URI: 
       # taz.de -- Brasiliens Halbfinal-Debakel: Ein Land bricht ein
       
       > In den Armenvierteln wurden nach dem Spiel gegen Deutschland
       > Leuchtraketen gezündet. Einen nationalen Kollektivschock gibt es nicht.
       
   IMG Bild: Der Titeltraum ist ausgeträumt
       
       RIO DE JANEIRO taz | Als der Abpfiff ertönte und vor der großen Leinwand an
       der Copacabana nun tausende Menschen nach Hause strömten, im Wissen darum,
       dass eine sportliche Katastrophe ihren Lauf genommen hatte, explodierte
       weit hinter der Bühne links, oben im Himmel, eine Silvesterrakete. Die
       erste war blau, die nächste orange, eine weitere leuchtete grellrot und
       alle waren hübsch anzusehen. Es folgten noch viele weitere. Es hatte dort
       oben links, am Hügel, ganz offensichtlich ein Fest begonnen.
       
       Soeben hat ein Schiedsrichter aus Mexiko in Belo Horizonte das Spiel
       abgepfiffen, Brasilien hat 1:7 gegen Deutschland verloren, und nun steht
       fest, dass dieser Abend als eine Schmach und Schande, als ein Stich ins
       Herz vieler Brasilianer in die brasilianische Fußballgeschichte eingehen
       wird.
       
       Am Sandstrand von Rio de Janeiro, Copacabana, dem symbolträchtigen
       Treffpunkt von Fußballfans aus aller Welt, herrscht Verstörung,
       Beklommenheit und Scham, auch stellvertretende Scham ist dabei. Dort oben
       am Hügel aber beginnt mit diesem Desaster gerade wieder eine neue kleine
       Zeitrechnung, wie zu Silvester, wenn die Leuchtraketen einen Wandel
       markieren und Hoffnung, die sich auf die Zukunft richtet.
       
       Dort liegt das Armenviertel Babilonia, und wenn dort nun also wieder
       gefeiert wird, dann weil das Ausscheiden Brasiliens nicht etwa für den
       Kollektivschmerz einer ganzen Nation steht, sondern lediglich für die
       enttäuschte Erwartungshaltung von vielen Menschen in einem Land, das sich
       in einem Selbstversuch befindet. Nein: befand.
       
       ## Kulturnationaler Schulterschluss
       
       Bis Dienstagabend suchte dieses Land, vor allem auch seine politische
       Elite, den Schulterschluss; ein kulturnationaler Schulterschluss sollte es
       sein, der nicht nur die zweifelnde Mittelschicht erreicht, sondern auch die
       abgehängte Unterschicht.
       
       So wie sich Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt in den Monaten
       vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft schon daran gewöhnt hatten, kleine
       Protestereignisse großzuschreiben und größere noch größer, so ließen sich
       viele von ihnen in den letzten Wochen nun auf neue Perspektiven und eine
       neue Erzählung ein: Ein Fußballfest zu attestieren, das ganz Brasilien mit
       in seinen Bann gezogen habe. Eine Fehlwahrnehmung war das, aber eine
       solche, wie Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff sie sich für die Zeit der
       Weltmeisterschaft gewünscht hatte und wie sie sie umfassend pries.
       
       Nun könnte rasch die nächste große Erzählung beginnen, doch wenn darin bald
       schon zu oft Wörter wie Schande und Schmach vorkommen, wenn darin zu oft
       das Wort Brasilien als Akteur geführt wird, dann wird es ratsam sein,
       dieser Erzählung zu misstrauen.
       
       Auch wenn die Berichte aus den Kapillargassen tourismusaffiner Metropolen
       anders lauteten: In vielen Städten Brasiliens, in vielen Ortsteilen, in
       vielen entlegenen Straßen auf den Hügeln der Metropolen sind Stimmung und
       Rausch, von denen reichlich zu lesen war, auch in den vergangenen Wochen
       nicht entbrannt.
       
       Und so ist es fast tragisch, dass das Spiel, mit dem sich die
       brasilianische Fußballnationalmannschaft von ihren Titelträumen trennte, in
       vielerlei Hinsicht für die Konflikte steht, die nicht allein die
       Mannschaft, sondern auch das mehr oder weniger begleitende Völkchen
       Brasiliens zu bewältigen hat.
       
       ## Kein Kollektiv in Gelb
       
       Brasilien bricht ein. Und wer dieses Spiel sah, sah allem voran, dass es
       keinen brasilianischen Akteur darin gab, kein Kollektiv und keine
       Gemeinsamkeit, zumindest nun keine im gelben Trikot.
       
       Es ist natürlich hart und schwer zu sagen, und immer fällt es auch schwer,
       aus der Kraft des Schmerzes zu zehren, doch wahr ist: In den vergangenen
       Wochen waren viele Brasilianerinnen und Brasilianer mit sich und anderen im
       Disput, weil sie die Ahnung teilten, dass es gut sei für das Land, wenn
       seine Mannschaft nur rasch ausscheide.
       
       Den Romantizismus, für alles zu brennen, allein schon aus Leidenschaft, gab
       es so nicht. Stattdessen einen Rationalismus, der begründete, dass
       auszuscheiden habe, wer schlecht spielt, und fertig. Viele BrasilianerInnen
       hielten es nach dem Spiel gegen Chile für ungerechtfertigt, ihr Team noch
       im Wettbewerb zu sehen.
       
       Und so nannten einige sportliche Gründe für einen berechtigten Abschied,
       andere vor allem politische. Denn ebenso uneins, so wenig mannschaftlich,
       ebenso künstlich, wie diese Mannschaft mit ihren verschiedenen Charakteren
       zusammengeknebelt wurde – mit Hartplatztretern wie Fred und
       hoffnungsträchtigen Markenfiguren wie dem Ballettasketen Neymar – so ist
       auch dieses Land mit seiner wechselhaften Imperialgeschichte einer
       Kollektivkultur entsprungen, die sich niemals auf ein Homogenes, auf etwas
       so Absurdes wie einen Volkskörper reduzieren, vereinfachen lassen könnte.
       
       ## Storyteller und Märchenerzähler
       
       Die nationale Schande des Dienstagabends, der Kollektivschock, der in der
       globalen Geschichtsschreibung bald schon ganz nah heranrücken wird an die
       Schmach von 1950, als Brasilien in Rios Stadion Maracanã gegen Uruguay das
       Finale verlor, diesen nationalen Kollektivschock gibt es so nicht, und es
       sollte eine Randbemerkung in den Geschichtsbüchern wert sein, dass er
       erlogen ist, herbeigesehnt, von Storytellern und Märchenerzählern, aber
       diese Geschichtserzählung hat bereits begonnen.
       
       Es ist die Vielerei Brasiliens – um nicht zu sagen: die Vielfalt –, die das
       Land nicht nur vor seine zentrale politische Herausforderungen stellt (eine
       benötigte Industrialisierung im Widerspruch zum Verfassungsrang, der der
       Natur zukommt; eine gewollt progressive Sozialpolitik im Widerspruch zu den
       großen Massen, die davon gesättigt werden müssen; eine aggressive
       Mobilitätspolitik im Widerspruch zu dem Ruf nach elementarer
       Daseinsvorsorge).
       
       Diese Vielerei, das quasi nicht zu bändigende Nebeneinander kontroversester
       Lebensentwürfe und -realitäten, bedingt die politisch schwer zu
       maßregelnden Herausforderungen, die letztlich zu den Massenprotesten des
       Jahres 2013 geführt haben.
       
       ## Gesellschaftliche Zerreißprobe
       
       Erst weil die kosmopolitisch gereizte obere Mittelschicht andere
       Versprechungen sucht, als es die Masse der Habenichtse – eine
       Millionenarmada von BasilianierInnen, denen faktisch die Bürgerrechte
       entzogen sind – für sich zu Recht beansprucht, ist es zu einer
       gesellschaftlichen Zerreißprobe gekommen, die mit einem Kollektivbetränknis
       zuletzt ihre gute Pause haben sollte.
       
       Es hat nicht lange gedauert, genauer gesagt keine Sekunde, bis die Bewohner
       auf dem Hügel von Babilonia mit ihren Leuchtraketen am Dienstag ein
       gesellschaftspolitisches Signal gesetzt haben, das auf das Ende dieses
       gescheiterten Selbstversuchs hinweist. Es sollte sich lohnen, dieses Signal
       nicht zu verwechseln. Es handelt sich weder um Schadenfreude noch um
       Schande oder um Scham.
       
       Dem Spielergebnis wird eine Debatte um Spieler und Trainer folgen und
       anschließend eine Debatte um die Gestaltung eines Landes, das den Reiz und
       die Herausforderungen eines Kontinents ausstrahlt. Es ist gut, dass dieses
       Land inzwischen reifer ist, als gern gemutmaßt wird, viel reifer.
       
       9 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Kaul
       
       ## TAGS
       
   DIR Fußball
   DIR Brasilien
   DIR Deutsche Fußball-Nationalmannschaft
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
   DIR WM 2014
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Brasilianischer Aktivist über die WM: „Wir sind kein Fußballland mehr“
       
       Argemiro Ferreira Almeida über die Veränderungen durch WM und Proteste –
       und über den langen Weg der Gegenöffentlichkeit.
       
   DIR Brasilien vor dem „kleinen“ Finale: Die letzte Tränenshow
       
       Nach Brasiliens Desaster geht es im Spiel um Platz drei gegen Holland. Die
       Seleção kämpft um Wiedergutmachung und gegen die Verstaatlichung.
       
   DIR Fußball-WM auf Twitter: Die wirkliche Arena
       
       Erst Twitter macht die Kickerei zum globalen Event. Die Zahl der Tweets
       entscheidet, was bei der WM relevant ist. Und die Spieler sind mittendrin.
       
   DIR Brasilien nach dem Halbfinale: Ausschlachten der Niederlage
       
       Die Schmach als Wahlkampfthema? Regierung und Opposition streiten über die
       Deutung des Desasters auf dem Rasen.
       
   DIR Momente eines historischen Halbfinals: Einsam und geschockt
       
       Im Halbfinale spielten die Brasilianer wie von Gott verlassen. Und das
       schwarz-rot-goldene Publikum war vor allem eines: stumm.
       
   DIR Brasilien nach dem Desaster: Felipão wird Felipinho
       
       Trainer Luiz Felipe Scolari konnte die historische Pleite nicht verhindern.
       Die Folgen für Brasiliens Fußball werden gravierend sein.
       
   DIR Kommentar Deutschland - Brasilien: Löw? 7:1!
       
       Bundestrainer Joachim Löw lässt gegen Brasilien Jogi-Fußball spielen. Das
       Ergebnis ist eine Erniedrigung des Gastgebers.
       
   DIR Public Viewing an der Copacabana: Ostsee, Alter. Usedom!
       
       An der Copacabana betrachteten tausende Brasilianer bei Regen und Donner
       ihr großes Verderben. Es war so trist wie Usedom.
       
   DIR Ein Sieg für die Geschichtsbücher: „Lass das keinen Traum sein“
       
       Brasilien will Geschichte schreiben und erlebt die schlimmsten Minuten
       seiner Fußballgeschichte. Der DFB-Elf gelingt hingegen alles.
       
   DIR WM-Halbfinale Brasilien - Deutschland: Ein Spiel wie ein Autounfall
       
       Fünf Tore in 20 Minuten, nach einer halben Stunde war alles entschieden. In
       einem Jahrhundertspiel besiegt Deutschland den Gastgeber mit 7:1.