URI: 
       # taz.de -- 50 Jahre Civil Rights Act: Sie hatten einen Traum
       
       > Zwei US-AktivistInnen engagierten sich in den 1960ern in der
       > Bürgerrechtsbewegung. Beide befürchten, dass der Rassismus wieder
       > erstarkt.
       
   IMG Bild: Bürgerrechtler der ersten Stunde: Fleetwood Roberts jr. (83) und Augustine Busbee Pounds (77)
       
       GLENN DALE, MARYLAND taz | „Nie und nimmer“ hätte sich Fleetwood Roberts
       jr. in jenem Frühsommer in Tuskegee, Alabama, die Fortschritte der
       kommenden 50 Jahre vorstellen können: weder die gemischten Schulen noch die
       gewählten schwarzen Amtsträger noch seine eigene Karriere in Washington.
       „Mein Blick in die Zukunft war düster“, sagt er, „es gab keinen Anlass zu
       Optimismus.“
       
       Im Frühsommer 1964 ist der 33-Jährige ein zorniger junger Mann. Er war im
       Koreakrieg, er arbeitet als Physiotherapeut, und seine Frau hat es
       geschafft, als erste schwarze Person eine Anstellung im Rathaus von
       Tuskegee zu bekommen. Aber aus Sorge vor „Nightriders“, die auf Schwarze
       schießen, vermeiden die Eltern von vier kleinen Kindern nächtliche
       Autofahrten.
       
       Mitten im Ort kommt es vor, dass jemand ihn als „Boy“ anspricht. Und wenn
       sich Roberts um eine neue Stelle bewirbt, prüft der Arbeitgeber mit einem
       Telefongespräch, ob seine Stimme „schwarz“ klingt. Anschließend kommt ein
       Brief, in dem es heißt, die Stelle sei „vergeben“.
       
       Dass etwas nicht stimmte, wusste Roberts schon als Kind. Er sah, dass Weiße
       besser leben. Dass „Farbige“ auf den hinteren Bänken der Busse sitzen
       mussten. Das schwarze Kinder nicht im selben Wasser schwimmen durften wie
       Weiße. Und schwarze Erwachsene nur auf den obersten Balkons im Theater
       zugelassen waren, wohin sie über Treppen an der Außenseite des Gebäudes
       steigen mussten.
       
       Wenn er das Haus verließ, gab seine Mutter ihm vorher zu essen und zu
       trinken und schickte ihn auf die Toilette. „Trink kein segregiertes
       Wasser“, mahnte sie, „und geh nicht auf segregierte Toiletten“. Sie wollte
       ihrem Sohn die Erniedrigungen der „Rassentrennung“ ersparen.
       
       ## Prügel für das „N-Wort“
       
       Nach der Rückkehr aus dem Krieg schließt Roberts sich „der Bewegung“ an. Er
       erträgt „den ganzen Mist“ nicht mehr: „Sie senden dich ans andere Ende der
       Welt, um für die Freiheit zu kämpfen, und dann kommst du nach Hause und
       hast keine“, sagt er. Präsident Harry S. Truman hat das Militär
       „integriert“ – alle anderen Institutionen blieben „rassengetrennt“. In der
       Armee hatte Roberts auf engem Raum mit Weißen zusammengelebt. Und erlebt,
       dass weiße Soldaten „verstehen“, wenn sie verprügelt werden, weil sie das
       „N-Wort“ benutzen.
       
       Roberts wird in der NAACP aktiv, der National Association for the
       Advancement of Colored People, die für Gleichberechtigung kämpft. Er fährt
       in ländliche Gemeinden, um anderen Afroamerikanern zu erklären, wie
       Wahlmaschinen funktionieren: „Sie hatten nie zuvor das Recht, zu wählen.“
       Bei einer Demonstration vor einem Hotel, das keine Zimmer an Schwarze
       vermietet, brennt ihm ein Weißer eine Zigarette in die Hand.
       
       1.400 Kilometer weiter nördlich, in der Autostadt Pontiac in Michigan, hat
       Augustine Busbee Pounds zur gleichen Zeit die ärmliche Sozialsiedlung
       verlassen, in der ausschließlich Afroamerikaner wohnen. Die 27-Jährige
       will, dass ihre beiden kleinen Töchter in eine gute Schule gehen. Doch das
       Haus an der Mary Day Avenue, das ihr gefällt und das sie sich leisten kann,
       wollen ihr die Eigentümer nicht verkaufen. Sie haben ein „Block-Abkommen“
       mit den Nachbarn. Es besagt: „keine Schwarzen in unserem Block“.
       
       ## Ein weißer Strohmann hilft
       
       Pounds findet einen Strohmann, der es für sie tut: „Ein Weißer, der die
       Bewegung unterstützt“. Er kauft das Haus für sie. Am ersten Abend im neuen
       Heim – sie hat die Töchter bereits ins Bett gebracht – kommt ein
       unbekannter weißer Mann durch ihren Garten und presst sein Gesicht gegen
       das Fenster.
       
       Pounds robbt zum Telefon und ruft die Polizei um Hilfe. Die kommt. Stellt
       den Mann. Findet heraus, dass er der Sohn des lokalen Richters ist. Und
       bietet der alleinerziehenden Mutter ihren Schutz an. Voraussetzung: sie
       erstattet keine Anzeige. Pounds akzeptiert den Deal. „Ich hatte Kinder“,
       sagt sie.
       
       Pounds arbeitet, studiert, muss viel kämpfen und ist oft wütend. Weil der
       benachbarte Priester zu einer ihrer Töchter sagt: „Du kleine N., wenn du
       noch einmal über meine Wiese gehst, werde ich dich bestrafen.“ Weil der
       angestrebte Platz an der weiterführenden Universität an einen Weißen geht,
       obwohl sie die Auszeichnung als „herausragende Studentin“ an der
       Wirtschaftsschule bekommen hat. Weil alle Tische „reserviert“ sind, wenn
       sie mit anderen schwarzen Bürgerrechtlern in das fast leere Restaurant an
       der Huron-Straße einkehren will.
       
       ## Zweierlei "Rassentrennung"
       
       Die „Rassentrennung“ ist in Michigan nicht so offensichtlich wie in
       Alabama. Während in den Südstaaten Schilder hängen: „Whites only“,
       verstecken sich die Rassisten im Norden hinter Vorwänden. Der Effekt ist
       derselbe. Ein Teil von Pounds Familie ist schon während der „Great
       Migration“ (1910–1960) mit Millionen anderen Afroamerikanern aus dem Süden
       zu den Autofabriken des Nordens gewandert. Als sie 14 ist, zieht auch sie
       mit den Eltern nordwärts. Für das Mädchen, das zuvor in einer
       All-Black-Schule war, ist es ein Schock, dass es plötzlich mit den wenigen
       anderen schwarzen Schülern im Pausenhof in einer Ecke steht, während die
       weißen Kinder miteinander spielen.
       
       Anfang der 1960er wird Pounds aktiv in „der Bewegung“. Martin Luther King
       wird immer populärer. Sie nimmt am Marsch auf Washington teil und
       demonstriert für das Wahlrecht. In Boston führt sie eine Untersuchung von
       Lebensmittelgeschäften durch – und findet heraus, dass die Qualität der
       Waren in schwarzen Stadtteilen schlechter und die Preise höher sind.
       
       „Muss das sein?“, fragt ihre Mutter, als Pounds erneut zu einer
       Demonstration aufbricht und die Kinder absetzt. Die Tochter explodiert:
       „Wenn du dich für die Bürgerrechte eingesetzt hättest, könnte ich mir das
       heute ersparen.“ Es ist das letzte Mal, dass die Mutter das Engagement
       ihrer Tochter kritisiert. Sie, so ist Pounds überzeugt, hat sich weiter
       Sorgen gemacht, aber die Aktivität ihrer Tochter „zu 100 Prozent
       unterstützt“.
       
       ## Grenzen der Gewaltfreiheit
       
       Während Pounds den gewaltfreien Widerstand in Workshops übt, entdeckt
       Roberts in Tuskegee, dass er dafür nicht gemacht ist. Die auf seiner Hand
       ausgedrückte Zigarette gibt den letzten Ausschlag. Er weiß, dass er einen
       derartigen Angriff kein zweites Mal mehr ertragen können würde, ohne
       zurückzuschlagen. Und beschließt, nicht mehr zu Demonstrationen zu gehen.
       
       Nachdem das Bürgerrechtsgesetz in Kraft ist, machen sowohl Pounds als auch
       Roberts Karriere. Sie zieht nach der Dissertation nach Iowa, wo sie in der
       fast komplett weißen State University Dekanin wird – als erste Frau und
       erste Schwarze. Er wechselt nach Washington, arbeitet im
       Gesundheitsministerium und steigt weiter auf. Sie sagt, dass sie für ihren
       Erfolg hart gearbeitet und immer herausragende Leistungen erbracht hat. Er
       ist überzeugt, dass sein Erfolg ohne die Bürgerrechtsbewegung nicht möglich
       gewesen wäre.
       
       2005 lernen sich die beiden einstigen Bürgerrechtler in Maryland kennen und
       freunden sich an. Sie sind inzwischen Nachbarn in Prince George’s County,
       auf halber Strecke zwischen Washington und Baltimore, wo viele Angehörige
       der schwarzen Mittelschicht leben.
       
       ## Leiden unter „anti-black“
       
       Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Zeit als Aktivisten entdecken sie
       Gemeinsamkeiten – im Rückblick auf die früheren und in Hinblick auf die
       aktuellen „Rassenbeziehungen“. „Obama ist mein Kind“, sagt Augustine Busbee
       Pounds, 77. Sie leidet mit, wenn über das aktuelle Staatsoberhaupt der
       Vereinigten Staaten so abschätzig geredet wird wie über keinen
       US-Präsidenten zuvor. Wenn er der „gegenwärtige Bewohner des Weißen Hauses“
       genannt wird. Oder jemand ankündigt: „Wir müssen uns unser Land
       zurücknehmen.“ Für Pounds sind das Symptome von „anti-black“.
       
       Fleetwood Roberts jr., 83, hat private gute Beziehungen zu Weißen. Aber die
       öffentliche Rhetorik – darunter fallen die ebenso falsche wie
       diskriminierende Gleichsetzung von „Lebensmittelmarkenempfängern“ und
       „Schwarzen“ wie auch die Aushöhlung der Wahlgesetzgebung, die aus der
       Bürgerrechtsbewegung hervorgegangen ist – nennt er „schrecklich“. „Rasse“,
       sagt er, „ist ein sehr präsentes Thema.“
       
       19 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR USA
   DIR Bürgerrechtsbewegung
   DIR Black Lives Matter
   DIR Martin Luther King
   DIR USA
   DIR Los Angeles Clippers
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Texte der Schwarzen Poetin Audre Lorde: Schmerz in Produktivität verwandeln
       
       Audre Lorde war „Schwarze Frau, Poetin, Lesbe, Mutter, Liebhaberin,
       Lehrerin, Freundin, Kämpferin“. Sie inspirierte die afrodeutsche Bewegung.
       
   DIR 50 Jahre Martin Luther King in Berlin: Rosa Parks brauchte keinen Führer
       
       Das Haus der Berliner Festspiele erinnerte an Martin Luther Kings Besuch
       der geteilten Stadt vor 50 Jahren. Es gab Reden, Diskussionen und Konzerte.
       
   DIR Gewalt gegen Afroamerikaner in den USA: Die Polizei ist das Problem
       
       Erneut kam ein unschuldiger Afroamerikaner in New York gewaltsam zu Tode.
       Die Strafen für solche Vergehen sind bislang zu gering.
       
   DIR Spielfim über Alltagsrassismus in USA: Nächster Halt, letzter Halt
       
       Ein junger Afroamerikaner wurde im Januar 2009 in Oakland von einem
       Polizisten erschossen. „Nächster Halt: Fruitvale Station“ erzählt seine
       Geschichte.
       
   DIR Rassismus in den USA: Basketballer protestieren
       
       Der Clubchef der Los Angeles Clippers soll sich in einem Telefonat hässlich
       rassistisch geäußert haben. Die Spieler reagieren mit stummem Protest.
       
   DIR Rassismus in New Yorker Polizeieinheit: Die üblichen Verdächtigen
       
       Die New Yorker Polizei gibt eine Einheit zur Überwachung von Muslimen auf.
       Die Ausspähung hatte die Muslime unter einen ständigen Terrorverdacht
       gestellt.