem Dancefloor mit viel Respekt.
       
       Und nun haben Sie die Williams Fairey Band aus Stockport überzeugen können,
       diesen popmusikalischen Quantensprung darzustellen. 
       
       Es ist eine Firmenblaskapelle, die Firma baute im Zweiten Weltkrieg Brücken
       und konstruierte Flugzeuge, das hat mir imponiert.
       
       Einen Track, den Sie für Ihr Repertoire ausgewählt haben, ist „Voodoo Ray“
       von A Guy Called Gerald, einem Houseproduzenten aus Manchester. Er landete
       damit 1987 ganz oben in den Charts. Die Musik lockt auch heute noch junge
       Housefans in Massen auf die Tanzfläche. 
       
       Stimmt, er ist überhaupt nicht gealtert, er bläst mich um, ich liebe diesen
       Track sehr.
       
       Warum? 
       
       „Voodoo Ray“ klingt einfach fantastisch, er zwitschert so, wie es nur Acid
       House tun kann, und gleichzeitig ist der Sound sehr atmosphärisch.
       
       Als Sie der Williams Fairey Brassband diesen und die anderen House-Tracks
       zum Arrangieren gegeben haben, wie haben die Musiker darauf reagiert? 
       
       Sie fanden den Sound interessant, denn sie kannten das musikalische
       Material vorher nicht, haben aber verstanden, was man in einem Bandkontext
       daraus machen kann und warum diese Tracks auch als Blasmusik-Arrangements
       funktionieren.
       
       Wie verändert dies den Kontext von Rave? 
       
       Eine Blaskapelle kann keinen Club ersetzen, aber die Musik lässt sich prima
       adaptieren und direkt an die Zuhörer weitergeben, denn die Dynamik von
       Holzbläsern und Perkussionisten ist phänomenal. Das funktioniert dann auch
       im Konzert.
       
       Was kam bei Ihnen zuerst: Pop oder bildende Kunst? 
       
       Pop, ich habe ihn zunächst im Fernsehen wahrgenommen, in der Sendung „Top
       of the Pop“. Subkulturell bin ich ein Spätentwickler, für Punk war ich zu
       jung, aber ich fand ihn spannend. Wie Menschen mit Musik umgehen, wie sie
       aussehen, wie sie sich dabei benehmen, interessiert mich. Und ich habe mich
       auch an Pop orientiert, weil ich dadurch selbst etwas über den Rest der
       Welt gelernt habe.
       
       Popkultur ist ein Movens Ihrer Arbeit als bildender Künstler, Sie haben
       über Brian Epstein, den Manager der Beatles, geforscht und ein Werk über
       Fans von Depeche Mode gemacht. 
       
       Ja, ich stehe in einem engen Verhältnis zu Pop. Er findet vor der Haustür
       statt. Als Volkskultur ist er nicht auf geschlossene Räume wie Galerien
       oder Museen angewiesen, er ist weniger institutionell, sondern stärker in
       der Sphäre des Öffentlichen, in der Performance verankert. Und das
       inspiriert mich außerordentlich.
       
       Sehen Sie sich in einer Ahnengalerie mit Figuren wie den Londoner
       Galeristen „Groovy Bob“ Robert Frazer, oder den Künstlern Peter Blake oder
       Richard Hamilton, die für die Beatles Cover designt haben? 
       
       Wissen Sie, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich in diesem Kontext
       überhaupt arbeiten darf. Um im Bild zu bleiben: Ich versuche nur,
       durchzukommen. Auf lange Sicht könnte es schon sein, dass ich Teil einer
       Bewegung sein werde, die es zwischen Pop und Kunst gibt. Und, klar, einen
       Künstler wie Peter Blake bewundere ich, weil er an einem aufregenden Moment
       der britischen Kultur beteiligt war.
       
       Gelingt Acid Brass auch in Berlin auf der Bühne? 
       
       Keine Sorge, das wird kein Reenactment, sondern einfach ein Konzert, gehen
       Sie hin, amüsieren Sie sich, egal ob Sie die Original-Housetracks kennen
       oder nicht. Und das Beste: Ich komme nur zur Fragestunde auf die Bühne,
       ansonsten bleibe ich unsichtbar.
       
       14 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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