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       # taz.de -- USA im Fußballrausch: Zwischen Porno und Bourgeoisie
       
       > Nichts mehr mit Mauerblümchendasein. Seit gut situierte Vorstädter in den
       > USA den Sport für sich entdeckt haben, erfreut sich Soccer größter
       > Popularität.
       
   IMG Bild: Eher Bourgeoisie: US-Fans feiern ihr Team beim Public Viewing an der Copacabana.
       
       NEW YORK taz | Es ist ein gewöhnlicher Donnerstagvormittag, doch in der
       Radegast Beerhall in Brooklyn herrscht Betrieb, als wäre es Samstag
       spätabends. Das Fassbier fließt in Strömen in der alten Backsteinfabrik,
       die kürzlich in eine der in Hipster-Kreisen so beliebten,
       deutsch-inspirierten Bierwirtschaften verwandelt wurde. Die Bedienung
       kämpft sich mit zwei Händen voller Maßkrüge durch die Menge, als wäre man
       auf dem Oktoberfest. Die Sitzplätze auf den Holzbänken mit Blick auf die
       Großleinwand sind schon seit dem Frühstück blockiert. Tattoos und sorgsam
       gepflegte Bärte mischen sich mit USA-Schals und patriotischen
       Gesichtsbemalungen.
       
       Auch Dan Corless hat sich freigenommen, der Angestellte einer
       Krankenversicherung will sich auf keinen Fall das Spiel USA gegen
       Deutschland entgehen lassen. „Ich spiele Fußball, seit ich ein kleiner
       Junge war“, sagt er, während er an seinem Spaten nippt. „Das ist schon ein
       wenig wie ein Traum für mich hier.“
       
       Dan kann sich noch daran erinnern, wie es war, als in den USA kein Mensch
       Fußball schaute und man einiges auf sich nehmen musste, um überhaupt etwas
       über die WM zu erfahren. 1990, als er Teenager war und es weder Fußball im
       Kabelnetz noch das Internet gab, fuhr er noch mit dem Fahrrad quer durch
       die Stadt, um sich zwei Tage alte europäische Zeitungen zu besorgen.
       
       Seitdem hat sich einiges verändert. Besser gesagt, es hat sich alles
       verändert. Das Gruppenspiel der USA gegen Portugal wurde von mehr als 25
       Millionen Menschen in den USA live gesehen. Das waren beinahe doppelt so
       viele Zuschauer wie beim Finale der Basketballliga NBA zwischen San Antonio
       und Miami. Es ist eine wahrhafte WM-Hysterie in den USA ausgebrochen. Jede
       Kneipe bietet World Cup Specials an, die Spiele der US-Mannschaft sind von
       Orlando bis LA riesige Public-Viewing-Feten. Man fachsimpelt bei
       Dinnerpartys über das Talent von Tim Howard und die Vorzüge einer
       Dreierkette, und Barack Obama schaut im Dienstflugzeug ganz
       selbstverständlich World Cup, anstatt mit seinen Beratern über der
       Irakkrise oder den Einwanderungsgesetzen zu brüten.
       
       ## Kein plötzlicher WM-Hype
       
       Für Dan Corless ist das alles keine Überraschung. Die ganze Welt glaubt,
       dass Fußball hier über Nacht explodiert ist. Das liegt aber eher daran,
       dass man nur alle vier Jahre hinschaut. Der Fußball in den USA ist in den
       letzten 20 Jahren stetig gewachsen.
       
       Das sagt auch George Vecsey, Sportkolumnist bei der New York Times, der
       1970 als einer von zwei US-Journalisten zur Fußballweltmeisterschaft nach
       Mexiko gefahren ist und gerade ein Memoire über seine Jahrzehnte als
       WM-Reporter veröffentlicht hat. „Seit wir 1994 die WM hier in den USA
       hatten, geht es konstant bergauf.“
       
       Den Grund dafür, dass der jetzige Hype wie eine Explosion wirkt, sieht
       Vecsey darin, dass heute eine Generation erwachsen geworden ist, die mit
       Soccer aufwuchs – dieselbe Generation im Übrigen, die jetzt im US-Trikot in
       Brasilien auf dem Rasen steht. Irgendwann in den 80er Jahren hat die
       Babyboomer-Generation, die gebildeten Familien aus den Vorstädten,
       beschlossen, ihre Kinder Fußball spielen zu lassen anstatt Football oder
       Baseball, so Vecsey. Man fand das unter den jungen Familien der gut
       situierten Bourgeoisie irgendwie kultivierter und sicherer. Das Ergebnis
       ist beeindruckend: Heute spielen knapp 13 Millionen Amerikaner
       organisierten Fußball, die meisten von ihnen Jugendliche.
       
       Diejenigen, die als Kinder irgendwann mal gekickt haben, wie etwa Dan
       Corless, bleiben dem Sport dann meist irgendwie verbunden. In Zeiten des
       Internets ist das auch wesentlich leichter geworden. Man kann alle Spiele
       der europäischen Ligen streamen, Fox Sports zeigt zudem am Wochenende immer
       einzelne Partien von europäischen Vereinen. In Fußballbars, wie etwa dem
       Nevada Smith in Manhattan, läuft jeden Tag Fußball, ganz gleich, ob aus der
       US-Profiliga Major League Soccer (MLS), Premier League, Champions League
       oder Bundesliga. Und dazwischen kann man das Fifa-Videospiel zocken.
       
       Alle diese Faktoren haben in den vergangenen Jahren zu einer Beschleunigung
       des Soccer-Wachstums in allen Bereichen geführt. So wird auch das
       Spielniveau in der MLS immer besser, nicht zuletzt, weil immer mehr Geld da
       ist. Die Werbewirtschaft hat entdeckt, dass die Soccer-Klientel – jung,
       gebildet, gut verdienend – attraktiv ist, sagt Vecsey. Das bessere Spiel
       wiederum zieht noch mehr Fans an, die vielleicht früher nur europäischen
       oder südamerikanischen Fußball geschaut haben. So gehen heute zu den
       Spielen der Seattle Sounders, dem Team von Nationalmannschaftskapitän Clint
       Dempsey, regelmäßig 40.000 Zuschauer, mehr als zu jedem NBA-Spiel.
       
       ## Sport der sexy Körper
       
       Kate Tedesco, eine Journalistin aus Brooklyn, die sich ebenfalls den
       Vormittag für das Spiel freigenommen hat und im Radegast ein Mittagsbier
       nimmt, hat derweil noch eine andere Theorie für den Soccer-Boom. „Für mich
       ist das wie Porno“, sagt sie. Baseballspieler seien meistens fett,
       Footballspieler hätten Rüstungen an und Basketballspieler seltsame
       Proportionen. „Bei Fußballern sieht man sexy Körper und hübsche Gesichter
       ganz nahe in Aktion.“ Deshalb, glaubt Kate, würden sich Frauen in den USA
       lieber Fußball anschauen. Die stark wachsende Zahl weiblicher
       Sportkonsumenten laufe somit zu einem hohen Anteil dem Eurosport zu.
       
       Dass Fußball das Zeug dazu hat, eine der traditionellen US-Sportarten zu
       verdrängen, glaubt hier trotz allem niemand. Baseball oder Football sind
       einfach zu tief in unserer Kultur verwurzelt, sagt George Vecsey. Aber ein
       solider fünfter Rang und ein fester Platz auf der Sport-Speisekarte seien
       schließlich auch nicht schlecht. Wir sind ein riesiges Land, so Vecsey. So
       riesig, dass selbst die Fangemeinde eines Minderheitensports reicht, um
       einen Markt anzutreiben, der sich vor niemandem verstecken muss.
       
       1 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Moll
       
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