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       # taz.de -- Public Viewing für Blinde: „Erst mal sacken lassen“
       
       > Fußball kann tief gehen, wenn das Geschrei, Geschimpfe und die
       > Besserwisserei wegfallen. Das zeigt sich beim Public Viewing des
       > Hamburger Blindenvereins.
       
   IMG Bild: Fußballgucken für Blinde in Hamburg mit den Kommentatoren Wolf Schmidt (r.) und Jan Möller (M.).
       
       HAMBURG taz | Sabine* bewegt die Lippen, als im Stadion in Salvador da
       Bahia die deutsche Nationalhymne gespielt wird. Sie macht es genau so, wie
       es die Spieler der deutschen Nationalelf tun, obwohl sie die noch nie
       gesehen hat: Sabine ist blind. Für das Auftaktspiel der deutschen
       Mannschaft ist sie zum Public Viewing des Blinden- und
       Sehbehindertenvereins Hamburg gekommen. Zusammen mit rund 25 anderen
       Fußballfans sitzt Sabine im Clubraum des Vereins in Hamburg-Barmbek vor
       einer Leinwand, auf der die Live-Übertragung der ARD läuft. Es gibt eine
       Bar, warmes Licht von oben, Chips und für jeden einen Platz.
       
       Das Public Viewing des Blindenvereins ist der Gegenentwurf zum Public
       Viewing auf dem Hamburger Heiligengeistfeld, das mit einer Kapazität von
       50.000 Besuchern das zweitgrößte in Deutschland nach der Berliner Fanmeile
       ist. Am Heiligengeistfeld kamen die ersten Fans am Montag bereits drei
       Stunden vor Anpfiff, um sich die besten Plätze zu sichern. Die Leinwand
       dort misst 92 Quadratmeter. Moderatoren heizen die Menge an.
       
       Im Clubraum des Blindenvereins ist vor der Leinwand ein Tisch aufgebaut,
       auf der die Verstärkeranlage von Wolf Schmidt und Jan Möller steht: Die
       beiden sind die Live-Kommentatoren, die das Spiel für blinde und
       sehbehinderte Menschen nachvollziehbar machen. Dafür haben sie den Ton der
       ARD so weit heruntergeregelt, dass ihre Stimmen den ARD-Kommentator
       übertönen, die Stadionatmosphäre aber noch zu hören ist.
       
       Schmidt und Möller beschreiben abwechselnd in einem horrenden Tempo, was
       auf dem Spielfeld passiert. Im Unterschied zur Reportage der ARD machen sie
       jederzeit klar, wo der Ball ist: Es ist viel die Rede von „Mittellinie“,
       „Halbfeld“, „Strafraum“, „Seitenaus“, „12-Meter-Pass“ oder „Diagonalball“.
       Wenn es eine Spielunterbrechung gibt in Brasilien, nutzen die Kommentatoren
       die Zeit für eine Art Zeitlupe: „Der Pass von Toni Kroos kommt in die
       Strafraummitte, landet bei Bruno Alves, der den Ball wegschlagen will.
       Müller steht dreißig Zentimeter vor Alves, er blockt den Ball mit dem
       linken Fuß und schießt sofort, mit links, vom Elfmeterpunkt, Patricio kommt
       nicht mehr ran.“
       
       Wer der Beschreibung folgen will, muss die Namen der Spieler so weit
       kennen, dass er sie der jeweiligen Mannschaft zuordnen kann. Zusätzlich zur
       Beschreibung ordnen Schmidt und Möller das Spielgeschehen ein: „Das war ein
       schlimmer Ballverlust von Lahm.“ Oder: „Das ist Standfußball, Deutschland
       erholt sich. Die spielen da wie auf der Playstation, wenn der Gegenspieler
       eingeschlafen ist.“ Bewertet wird nur dann, wenn das Spielgeschehen zu
       schnell oder zu langsam für eine Beschreibung ist.
       
       ## Keine unnötigen Informationen
       
       Was es nicht gibt bei Schmidt und Möller, das sind Informationen, die vom
       Spielgeschehen losgelöst sind: Kein Klatsch vom letzten Training, keine
       Nachrichten von neu geborenen Spielerkindern. Das ist für die blinden
       Zuhörer der große Unterschied zu den Reportagen im Radio: „Im Radio
       erzählen die Kommentatoren auch viel Dinge, die unwichtig sind“, sagt
       Robbie Sandberg vom Vorstand des Vereins. Bei der Schmidt-Möller-Reportage
       „habe ich zumindest das Gefühl, dass ich verstehe, was auf dem Platz vor
       sich geht“.
       
       Sehr wohl transportieren die Kommentatoren auch Gefühle, ziehen das
       Sprechtempo an, heben die Stimme. Der Tor-Schrei bleibt dann allerdings
       alleine im Raum stehen. Er ist auch nur eine Information, die erst mal
       ankommen muss – und dann mit Applaus quittiert wird.
       
       Einige Kilometer weiter am Heiligengeistfeld ist es so, dass die Menge nach
       jedem Tor den Spielstand grölt: „Deutschland zwei – Portugal nuuuuulll“.
       Beim Public Viewing der Blinden gibt es das nicht. Überhaupt ist der
       emotionale Aggregatzustand dieses Publikums anders: Es wird nicht geflucht,
       nicht geschimpft und nicht gewitzelt, weil alle konzentriert zuhören. Es
       ist ein angenehm kontemplatives Fußballerlebnis, frei von Aggressionen,
       schnellen Urteilen und Rechthaberei. Wie er das Spiel fand? „Ich weiß es
       noch nicht“, sagt beispielsweise Tobi, der sich sonst für den FC St. Pauli
       interessiert. „Ich muss das erst mal sacken lassen.“
       
       Spontanes Lob gibt es dagegen für Schmidt und Möller. Die beiden machen
       das, was sie hier vor dem Fernseher machen, normalerweise im Stadion des FC
       St. Pauli. Schmidt ist zudem Trainer der Blindenfußball-Mannschaft des FC
       St. Pauli und Möller arbeitet in der Sportredaktion des NDR. Die Reportagen
       aus dem St.-Pauli-Stadion werden über das Internet gestreamt, was den
       beiden einen gewissen Bekanntheitsgrad unter blinden Fußballfans
       eingebracht hat: Nicht selten nutzen auch blinde Fans anderer Vereine das
       Angebot.
       
       Es war das erste Public Viewing für Blinde in Hamburg, aber es wird nicht
       das letzte gewesen sein: Eine Wiederholung ist geplant, allerdings nicht
       mehr bei dieser WM. Das liegt vor allem daran, dass die Spiele erst so spät
       stattfinden. Der Verein möchte mit der Aktion vor allem junge Leute
       ansprechen. „Fußball ist sehr populär unter Blinden“, sagt Sandberg. „Und
       das Public Viewing ist ein tolles Medium, um Leute zusammenzubringen.“
       
       * Name von der Red. geändert
       
       18 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Irler
       
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