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       # taz.de -- Dilma Rousseff und die WM: Angstpartie bis zum Anpfiff
       
       > Die Kritik an der Präsidentin war heftig, doch die Rechte hat den Bogen
       > überspannt. Nun profitiert Dilma Rousseff von der guten Stimmung im Land.
       
   IMG Bild: Dilma Rousseff mit ihrem Vorgänger Lula da Silva.
       
       RIO DE JANEIRO taz | Für die Arbeiterpartei PT war die WM vielleicht die
       größte Herausforderung in den zwölf Jahren, in denen sie Brasilien regiert.
       Und das völlig überraschend. Als der damalige Präsident Lula den
       Fifa-Zuschlag 2007 enthusiastisch feierte, war seine Vision eine
       Erfolgsstory: Das wirtschaftlich wie sozial aufstrebende Schwellenland wird
       seinen Status als neuer Global Player mit dem Fußballfest vor den Augen
       aller Welt krönen und zugleich die Wiederwahl seiner Nachfolgerin Dilma
       Rousseff als erfolgreiche Managerin drei Monate später absichern.
       
       Die hochtrabende Vision wurde von Realismus abgelöst: „Es wird der
       schwerste Wahlkampf unserer Geschichte“, sagte Lula kürzlich und bereitet
       sich darauf vor, mit der angeschlagenen Präsidentin in den Wahlkampf zu
       ziehen. Noch immer ist es Lula, der als Macher des brasilianischen Wunders
       und Garant der großen Popularität der PT-Regierung gilt.
       
       Für Rousseff war die WM bis zum Anpfiff eine Angstpartie. Ihre Reaktionen
       auf die Massenproteste vom Juni 2013 kamen bei der Bevölkerung nicht gut
       an, obwohl sie teilweise durchaus in die richtige Richtung gingen. Der
       Kritik an Korruption kam sie mit dem Vorschlag einer umfassenden
       Politikreform entgegen. Der Forderung nach mehr Bildung und Gesundheit
       entsprach sie mit neuen Mitteln aus der Erdölförderung und dem Programm
       „Mehr Ärzte“, über das mittlerweile Tausende ausländische, vor allem
       kubanische Mediziner in den ärmsten Landesteilen eingesetzt wurden.
       
       Es war vor allem die Presse, die im Chor mit der rechten Opposition
       Rousseff als allein Schuldige darstellte, die angeblich für alle Missstände
       rund um die WM verantwortlich sei. Sie selbst meldete sich nur selten zu
       Wort, bis ihre Parteifreunde reklamierten, sie müsse endlich in die
       Offensive gehen. Doch sie versprach nur, dass Brasilien die „beste aller
       Weltmeisterschaften“ ausrichten werde, und setzte auf einen gigantischen
       Sicherheitsapparat, um Störungen jeglicher Art zu verhindern.
       
       ## Den Bogen überspannt
       
       In Wahlumfragen sank die Beliebtheit der Präsidentin stetig. Doch der
       bisherige Tiefpunkt dieser Entwicklung bedeutete zugleich deren Ende,
       zumindest vorläufig. Beim Eröffnungsspiel wurde Rousseff nicht nur
       ausgepfiffen, sondern in Sprechchören auch vulgär beschimpft. Die beiden
       Oppositionskandidaten, Aécio Neves von der rechten PSDB und Eduardo Campos
       vom früheren Koalitionspartner PSB, kommentierten noch gehässig: „Rousseff
       erntet, was sie gesät hat“ – ohne zu merken, dass der Bogen überspannt
       worden war.
       
       Unflätige Beleidigungen gegen die Präsidentin – das ging den Brasilianern
       zu weit. Auch viele Konservative stimmten Rousseff zu, als sie unaufgeregt
       feststellte, dass „Kinder und Familien“ solche Schimpfworte nicht hören
       sollten. Und Lula nahm die Kritik der WM-Kritiker auf, dass die Stadien ja
       nur von der „Elite“ frequentiert würden, die nur ihrem „Hass“ gegen eine
       sozial agierende Regierung freien Lauf gelassen habe.
       
       Die Medien sahen sich gezwungen, Rousseff mehrheitlich in Schutz zu nehmen,
       und konstatierten bald darauf, dass Brasilien die WM zumindest schon auf
       den Rängen verloren habe: Die Chilenen, Kolumbianer und Argentinier würden
       dort richtige Fußballstimmung inszenieren, während die Brasilianer offenbar
       zum ersten Mal im Stadion seien und „nicht mal richtig singen“ könnten. Die
       einheimischen Fans, die sonst eine Heidenstimmung verbreiten, konnten die
       hohen Eintrittspreise nicht bezahlen.
       
       Rousseff profitiert jetzt davon, dass vorher alles schiefzugehen schien.
       Die organisatorischen Mängel werden kaum noch wahrgenommen und eher als
       brasilianisches Improvisationstalent gelobt: Statt Fifa-Norm sei jetzt
       Brasil-Norm angesagt. Die befürchteten Proteste sind bislang ausgeblieben,
       teils wegen der Gewaltandrohung von oben wie von Autonomen, teils wegen der
       Unlust vieler, sich den Fußballspaß verderben zu lassen. Und die
       Präsidentin profitiert von der guten Stimmung im Land, ausgelöst von
       Zehntausenden gut gelaunten Besuchern und von Spielen, die an Spannung kaum
       zu überbieten sind.
       
       Genüsslich erklären viele PT-Politiker zur WM-Halbzeit, dass die Rechnung
       der Rechten nicht aufgegangen sei: Sie hätten im Vorfeld alles
       schwarzgemalt und müssten jetzt tatenlos zusehen, wie das Land feiert und
       Rousseff die verloren geglaubten Früchte des Spektakels erntet. Zumindest
       solange die Seleção dabei ist. Sie ist eine der Schwachstellen der
       Gastgeber, für die aber die Politik nichts kann. Ein Ausscheiden in der
       Endphase würde nicht auf Rousseff zurückfallen.
       
       Das alles ändert nichts daran, dass die berechtigte Kritik der Straße an
       den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen bei der Vorbereitung der WM und
       an den Missständen im Land die Politik ins Mark getroffen hat. Wenn nach
       dem Ende der Weltmeisterschaft der Wahlkampf beginnt, werden viele der
       Themen wieder auf den Tisch kommen. Dann kann Rousseff beruhigt wieder in
       die Offensive gehen: Die PT ist keineswegs korrupter als die anderen
       Parteien. Und für soziale Probleme hat sie immer noch bessere Konzepte als
       die Rechte. Die meisten wissen das. Noch immer hat die Amtsinhaberin
       doppelt so hohe Umfragewerte wie ihr wichtigster Widersacher Aécio Neves.
       
       29 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Behn
       
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