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       # taz.de -- Italienischer Journalist über die WM: „Immer dieses Jammern“
       
       > Marco d’Eramo spricht über den Biss des Turniers, das Ausscheiden der
       > Squadra Azzurra und Chiles Frühstück namens Neymar.
       
   IMG Bild: Italiens Torhüter Gianluigi Buffon und Trainer Cesare Prandelli betrauern sich gegenseitig.
       
       taz: Herr d’Eramo, was ist los mit der italienischen Nationalmannschaft ? 
       
       Marco d’Eramo: Ganz genau weiß ich es auch nicht. Aber schon das Spiel der
       Azzurri gegen Costa Rica war das scheußlichste Spiel der WM. Da war gar
       nichts, kein Zug zum Tor – vor allem im Vergleich zur Partie Deutschland
       gegen Ghana, die sehr unterhaltsam war. Die Italiener waren arrogant, ohne
       Schwung.
       
       Dabei hatten sie mit Cesare Prandelli einen so sympathischen Trainer –
       gerade im Vergleich zu Marcello Lippi 2006. 
       
       Aber Lippi war als Vereinstrainer sehr erfolgreich, Prandelli hat noch
       nichts gewonnen. Vor allem hatte er keine Idee, seine Entscheidungen waren
       wirr. Schon die Freundschaftsspiele waren alle schlecht, die Qualifikation
       war leicht. Ich habe kein einziges Spiel gesehen, das mir Spaß gemacht
       hätte. Zu viel Theater, immer dieses Jammern, die vielen Fouls.
       
       Hatten die Spieler ein mentales oder ein physisches Problem? War es zu
       heiß? 
       
       Brasilien ist für alle gleich. Das ist die italienische Tendenz, Ausreden
       zu suchen, sich über den Schiedsrichter zu beklagen. Aber in zwei Spielen
       haben sie praktisch nie aufs Tor geschossen.
       
       Ist also wieder der schwarze Mann schuld? 
       
       Nein. Mario Balotelli kann halt nicht von seiner Rolle als Bad Boy lassen.
       Aber er ist ganz bestimmt nicht allein schuld am Ausscheiden. Auch der vor
       Turnierbeginn heiliggesprochene Pirlo hat viele Fehlpässe gespielt, er war
       das italienische Äquivalent zu Xavi. Es geht bei Balotelli diesmal nicht um
       Rassismus. Es geht darum, dass er mit 23 Jahren seine große Zukunft quasi
       schon hinter sich hat, dass er nie eingelöst hat, was von ihm erwartet
       wurde. Er hat noch nichts gewonnen.
       
       Er beißt nicht. 
       
       Genau. Wobei man sagen muss, dass Chiellini sich den Biss von Suárez auch
       verdient hat – mehr als die anderen beiden, die Suárez schon gebissen hat.
       Man weiß nicht, welcher Raptus von ihm Besitz ergreift, wenn er das tut. Er
       ist ein so großer Spieler!
       
       Wofür steht diese italienische Mannschaft? Kann man von ihr zurückschließen
       auf den Zustand der Gesellschaft? 
       
       Eher nicht. Man kann nicht sagen, dass eine Nationalmannschaft gewinnt,
       wenn es der Gesellschaft gut geht. In Italien waren die 1960er Jahre die
       wirtschaftlich beste Zeit – und da haben die Azzurri gar nichts gewonnen,
       Frankreich wurde 1998 Weltmeister, als es dem Land nicht gut ging. Woher
       die Spanier all das Geld nehmen, weiß kein Mensch, das ist eine
       Fußballblase, die irgendwann platzen wird. In Italien ist der gesamte
       Profifußball, die Serie A, in der Krise, weil weniger Geld ins Land kommt.
       
       Italien ist fußballerisch nur noch Serie B. 
       
       Ja. Die großen Spieler kommen heute nach Italien, um ihre Karriere
       auslaufen zu lassen, wie Klose. Die gingen früher nach Japan oder zu Cosmos
       New York. Früher hatten wir Maradona, Platini, Matthäus, van Basten,
       Rijkaard. Aber wichtiger ist etwas anderes: Das Land ist wie in einem
       Delirium der Fußballonanie. Alle reden immer und ausschließlich über
       Fußball. Dabei sind die Stadien in Italien leer.
       
       Warum? 
       
       Die Italiener sind faul und schauen die Spiele lieber im Fernsehen. Und
       dann ist es gefährlich, ins Stadion zu gehen. In Italien ist das kein
       Familienvergnügen. Man fühlt sich bedroht. Allerdings sind die Stadien bei
       den Spielen der brasilianischen Liga auch leer, ich war gerade dort.
       
       Was halten Sie von der Seleção? 
       
       Das ist keine wirklich große Mannschaft. Sie sind wie Argentinien. Ohne
       Messi und Neymar läuft bei beiden nicht viel. Aber das Publikum trägt sie
       natürlich. Und wenn sie ausscheiden, wird es für Präsidentin Dilma Rousseff
       schwieriger, die Wahlen im Oktober zu gewinnen. Sie wird es aber wohl
       trotzdem schaffen. Sie hat keine echten Gegner und profitiert noch von der
       Popularität Lulas.
       
       Sprechen wir noch über die afrikanischen Mannschaften: Den allerorten
       vorhergesagten Durchbruch gibt es auch bei dieser WM nicht. 
       
       Das war schon immer „wishful thinking“. Afrika ist immer noch ein von Gott
       verlassener Kontinent. Nur die Chinesen engagieren sich. Das
       bevölkerungsreichste Land ist Nigeria: Im Vergleich zu den Banden dort sind
       die sizilianischen Mafiosi Messdiener. Der Diskurs ist also: Afrika ist so
       kaputt, da sollten sie wenigstens mal Fußballweltmeister werden.
       
       Afrika überschätzt, Spanier und Italiener schon zu Hause, Brasilien und
       Argentinien zu abhängig von ihren Superstars. Klar, wer Weltmeister wird. 
       
       Die Niederlande darf man nicht unterschätzen. Frankreich auch nicht. Und
       Chile gefällt mir sehr gut, die essen Neymar zum Frühstück. Wenn sie
       Brasilien schlagen, können sie Weltmeister werden. Auf jeden Fall gewinnt
       die Mannschaft mit der besten Abwehr: Und da sehe ich Schwächen bei den
       Deutschen.
       
       27 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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