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       # taz.de -- Mord an israelischen Jugendlichen: Die private Tragödie und die Nation
       
       > Israel instrumentalisiert individuelles Leid für eigene Zwecke. Das macht
       > die Trauer um die ermordeten Teenager perfide scheinheilig.
       
   IMG Bild: Trauer während der Beerdigung eines der drei Jugendlichen am 1. Juli.
       
       Die Tragödie der drei tot aufgefundenen entführten Jugendlichen ist in
       Israel zu einem Großereignis nationalen Ausmaßes hochdebattiert worden.
       Über die persönliche Leiderfahrung der Familien und ihre nähere Umgebung
       hinaus gerann die Sorge um das Befinden der Entführten ebenso wie dann das
       Entsetzen bei der Nachricht über ihren gewaltsamen Tod zu einem kollektiven
       Aufschrei, an dem sich Medien, Politiker, Militärfunktionäre, Prominenz,
       Internetaktivisten und „einfaches Volk“ mit größter Emphase beteiligten.
       
       Viel Ideologisches wurde dabei generiert. Dazu hatten nicht zuletzt die
       Eltern der Entführten beigetragen, allen voran die Mütter, die ihre Sorge,
       ihre Hoffnung und ihr Leid auf die Ebene des Nationalkollektiven hievten.
       
       Das ist wenig verwunderlich. Es handelt sich ja um nationalreligiös
       gläubige Siedler, die ihr Leben im besetzten Westjordanland nicht zuletzt
       als einen nationalen Auftrag religiöser Bestimmung begreifen.
       
       Als dann das gewaltsame Ende der Entführten zur Gewissheit wurde, waren die
       politischen Ideologen und Sachwalter der praktischen Handhabung des
       tragischen Ereignisses mit ihren Deklarationen und Forderungen schnell bei
       der Hand. Das Kabinett, das zusammentrat, um die Reaktion auf den Mord zu
       erörtern, war in den Meinungen seiner Mitglieder gespalten, wie die
       Tageszeitung Haaretz berichtete.
       
       Netanjahu sprach von drei zentralen Zielen der anvisierten Reaktion:
       Gefangennahme der Entführer, Angriff auf Aktivisten und Infrastruktur der
       Hamas im Westjordanland sowie Aktionen gegen die Hamas im Gazastreifen.
       Gleichwohl, so die Einschätzung des Berichts, erweckte er den Eindruck, als
       wolle er eine größere Aktion verhindern und sich mit einer „relativ
       moderaten“ begnügen.
       
       ## Siedlungsbau als Reaktion
       
       Das eigentliche Politikum bestand aber in den Vorschlägen des Premiers und
       seines Verteidigungsministers Mosche Jaalon, dass die Reaktion auf die
       Entführung und ihren grausamen Ausgang die Erweiterung des Siedlungsbaus in
       den besetzten Gebieten einschließen sollte.
       
       Der Vorsitzende des Ausschusses für Außenpolitik und Sicherheit, Ze’ev
       Elkin, schlug vor, am Ort, an dem die Leichen der Entführten gefunden
       wurden, eine Siedlung zu errichten.
       
       Naftali Bennett, Minister für Wirtschaft und Handel und Vorsitzender der
       mitregierenden Partei Jüdisches Heim, bediente sich des Klischees eines
       Aufrufs zur „adäquaten zionistischen Antwort“, ein Codewort für
       „Erweiterung des Siedlungsbaus und Tausende Wohneinheiten mehr in den
       besetzten Gebieten“, wie Haaretz-Publizist Zvi Bar’el anmerkte.
       
       Es ist zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen noch ungewiss, wie die
       israelische Reaktion ausfallen wird. Sowohl aus Europa als auch aus den USA
       kamen bislang Aufrufe, sich zurückzuhalten und eine Eskalation der Gewalt
       um jeden Preis zu vermeiden. Es scheint indes ohnehin, als sei keine der
       Seiten an einer substanziellen Eskalation interessiert. Denn gemessen
       daran, was Israel im besetzten Westjordanland bereits während der Suche
       nach den Entführten angerichtet hat, kann eine Steigerung der
       Terrorisierung der palästinensischen Bevölkerung nichts anderes als einen
       neuen Krieg gegen die im Gazastreifen regierende Hamas bedeuten.
       
       ## Israel hat die Entführungen instrumentalisiert
       
       Die Erfahrungen der Israelis in beiden vorangegangenen Gazakriegen dürfte
       sie davon abhalten, einen neuen Krieg zu initiieren. Denn bei allem
       immensen Schaden, den sie anrichteten, vermochte Israel eines nicht zu
       erreichen: die Zerschlagung der Hamas – weder als politische noch als eine
       (wie immer bescheidene) militärische Macht.
       
       Israel musste sich daher immer wieder mit weniger begnügen. Aber genau das
       hat es diesmal bereits vollbracht: Disproportional wie stets reagierte es
       auf die durch den Terrorakt entstandene Herausforderung, etwas zu tun, was
       das konkrete Problem zwar nicht zu lösen vermag, aber den Anschein erweckt,
       etwas getan zu haben. Es aktivierte seine Streitkräfte wahllos im
       okkupierten Land.
       
       In der Tat darf davon ausgegangen werden, dass Israel den Entführungsakt
       dazu instrumentalisierte, zwei von vornherein anvisierte Ziele zu
       verfolgen: zum einen die Basis der Hamas im Westjordanland zu attackieren,
       mithin auch die von der Rechten Israels monierten Defizite des
       Gilad-Schalit-Deals „wiedergutzumachen“, indem man die bei diesem Deal
       freigelassenen palästinensischen Gefangenen nach und nach wieder einfing
       und einsperrte (und dies als einen der Erfolge der Aktion verbuchte); zum
       anderen einen Keil in die jüngst gebildete Koalition der PLO mit der Hamas
       zu treiben, wobei man sich in dieser Zielsetzung einig sah mit der
       PLO-Führung.
       
       Dass Mahmud Abbas’ Sicherheitskräfte mit den israelischen bei der Suche
       nach den Entführten kooperierten, ist ja selbst von der Mutter eines der
       Entführten lobend hervorgehoben worden. Gleichwohl handelte es sich bei der
       von Gewalt durchwirkten Suche um eine Schimäre: Man speiste die Hoffnung
       der Bevölkerung, man werde die Entführten lebend finden, auch dann noch,
       als es (zumindest den Sicherheitskräften) bereits klar war, dass man diese
       Hoffnung wird enttäuschen müssen.
       
       Derweil hat sich „das Volk“ der Handhabung der Reaktion auf den Ausgang des
       Entführungsakts angenommen: Araber auf Jerusalemer Straßen wurden wahllos
       angegriffen, eine zur Rache aufrufende, spontan-orchestrierte Internethetze
       wurde in Gang gesetzt, ein 16-jähriger Palästinenserjunge wurde tot
       aufgefunden. Man weiß noch nicht, wer ihn umgebracht hat, weiß aber sehr
       wohl, womit man es bei den „Preisschild“-Aktionen (tag mechir) jüdischer
       Terroristen zu tun hat. Man vermutet eine von jüdischen „Araberjägern“
       vollzogene Racheaktion.
       
       ## Dämonisierung der Feinde
       
       Im Leitartikel der Haaretz vom 2. Juli heißt es: „Der Premierminister, der
       vorgestern den Vergleich zwischen Juden und Arabern zog, behauptete, dass
       'uns eine breite und tiefe moralische Kluft von unseren Feinden trennt: Sie
       heiligen den Tod, wir das Leben; sie heiligen die Grausamkeit, wir das
       Erbarmen.' Eine Entführung und Ermordung eines arabischen Jungen – wenn
       sich erweisen sollte, dass sie von Juden vollführt worden ist – wird diesen
       pauschalisierend verlogenen Vergleich zerstören.“
       
       Wohl wahr, aber es bedarf nicht erst eines Beweises in diesem konkreten
       Fall, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Denn die
       Instrumentalisierung privater Tragödien zu „kollektiven“ Zwecken ist eine
       ideologische Praxis, in der sich die israelische politische Kultur seit
       Jahrzehnten übt und es zur wahren Meisterschaft gebracht hat.
       
       Es will zuweilen scheinen, dass jede Gewalttat, die jüdischen Israelis (von
       palästinensischer Hand) widerfährt, den ideologischen Wortführern der
       israelischen politischen Kultur zupass kommt – sie ermöglicht die
       erwünschte Dämonisierung der Feinde bei Selbstvergewisserung der eigenen
       kollektiven Tugendhaftigkeit.
       
       Dass dabei die Unsäglichkeit der von Israel betriebenen Okkupation, welche
       die palästinensische Gewalttaten erst eigentlich zeitigt, in den
       Hintergrund gerät, ist das latente Ziel der ideologisierenden Manipulation.
       Die Ausblendung des realen Kausalnexus gerinnt zur kollektiven Verblendung,
       zur nationalen Verdrängung des realen Wirkzusammenhangs persönlicher
       Leiderfahrung und privater Tragödien.
       
       Netanjahu mag sich noch so manipulativ, noch so ideologisch-verlogen über
       den Vergleich von Juden und Arabern auslassen, er wird die private
       Katastrophe noch so selbstherrlich zu fremdbestimmten Zwecken
       funktionalisieren wollen, aber er wird letztlich nicht um den elementaren
       Vorwurf herumkommen, dass er es ist, der den Frieden mit den Palästinensern
       nicht nur scheut, sondern auch alles daran setzt, eine Struktur
       herzustellen, die die Möglichkeit eines solchen Friedens unterwandert,
       diese mithin mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern
       trachtet.
       
       Er selbst stellt dabei nur die Personifizierung der ideologischen
       Gesamttendenz dar – jener Tendenz, die die palästinensische reaktive Gewalt
       zur Raison d’être seiner friedensfeindlichen Politik hat verkommen lassen.
       Nicht zuletzt das ist es, was an der staatlichen Trauer um die ermordeten
       Jugendlichen so perfide scheinheilig erscheint.
       
       4 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moshe Zuckermann
       
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