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       # taz.de -- Fußballland Argentinien: Krise? Schön den Ball flach halten!
       
       > Was interessiert schon ein drohender Staatsbankrott oder ein korrupter
       > Verband, wenn Stürmer Agüero am linken Oberschenkel verletzt ist?
       
   IMG Bild: Auf den Straßen von Buenos Aires zählt momentan vor allem eines: Fußball.
       
       BUENOS AIRES taz | Die Euphorie beim Public Viewing auf der Plaza San
       Martín in Buenos Aires kannte keine Grenzen. Mit Gesängen feierten die
       Menschen noch lange nach dem Schlusspfiff lauthals das [1][3:2 gegen
       Nigeria]. „Heute hat mich die Mannschaft zum ersten Mal überzeugt“, sagt
       Miguel. Wie Miguel sind wieder viele aus dem großen Elendsviertel beim
       Busbahnhof Retiro auf die Plaza gekommen.
       
       Dennoch ist die Freude bei Miguel seit Sergio Agüeros verletzungsbedingter
       Auswechslung etwas getrübt. Noch Tage danach hielt Agüeros Muskelverletzung
       im linken Oberschenkel die Menschen in Atem. Seit ärztlich feststeht, dass
       der Stürmer gegen die Schweiz nicht auflaufen kann, haben sich die
       Sorgenfalten der Menschen am Río de la Plata weiter vertieft. Wer soll
       Agüero bei den Fantastischen Vier’ mit Lionel Messi, Ángel di María und
       Gonzalo Higuaín ersetzen?
       
       Wer aus dem Armenviertel zum Public Viewing auf der Plaza San Martín kommt,
       interessiert sich angesichts einer solch entscheidenden Frage wenig dafür,
       dass dem [2][argentinischen Staat Ende Juli die Zahlungsunfähigkeit droht].
       Auch dass deswegen, nur wenige Straßen von der Plaza San Martín entfernt,
       der Schwarzmarktkurs des Dollars wieder steigt, interessiert in den
       Armenvierteln kaum jemanden.
       
       „Argentinien hat heute kein Schuldenproblem“, sagt der Wirtschaftsanalyst
       Dante Sica und verweist auf die Schuldenquote. Diese misst die
       Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Lag der Wert auf
       dem Höhepunkt der Krise 2002 bei 166 Prozent, waren es 2013 nur 45 Prozent,
       so Sica.
       
       Wer also glaubt, die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner brauche
       das WM-Spektakel, um von einer drohenden Staatspleite abzulenken, liegt
       falsch. Auch dass, wie am Freitag bestätigt, dem Vizepräsidenten wegen
       mutmaßlicher Korruption demnächst der Prozess gemacht wird, ist zunächst
       ein großes Thema vor allem in den Medien. Berichte über Korruption und
       Blatter-Fifa interessieren schon gar niemanden. Zu lange und zu
       frustrierend sind die Erfahrungen im eigenen Fußballland, als dass nicht
       auch der letzte aufrechte Fan resigniert hätte.
       
       ## Mehr Klagen als Al Capone
       
       Seit 35 Jahren hat Julio Grondona den argentinischen Fußballverband AFA
       fest im Griff. Neunmal in Folge hat der heute 82-Jährige die Wahl zum
       Vorsitzenden gewonnen. Erstmals 1979 während der Militärdiktatur. Und nur
       ein einziges Mal gab es eine einzige Gegenstimme in dem 46-köpfigen
       AFA-Exekutivkomitee. Seit 1988 sitzt Grondona zudem im Exekutivkomitee der
       Fifa und ist Vorsitzender von dessen Finanzkommission.
       
       „In meinen 35 Amtsjahren bekam ich schon mehr Klagen an den Hals als Al
       Capone“, kommentierte Grondona solche Vorgänge. „Und niemals wurde ich
       verurteilt.“ So auch im Jahr 2011, als zwölf Schweizer Bankkonten mit knapp
       73 Millionen Dollar bekannt wurden, zu denen unter anderen Grondonas
       Chauffeur und seine Familie Zugang hatten. Die Schweizer Ermittler kamen
       jedoch nicht voran, weil die argentinische Regierung die von ihnen
       angeforderten Unterlagen nicht übermittelte.
       
       All das hindert die Kirchner-Regierung nicht daran, mit dem AFA-Boss
       Geschäfte zu machen. Unter dem Motto „Fußball für alle“ kauft sie seit 2008
       alljährlich die Übertragungsrechte für die Spiele der Ersten Liga. Seither
       sind allen Partien live im Free TV zu sehen. Die ursprünglich über
       Werbeeinahmen geplante Finanzierung erwies sich dabei als genialer Kniff:
       In den Halbzeitpausen laufen ausschließlich Spots aus einer Mischung von
       Staats- und Regierungspropaganda. Für beide Seiten ein glänzendes Geschäft.
       Die anfangs rund 70 Millionen Euro teuren Rechte sind im Staatshaushalt
       2014 mit 127 Millionen Euro veranschlagt.
       
       Bisher hält die Präsidentin den Ball in Sachen WM flach. Keine Äußerungen,
       keine Auftritte, von einem geplanten Besuch bei der Mannschaft im
       Nachbarland ist ebenfalls nichts zu hören. Cristina Kirchner muss ohnehin
       nicht mehr punkten. Ende 2015 läuft ihre zweite Amtszeit aus. Noch einmal
       kandidieren darf sie nicht. Dann enden zwölf Jahre Regierungszeit der
       Kirchner-Familie. Ein aussichtsreicher Nachfolgekandidat aus dem eigenen
       Lager ist noch nicht in Sicht.
       
       Da sich die Regierung die Fernsehrechte an der WM gesichert hatte, werden
       die Spiele fast ausschließlich vom staatlichen Fernsehsender Canal 7
       ausgestrahlt. Aufschlussreich sind die Werbespots in den Halbzeitpausen.
       Mit viel nationalem Pathos und in Torjubelmanier feiern Menschen ihre
       mithilfe der Errungenschaften der Kirchner-Ära erreichten Erfolge. Der
       Pokalgewinn würde die Ära vergolden.
       
       (Achtelfinale Argentinien - Schweiz, 18 Uhr, ZDF, São Paulo)
       
       1 Jul 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!141169/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Vogt
       
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