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       # taz.de -- Animationsfilme in Annecy: Ein magischer Findling
       
       > Japanische Altmeister, reduzierte Bildsprache aus Brasilien und viele
       > junge Menschen im Kino: Das Filmfestival von Annecy spezialisiert sich
       > auf Trickfilme.
       
   IMG Bild: Schöne Metaphern für graduelle Abweichungen von der Norm: Szene aus „La petite casserole d'Anatole“ von Éric Montchaud.
       
       Ob das 1960 gegründete Festival International du Film d’Animation
       tatsächlich die weltweit wichtigste Plattform für den Trickfilm ist, lässt
       sich nicht erschöpfend beantworten. In Stuttgart, wo jedes Jahr das
       Internationale Trickfilmfestival stattfindet, sieht man das sicher anders.
       
       Fest steht, dass das Festival in Annecy ausgesprochen jung wirkt. Während
       der knappen Woche werden Straßen und Plätze des akkuraten Provinzfleckens
       von jungen Menschen dominiert, in den Kinos herrscht eine ausgelassene
       Atmosphäre. Anders als in Deutschland wird in Frankreich das Kino insgesamt
       ja als wichtige Nationalkultur wahrgenommen. Hier werden ungleich mehr
       Filme produziert als bei uns; auch Animationsfilme, sowohl abendfüllende
       als auch kurze.
       
       Besonderer Wert wird auf eine breite Nachwuchsförderung gelegt. Dies
       betrifft alle filmischen Bereiche. Animationsfilm wird in zahlreichen
       Universitäten unterrichtet und praktiziert. Nach der Ausbildung finden
       viele der Absolventen weiter ein Auskommen. Es machte den Eindruck, als sei
       für jeden dieser Studierenden und Absolventen die Reise nach Annecy ein
       unbedingter Pflichttermin. So wird das Festival in der Region Savoyen für
       ein paar Tage zum authentischen Ausdruck einer pulsierenden cineastischen
       Szene – das kann schon etwas neidisch stimmen, denn dies gibt es bei uns so
       nicht.
       
       Neben den Wettbewerben im Kurz- und Langfilm bot Annecy in diesem Jahr
       zahlreiche Sonderprogramme, Konzerte, Ausstellungen, Panels und Workshops.
       Mit dem Mifa (Marché international du Film d’Animation) gibt es zudem einen
       stark frequentierten Filmmarkt, auf dem marktbeherrschende Konzerne ebenso
       vertreten sind wie die zahlreichen fernöstlichen und indischen Firmen oder
       europäische und nordamerikanische Indies. Auf der großen Festwiese direkt
       am Lac du Annecy trudelten allabendlich Tausende von Filmfans ein, um den
       Open-Air-Vorführungen in volksfestartiger Atmosphäre beizuwohnen. Auch die
       WM konnte dem nicht ernsthaft Konkurrenz machen.
       
       ## Im Bambuswald
       
       Eröffnet wurde das Festival mit „Kaguya-Hime Ne Monogatari“ („The Tale of
       the Princess Kaguya“) des japanischen Altmeisters Isao Takahata. In diesem
       wunderbar altmodisch animierten Märchen findet ein betagter Holzfäller im
       Bambuswald eine Mondprinzessin, um die er sich mit seiner Frau
       kümmert.Durch den magischen Findling kommt das Paar zu Glück und Wohlstand,
       erlebt bald aber auch Missgunst und Schmerz. Das alles ist mit viel Liebe
       inszeniert, erschöpft sich aber mitunter (zumindest für europäische
       Sehgewohnheiten) im endlos wirkenden Zelebrieren ritueller Handlungen.
       
       Produziert wurde der Film im legendären Ghibli Studio in Tokio. Dessen
       Mastermind Hayao Miyazaki wurde in Annecy ebenfalls mit einer
       Sondervorführung geehrt. Das als sein letzter Film angekündigte Werk „Kaze
       Tachinu“ („Wie der Wind sich hebt“) kommt demnächst auch bei uns ins Kino.
       Miyazaki wird für seine visionären Bilderwelten voller Fabelwesen und
       unberechenbaren mythischen Reisen weltweit geliebt. Es ist ein wenig
       schade, dass er mit seinem Abschiedsfilm nun fast realistisch wird. Denn
       die meisten Szenen hätten auch in einem normal fotografierten Film ihren
       Platz finden können.
       
       ## Genie der Luftfahrt
       
       Die Geschichte seines Helden Jiro, der sich vom wissbegierigen Knaben zum
       genialischen Luftfahrtingenieur entwickelt, krankt etwas unter der
       Ausblendung historischer und politischer Zusammenhänge. Fast scheint es,
       als sei Jiro ein Opfer der Zeit und nicht deren integraler Bestandteil.
       Obwohl das Ghibli Studio also etwas enttäuschte, war es sehr schön, diese
       strikten Anti-Disney-Entwürfe auf der Leinwand zu erleben. Hollywood war in
       Annecy ebenfalls stark präsent, ging aber bei den Preisen leer aus.
       
       Den Haupt- und Publikumspreis als bester Langfilm gewann „O Menino e o
       Mundo“ („Der Junge und die Welt“) des 1971 geborenen Brasilianers Alê
       Abreu. In bemerkenswert reduzierten Bildern begleitet er einen Jungen aus
       klammen Verhältnissen, der, seinen Vater vermissend, die Welt für sich
       entdeckt. Mit universellen Themen setzten sich auch viele sehenswerte
       Kurzfilme auseinander. „La petite casserole d’Anatole“ („Die kleine Pfanne
       von Anatol“) von Éric Montchaud (Frankreich) findet schöne Metaphern für
       graduelle Abweichungen von der Norm und für Wege zur Integration.
       
       „Nul poisson où aller“ („Kein Fisch, zu dem man gehen könnte“) von Nicola
       Lemay und Janice Nadeau (Kanada) zeigt anhand lose verknüpfter
       Kleinstadtanekdoten, wie dünn das Eis der Zivilisation ist und wie schnell
       das „normale Leben“ in Terror und Willkür umschlägt. Die kindliche
       Perspektive und die scheinbar einfachen Animationen entfalten in nur zwölf
       Minuten einen komplexen Raum menschlicher Größe und Abgründe.
       
       18 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Löser
       
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