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       # taz.de -- Kolumne Liebeserklärung an ...: ... Märchen
       
       > Wundersame Begebenheiten spielen sich ab in der deutschen Hauptstadt:
       > Flüchtlinge sind Menschen. Und die Nation hört zu.
       
   IMG Bild: Schon bald sollen auf dem Mittelmeer Drohnen gegen Menschen eingesetzt werden
       
       Es war einmal eine Stadt, die konnte keinen Flughafen bauen und keine
       Fahrradwege. Die Stadt konnte auch nicht S-Bahn, sie war überhaupt nicht
       besonders freundlich zu ihren Bewohnern und rühmte sich dessen noch als
       Schnoddrigkeit. Doch dann kamen Menschen von weither und unter vielen
       Gefahren und alles wurde anders: Die Stadt wachte auf.
       
       Ausgerechnet die Kirchen, die sich sonst am liebsten damit beschäftigen,
       wer mit wem unter der Bettdeck was trieb oder sich in wohlfeilen Reden über
       das Elend fremder Völker ergingen, drehten als erste richtig auf – und
       plötzlich wurde es eng für den Berliner Innensenator Frank Henkel: Denn
       auch seine alteingessene CDU-Wählerschaft in Westberlin fand, er solle
       endlich bestehendes Recht anwenden.
       
       3.000 Ärzte, Immobilienmakler und Rollatornutzer aus Zehlendorf waren auf
       der Straße. „Gewährt den 40 verbliebenen Flüchtlingen aus der Kreuzberger
       Gerhart-Hauptmann-Schule den ihnen zustehenden Flüchtlingsschutz. Und auch
       den 400 vom Oranienplatz!“
       
       In Berlin-Mitte warb Til Schweiger dafür, den Edelclub Soho House in ein
       temporäres Flüchtlingsquartier zu verwandeln. Gemeinsam mit Nora Tschirner
       und Jürgen Vogel führte er die Kamera für eine Doku „In ist, was human
       ist“. Junge Männer und Frauen erzählten ihre Geschichte. Aus Asylbewerbern
       wurden wieder Ingenieure, Studenten, Ärzte, Söhne, Töchter und Eltern. Und
       die ganze Nation hörte zu.
       
       ## Til Schweiger und Jürgen Vogel
       
       Trotzdem zauderte Henkel noch. Er war doch der Sheriff und kein Weichei.
       Weswegen sein Chef Wowereit sich enerviert durch die grauen Haare fuhr und
       verfügte: „Asylbewerber sind eine soziale Herausforderung, mit Law und
       Order allein werden wir den Menschen nicht gerecht.“ Sozialpolitiker
       übernehmt endlich!" Gleichzeitig zog er die alte Dienstanweisung an die
       Ausländerbehörde zurück. Die hatte verlangt: „Schiebt ab, was das Zeug
       hält. Berlin will Touristen und Reiche, aber keine Flüchtlinge.“ Ab jetzt
       prüften die Zuständigen die Asylanträge mit Wohlwollen. Das Unvorstellbare,
       es ward zur Routine.
       
       Und bei Routine konnte auch Henkel mit: Plötzlich war sich die Berliner
       Politik einig wie nie – das Land allein konnte die Flüchtlingsfrage nicht
       lösen! Aber Berlin wollte sich nicht mehr hinter dieser Phrase verstecken:
       Auch die anderen Länder müssen sich humanisieren, schallte es aus der
       Hauptstadt, außerdem sei der Bund gefragt. Eigentlich waren Flüchtlinge das
       Letzte, was Angela Merkel und Innenminister de Maiziere interessierte,
       sollten sie doch alle ins Mittelmeer springen. Deswegen hatten sie noch
       kurz vor der Sommerpause eine Gesetzesänderung durchgepeitscht, die Bosnien
       und Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu sicheren Drittstaaten erklärte
       und Flüchtende noch leichter inhaftierten ließ. Im Süden der EU sollten
       schon bald Drohnen gegen Menschen auf der Flucht eingesetzt werden.
       
       Doch die Stimmung im Land hatte sich gedreht. Das bemerkten zunächst die
       Grünen. Sie ließen den Gesetzesentwurf im Bundesrat durchfallen. Und dann
       kam die SPD. Nachdem das mit dem Mindestlohn über die Bühne war, wurde ihr
       langweilig. Mangels anderer Ideen erinnerte sie sich an ihre früheren
       Bündnisse mit den Sozialverbänden und schoss sich auf de Maziere ein. Sogar
       die Groko war man bereit, platzen zu lassen, wenn nicht endlich das
       Grenzregime aufgelöst würde. Und so nahm die Kriminalisierung von
       Hilfebedürftigen ein Ende.
       
       ## Wie einst bei der Atomkraft
       
       Es war wie einst bei der Atomkraft: Die Konservativen und Lobbyisten
       ignorierten, verlachten, vertuschten und wandten jeden schmutzigen Trick
       an, um einen Paradigmenwechsel zu verhindern. Aber umsonst: Die Bevölkerung
       war endgültig ausgestiegen aus der Verantwortungslosigkeit. Sie war fertig
       mit der Idee, dass nur Egoismus glücklich machte.
       
       Und Merkel reagierte, schleppend, aber pragmatisch wie stets: Sie flog nach
       Brüssel und machte dem Rat und der Kommission klar: „Was kümmert mich mein
       Gewäsch von gestern. Deutschland führt: Wir schließen jetzt die
       Steueroasen, alle. Die Flüchtlingspolitik wird revidiert. Basta.“
       
       Nicht mehr die Menschen, das Kapital wurde jetzt verfolgt. Denn erst wenn
       die Diktatoren wieder in die Infrastruktur ihrer Länder investierten,
       endete der Schlamassel. Ach ja, wir lieferten auch keine Waffen mehr in
       Krisengebiete – das produzierte auch nur Flüchtlinge und Merkel hatte ihre
       wachen Wähler am Hals.
       
       Damit endet das Märchen. Stellen Sie sich bei jeder Passage das Gegenteil
       vor – und Sie haben ein Bild von den tatsächlichen Zuständen. Doch es war
       einmal anders. Deutschland hat im Bosnienkrieg 350.000 Flüchtlinge
       aufgenommen. Und kaum jemand in Deutschland hat das auch nur bemerkt.
       
       6 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ines Kappert
       
       ## TAGS
       
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