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       # taz.de -- Niedriglöhne in der Textilbranche: Augen zu und an Ausbeutung denken
       
       > Die Niedriglöhne in der Textilindustrie sind Teil des Systems: Sie machen
       > die Arbeiter erpressbar. Daran etwas zu ändern, zerstörte die Branche.
       
   IMG Bild: Atmosphäre des Grauens: Neuer Primark-Laden in Berlin.
       
       Als das Rana Plaza 2012 einstürzte, hatte der Warenprüfer von Primark
       Glück. Er war für den späten Vormittag in der Fabrik New Age Bottoms im
       zweiten Stock angekündigt, wenige Stunden nachdem das Fabrikgebäude in sich
       zusammenfiel und mehr als 3.000 Menschen unter sich begrub. Er hatte das
       Glück der späten Ankunft.
       
       Der Warenprüfer sollte kommen, weil in den Tagen darauf eine Ladung für den
       inzwischen berüchtigten Billigklamottenanbieter verschickt werden sollte.
       Auch in zwei anderen Fabriken arbeitete man an diesen Tagen, so hart man
       konnte, um eine Lieferung für die Modemarke Mango fertig zu produzieren.
       Diese Umstände waren es, die mehr als 1.000 Männer und Frauen das Leben
       kosteten.
       
       Am Tag zuvor waren die ersten Anzeichen für den Einsturz aufgetreten: Risse
       in den tragenden Säulen des Gebäudes. Das Hochhaus wurde evakuiert, die
       ArbeiterInnen nach Hause geschickt und Ingenieure einbestellt, die dann
       konstatierten, dass es kein Problem gebe. Am nächsten Tag blieb der Markt
       auf den unteren Etagen des Rana Plaza geschlossen, und auch die NäherInnen
       wollten ihre Arbeitsplätze in den oberen Stockwerken aus Angst nicht
       einnehmen. Doch am Ende siegten die Beschimpfungen ihrer Vorarbeiter, die
       mit Lohnkürzung drohten, um sie doch dazu zu nötigen. Die Fabriken konnten
       sich keinen Tag Verspätung leisten.
       
       Gerade herrscht große Aufregung, weil Primark-Kunden in Irland und Wales in
       ihrer Kleidung eingenähte Hilferufe entdeckt haben. Seither wird darüber
       diskutiert, ob sie echt sind. Nur: Dass die NäherInnen europäischer
       Modefirmen unter „degrading sweatshop conditions“, also erniedrigenden
       Bedingungen eines Ausbeuterbetriebs arbeiten, wie es dort heißt, ist
       eigentlich bekannt.
       
       Es gibt viele Schuldige am Einsturz des Rana Plaza, doch die große Zahl der
       Opfer ist wohl im System fast fashion begründet: kurzfristige Bestellungen,
       strenge Lieferbedingungen, große Mengen, kleine Gewinnmargen und kurze
       Lieferzeiten. Wären nicht die Lieferungen an Primark und Mango fällig
       gewesen, wären die Gewinne und Lieferzeiten nicht so knapp berechnet
       gewesen, wären die ArbeiterInnen nicht so sehr auf ihre niedrigen Löhne
       angewiesen, hätten sie sich vielleicht nicht in das einstürzende Gebäude
       zwingen lassen. Und würden noch leben.
       
       ## Komplizen der eigenen Ausbeutung
       
       Die Erpressbarkeit der NäherInnen hält das System zusammen. Nur wenn sie
       jederzeit verfügbar sind, können es die neuesten Kollektionen innerhalb von
       Wochen einmal um den Globus schaffen: von den Tischen der Designer in die
       Fabriken Bangladeschs und zurück in die Klamottenläden des Westens. Und
       damit das System überlebt, werden die Löhne der NäherInnen absehbar nicht
       steigen.
       
       Dabei wurden die Löhne erst im vergangenen Jahr unter dem Eindruck des
       Einsturzes erhöht. Von rund 30 Euro im Monat stieg der Grundlohn auf 50
       Euro, wer Überstunden macht, verdient mehr. Auf den ersten Blick war es ein
       eindrucksvolles Verhandlungsergebnis: eine Steigerung von 66 Prozent. Aber
       die Inflation ist hoch, manchmal zweistellig, und die Preise für Dinge des
       täglichen Bedarfs steigen noch schneller. Am Ende bleibt ein Lohn, dessen
       Kaufkraft gesunken ist.
       
       Woran liegt es, dass die Reallöhne in dieser boomenden Industrie nie
       steigen? Am schlechten Verhandlungsgeschick der NäherInnen? An der
       schwachen Position der Gewerkschaften in Bangladesch? Sie scheinen immer
       wieder an derselben Stelle zu verharren: knapp am Existenzminimum. Ein
       Traum für Ausbeuter. Sie haben die ArbeiterInnen unter ihrer Kontrolle und
       geben ihnen doch den Anschein, dass sie Freiheiten haben. Ihr wollt euren
       Lohn aufbessern? Macht doch Überstunden!
       
       Am Ende können die FabrikbesitzerInnen darauf verweisen, dass sie ihre
       Untergebenen nicht zu Überstunden zwingen. Im Gegenteil: Die ArbeiterInnen
       fordern sie ein und werden zu Komplizen ihrer eigenen Ausbeutung.
       
       ## Textilfabriken brennen fabelhaft
       
       Auf die einfachsten Ansprüche reagieren FabrikbesitzerInnen und
       VorarbeiterInnen dagegen sehr sensibel. Auf Krankentage, Urlaubsforderungen
       oder die Verweigerung von Überstunden folgen Lohnkürzungen und Kündigungen.
       Am Ende steht eine hörige Arbeiterschaft, die bereit ist, auch die
       heftigsten Überstunden unter harten Bedingungen zu machen. Sie sind aus
       Sicht ihrer Chefs kaum mehr als die Maschinen, an denen sie nähen: Sie
       dürfen nicht krank werden, keinen Urlaub brauchen oder ihre Familie für
       wichtiger als ihre Arbeit halten. Tun sie nicht, was man verlangt, werden
       sie ausgetauscht.
       
       Diese Logik funktioniert aber nur, solange die Löhne tatsächlich zu hoch
       zum Sterben sind und die NäherInnen etwas – noch so Geringes – zu verlieren
       haben. In regelmäßigen Abständen sinkt ihre Kaufkraft so sehr, dass sich
       die Arbeit in den Fabriken nicht mehr lohnt. An solchen Tagen zeigt sich,
       wie fragil das Gleichgewicht der Modeproduktion ist. Als 2010 die Kaufkraft
       des alten Mindestlohns so spürbar erodiert war, dass für die ArbeiterInnen
       das Überleben auf dem Spiel stand, gingen sie auf die Straße. Sie wussten,
       wie sie die Fabrikbesitzer am härtesten treffen konnten, und zündeten ihre
       Arbeitsstätten an. Textilfabriken brennen fabelhaft.
       
       Besonders unsystematisch sind deshalb Kampagnen, die sich ausschließlich
       auf die Hungerlöhne der Branche konzentrieren. Manche suggerieren sogar,
       man könne etwas verändern, wenn man die Kleidung wenige Cent teurer macht.
       „Würden die Lohnkosten pro produziertem T-Shirt – beispielsweise in Indien
       – um 27 Cent angehoben, könnten die NäherInnen ein menschenwürdiges Leben
       führen“, heißt es zum Beispiel von der Clean Clothes Kampagne in
       Österreich. In dem sensibel austarierten System wollen sie eine Schraube
       etwas anziehen und hoffen, dass alles andere weiterläuft wie bisher: Die
       Kleidung bleibt billig, sie ist in wenigen Wochen verfügbar, internationale
       Modefirmen und FabrikbesitzerInnen verdienen Geld – und die ArbeiterInnen
       verdienen etwas mehr.
       
       Abgesehen von den naheliegenden pragmatischen Fragen – wie würde das Geld
       die richtigen NäherInnen erreichen, wer würde die Aufsicht haben? – gibt es
       noch das Problem, dass durch eine solche Kampagne nichts so bleiben würde,
       wie es ist. Mehr Lohn, auch nur etwas mehr Lohn, würde das Ende der
       Industrie in ihrer jetzigen Form bedeuten.
       
       Denn niemand weiß besser als die NäherInnen selbst, wie schlimm ihre
       Arbeitsbedingungen sind. Sie arbeiten lange, oft bis zu 14 Stunden am Tag,
       und haben wenige freie Tage; sie werden gemobbt, beschimpft und von
       Vorarbeitern geschlagen; ihre Löhne werden falsch berechnet oder ohne
       Begründung zurückgehalten. Schon jetzt steigen die Abwesenheitszahlen, kurz
       nachdem Löhne oder Feiertagsboni ausgezahlt werden. In manchen Fabriken
       fehlt dann ein Fünftel der Belegschaft.
       
       ## Ein Zehner aus Bangladesch
       
       Würden sie tatsächlich einen Existenzlohn bekommen, bekämen die NäherInnen
       dadurch Handlungsspielraum zurück. Warum Überstunden machen, wenn man nicht
       auf sie angewiesen ist? Die verspäteten Lieferungen wären das Problem
       anderer, die hohen Strafzahlungen, die Modeketten ihren Lieferanten
       aufdrücken, auch. Möglicherweise würden die ArbeiterInnen sogar noch mehr
       einfordern: kürzere Arbeitszeiten, Urlaub oder gar Zusatzleistungen wie
       Krankenversicherung. Und sie wären eher in der Lage, die Forderungen auch
       durchzusetzen – weil sie unabhängiger wären.
       
       Dadurch würden die Produktionskosten enorm steigen. Die Kleidung würde
       nicht nur um wenige Cent, sondern um ganze Euros teurer werden. Die
       Modefirmen würden in andere Länder abwandern – oder die ganze Industrie
       müsste sich verändern.
       
       Ist es nicht bequemer, alles zu lassen, wie es ist? Die Branche boomt, erst
       diese Woche hat Primark eine neue Filiale aufgemacht, mitten in Berlin. Und
       das nächste Mal beim Klamottenkauf, bei Primark oder KiK, H & M oder C & A,
       Benetton oder Mango: an der Kasse kurz die Augen schließen und daran
       denken, dass irgendwo in Bangladesch eine Näherin einen Zehner dazulegt.
       
       5 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lalon Sander
       
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