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       # taz.de -- Ein Dorf verschwindet: Der lange Kampf um Altenwerder
       
       > Da, wo früher das Fischerdorf Altenwerder war, steht heute ein
       > Containerterminal. Der Bauer Manfred Brandt hat dagegen geklagt.
       
   IMG Bild: Nur die Kirche steht noch: Altenwerder am 10.07.2001.
       
       HAMBURG taz | Da liegen sie, die Symbole des globalisierten Warenverkehrs.
       Hohe Containerstapel, bis zu 30.000 Stahlkisten neben- und übereinander,
       rund drei Millionen übers Jahr, 110 Meter hohe Containerbrücken gleiten mit
       tonnenschweren Boxen in ihren stählernen Klauen vom Schiff zum Land, vom
       Land zum Schiff. „Hier hatte ich früher Vieh zu stehen“, sagt Manfred
       Brandt.
       
       Vom Moorburger Berg, einem 22 Meter hohen Hügel aus ausgebaggerten
       Elbsedimenten am Hamburger Hafen, schaut er auf das Containerterminal
       Altenwerder hinab. Seit zwölf Jahren ist es in Betrieb, nächste Woche wird
       sich das Verwaltungsgericht Hamburg damit befassen. Ab Dienstag verhandelt
       es über die Frage, ob der Abriss des Fischerdorfes Altenwerder, das zuvor
       dort stand, überhaupt rechtmäßig war.
       
       Vor 19 Jahren hatte Manfred Brandt, der Landwirt aus dem angrenzenden
       Dörfchen Moorburg, seine Klage eingereicht. Er selbst findet es „absurd“,
       dass erst nach fast zwei Jahrzehnten die Verhandlung in erster Instanz
       beginnt. Und deshalb rechnet Brandt auch nicht ernsthaft damit, dass im
       Erfolgsfall das Terminal wieder abgerissen werden muss. Ihm geht es ums
       rechtsstaatliche Prinzip und um die Frage, „ob Dörfer auf Vorrat
       plattgemacht werden dürfen“.
       
       Denn nach Altenwerder soll Brandts Dorf dran sein: Moorburg ist vor gut 30
       Jahren vom Hamburger Senat ebenfalls zum Hafenerweiterungsgebiet erklärt
       worden und ist noch immer „als Option unverzichtbar“, wie die
       Wirtschaftsbehörde auf Nachfrage bestätigt. Deshalb gilt dort eine
       Veränderungssperre, verkaufen darf man nur an die Stadt, in neue Heizungen
       zu investieren ist riskant, weil niemand weiß, wie lange das Dorf noch
       existiert. „Moorburg blutet langsam aus“, sagt Manfred Brandt, das sei ein
       ganz langsamer und schleichender Tod.
       
       ## Eine Keimzelle der Öko-Bewegung
       
       In den 1970er- und 1980er-Jahren war der Kampf um das Bauern- und
       Fischerdorf Altenwerder an der Süderelbe eine der Keimzellen der
       Ökologiebewegung, nicht nur in Hamburg. Viele Linke und Alternative fanden
       hier ihre damaligen Lieblingsklischees: Böse Bosse und korrupte Politiker,
       die aus Profitgier Natur und Traditionen zerstören, einerseits;
       reetgedeckte Fachwerkhäuschen am Fluss, Fischerboote, Schafherden und
       Obstbäume, die vom autarken biodynamischem Leben träumen ließen,
       andererseits. Das Altenwerder Fischerfest im Sommer wurde zum Karneval des
       Widerstandes, zum Treffpunkt und Infoplatz der norddeutschen
       Umweltbewegung. Im August 1981 etwa demonstrierten rund 60.000 Menschen an
       und auf der Elbe für den Erhalt des Dorfes.
       
       Auch die Hamburger Grünen, die sich damals als Grün-Alternative Liste (GAL)
       gründeten und 1982 erstmals in die Bürgerschaft einzogen, sind
       programmatisch und in ihrer personellen Erstbesetzung ohne Altenwerder
       nicht zu denken. Der Altenwerder Fischer Heinz Oestmann (siehe Porträt
       Seite 43) wurde ebenso zur Symbolfigur des Widerstands wie die Moorburger
       Lehrerin Thea Bock, die viele Jahre für die Grünen in der Bürgerschaft saß
       und später für die SPD im Bundestag; der sprachgewaltige Thomas Ebermann,
       ebenfalls zeitweise Abgeordneter in Bürgerschaft und Bundestag, gehörte
       dazu, auch Angelika Birk, später grüne Wohnungsbauministerin in
       Schleswig-Holstein, und schließlich Ulla Jelpke, die nach ihrer Hamburger
       Politzeit inzwischen für die NRW-Linke im Bundestag sitzt. Sie alle kamen
       und gingen. Manfred Brandt, der gebürtige Moorburger, ist geblieben.
       
       Auch vor Gericht ist er der letzte seiner Art. 40 KlägerInnen waren es, die
       1995 vor Gericht zogen, Privatpersonen, Betroffene, Umweltverbände. Einer
       nach dem anderen stieg aus. Manche einigten sich mit der Stadt auf eine
       Entschädigung, einige sind zwischenzeitlich verstorben, der vorletzte
       Kläger gab vor einem Jahr auf. „Hamburg macht Druck, bis die Leute
       psychisch am Ende sind“, sagt Brandt, „der Rest wird mit Geld erledigt.“
       
       ## Brandt will sich nicht abspeisen lassen
       
       Er ist niemandem böse, der aufgegeben oder Ausgleichszahlungen akzeptiert
       hat, aber sein Weg ist das nicht. Es habe nie ein faires Verfahren gegeben,
       sagt Brandt, und so lasse er sich nicht abspeisen. Dass Leute wie er als
       Querköpfe betrachtet würden, könne schon sein, sagt er. Aber er wirkt nicht
       so, als ob ihn das beeindrucken könnte.
       
       Manfred Brandt ist ein Unbeirrbarer. Seit vielen Jahren ist er einer der
       führenden Köpfe des Hamburger Vereins „Mehr Demokratie“, der im Stadtstaat
       die Volksgesetzgebung, verbindliche Volksentscheide und ein neues Wahlrecht
       durchsetzte. Mit Bürgerschaftsabgeordneten und Bürgermeistern hat Brandt
       nächtelang verhandelt, und in großen Teilen haben er und „Mehr Demokratie“
       sich durchgesetzt. Nicht zuletzt deshalb, weil Brandt hält, was er zugesagt
       hat, weil er zu denen gehört, die nachdenken, bevor sie reden, und weil er
       so leise spricht, dass alle an seinen Lippen hängen, um ihn verstehen zu
       können. Für die Frage, ob das ein bewusster Trick sei, hat Manfred Brandt
       nur ein leises Lächeln übrig.
       
       Der Resthof des 68-jährigen Agrarwissenschaftlers liegt kaum 200 Meter
       Luftlinie vom Containerterminal entfernt, dazwischen verhindert der
       Moorburger Berg die Sicht, nicht aber die Geräusche. Brandt klagt wegen des
       Lärms und der Wertminderung der Grundstücke, aber auch aus Prinzip. Bei den
       Planungen seien Alternativen nie ernsthaft geprüft worden, deshalb sei das
       Hafenentwicklungsgesetz als Rechtsgrundlage hinfällig. Statt Altenwerder zu
       planieren, hätte der Terminal Waltershof an der Norderelbe ausgebaut werden
       können, argumentiert Brandt.
       
       Und das könnte in der Tat ein rechtlich zu würdigender Aspekt sein. Nach
       dem neuen Hafenentwicklungsplan vom Dezember 2012 soll der Hamburger Hafen
       bis 2025 in mehreren Schritten „flächenschonend nach innen erweitert
       werden“, wie der parteilose Wirtschaftssenator Frank Horch bei der
       Präsentation sagte. So würden die Terminals Tollerort und Altenwerder auf
       je vier Millionen Standardcontainer ausgebaut werden, Burchardkai und eben
       Waltershof auf jeweils sechs Millionen.
       
       ## "Auf Vorrat vernichtet"
       
       Da ist die Frage, warum die anderen drei Terminals nicht schon früher
       erweitert worden sind, ohne Altenwerder anzutasten – nach dem
       Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel keine ganz
       uninteressante Frage. Für Brandt ist das klar: „Altenwerder ist auf Vorrat
       vernichtet worden, das ist nicht rechtmäßig.“
       
       Das Todesurteil war am 23. September 1996 verhängt worden. Das Dorf
       Altenwerder dürfe, verkündete damals das Hamburgische
       Oberverwaltungsgericht (OVG), ab sofort von Baggern zerstört und in ein
       Containerterminal verwandelt werden, der Baustopp aus erster Instanz wurde
       aufgehoben. Die Abwägung zwischen den konkurrierenden Belangen sei „in
       allen Punkten rechtsfehlerfrei“, befand das OVG. Altenwerder sei als
       Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen, eine andere Nutzung als zu
       Hafenzwecken sei früher oder später „unrealistisch“.
       
       Sogar die im Bundesnaturschutzgesetz geregelte Pflicht zu ökologischen
       Ausgleichsmaßnahmen fand das OVG nicht weiter relevant. Als das Gesetz
       verabschiedet wurde, habe die Planung für Altenwerder längst vorgelegen,
       weshalb es keinen Anspruch auf naturnahen Ersatz gebe. Es reiche, dass die
       in Aussicht gestellte Ersatzmaßnahme, die Öffnung der Alten Süderelbe,
       „möglich“ sei. Eine Garantie dafür sei nicht nötig. Außerdem könne die
       Vernichtung des Biotops auch durch Geldzahlungen beglichen werden.
       
       So kam es dann auch: die Aufwertung des Altarms erfolgte nicht, aber Geld
       floss. 2008 zog der Umweltverband BUND seine Klage gegen Altenwerder
       zurück, nachdem er einen Vergleich mit der Stadt geschlossen hatte. Die
       zahlte 5,9 Millionen Euro in eine Stiftung ein, die Ausgleichsflächen
       aufkauft und ökologisch aufwertet.
       
       ## Übrig sind nur die Kirche und der Friedhof
       
       Unmittelbar nach dem Richterspruch begann die Planierung des 700 Jahre
       alten Fischerdorfes, 1998 wurde das letzte Haus abgerissen, 1999 startete
       der Bau des Terminals. Übrig sind einzig die Kirche St. Getrud und die
       Gräber des Friedhofs geblieben. Umgeben von Erlen, Weiden und verwilderten
       Obstbäumen liegen sie wie Inseln in der Zeit zwischen dem Containerterminal
       und der Autobahn A 7. Im Norden steht die Köhlbrandbrücke, im Südosten das
       Kohlekraftwerk Moorburg, in unmittelbarer Nachbarschaft drehen sich seit
       2008 die beiden größten und stärksten Windkraftanlagen Hamburgs, 198 Meter
       hoch, sechs Megawatt Leistung, genug für 15.000 Haushalte.
       
       St. Gertrud ist die vierte Kirche an dieser Stelle, nach 1831 erbaut,
       inzwischen rechtlich der Hafenverwaltung Hamburg Port Authority (HPA)
       unterstellt, mitbetreut von der Thomas-Gemeinde in Harburg-Hausbruch.
       Zweimal im Monat finden hier noch Gottesdienste mit Kirchencafé statt, die
       Baumblütenkonzerte an sommerlichen Sonntagnachmittagen können gegen eine
       Spende besucht werden, Taufen und Trauungen sind weiterhin möglich.
       Trauerfeiern hingegen nicht mehr, der jüngste Grabstein datiert von
       September 1998, als das letzte Haus im Dorf vom Erdboden verschwand.
       
       Ob das Gerichtsverfahren, das am Dienstag beginnt, nach 19 Jahren Wartezeit
       überhaupt noch sinnvoll sei, kann Gerichtssprecher Andreas Lambiris „nicht
       in einem Satz beantworten“. Sicher sei, dass die Kläger untereinander über
       ihr Vorgehen und ihre Prozesstaktik nicht immer einig gewesen seien, eine
       stattliche Anzahl an Befangenheitsanträgen habe die Sache immer wieder
       verzögert, Personalwechsel in der Kammer – eins kam zum anderen. Aber auch
       die Kläger hätten „nicht gerade gedrängelt“, sagt Lambiris. Nun habe ein
       neuer Vorsitzender es für zweckmäßig erachtet, über die Klage von Manfred
       Brandt die Verhandlung zu eröffnen.
       
       Der freut sich, dass er das noch erleben darf.
       
       Unseren ganzen Schwerpunkt über das verschwundene Dorf lesen Sie in der
       taz.am Wochenende oder [1][hier]
       
       13 Jun 2014
       
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