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       # taz.de -- DFB-Trainer Joachim Löw: Der glücklose Revoluzzer
       
       > Jogi Löw wollte Deutschlands Fußballwelt fundamental verschönern – und
       > droht nun zu scheitern. Nur die Vermarktung läuft auf Hochtouren.
       
   IMG Bild: Jogi Löw, dem Schnöseltum so nah
       
       SANTO ANDRÉ taz | Am Anfang stand eine Revolution. Sie fand etwas abseits
       im Stadion von Servette Genf statt. Der Oberrevoluzzer hörte auf den Namen
       Jogi, trug kurze schwarze Hosen und bimste deutschen Fußballern die Moderne
       ein. Viererkette war plötzlich angesagt. Schnellspielen. Pässe in die
       Tiefe. One-touch-Fußball. Joachim Löw, der auf dem Platz die Arbeit von
       Jürgen Klinsmann, dem Teamchef, machte, schwärmte von Arrigo Sacchi, der
       Trainerlegende, die den AC Milan von 1987 bis 1991 auf den Olymp des
       Fußballs geführt hatte.
       
       Der AC Milan hatte es einmal geschafft, den Gegner 35-mal in zwanzig
       Minuten ins Abseits zu stellen, bemerkte Löw auf Pressekonferenzen, die im
       Jahre 2006 manchmal noch den Charakter eines fußballerischen Proseminars
       hatten: „Mailands Gegner wusste gar nicht mehr, wo er den Ball hinspielen
       sollte, so verunsichert waren die.“ Die gegnerische Elf dominieren,
       verblüffen, an der Nase herumführen – diese Art des Fußballs schwebte Löw
       vor. Er klammert sich bis heute schicksalhaft an diese Vision.
       
       Das war überhaupt nicht deutsch. Erst wenn der letzte Grashalm mit einem
       Stollenschuh aus Herzogenauracher Produktion plattgewalzt worden war, ging
       der deutsche Abwehrschrat in seine Eckkneipe, zündete sich an der Bar eine
       Fluppe an und genehmigte sich ein kühles Helles. Die Malocher waren
       ziemlich erfolgreich, weil sie ihre Erfrischungen brunnentief aus einem
       Reservoir deutscher Fußballtraditionen schöpfen konnten. Und weil es
       daneben immer schon ein paar Hochbegabte gab. Aber Löw und Klinsmann
       wollten etwas Neues erfinden.
       
       Sie begriffen sich als Ästheten. Warum an Kleinigkeiten herum frickeln,
       wenn man einen Paradigmenwechsel herbeiführen kann, einen neuen Standard im
       deutschen Fußball mit superprofessionellen Methoden und dem letzten Schrei
       aus der Fußballfibel? Mit Trainingswissenschaftlern, Psychologen,
       Ernährungsberatern, Taktikanalytikern aus der Schweiz, Fitnessspezialisten
       aus den USA und einer Nachwuchsarbeit, die höchsten spanischen oder
       niederländischen, jedenfalls internationalen Ansprüchen genügen sollte.
       
       Dem deutschen Fußball wurde im Umfeld einer globalisierten Wirtschaft und
       eines entfesselten Marktes die Provinzialität, das vermeintlich
       Kleingeistige ausgetrieben. Dazu berufen fühlte sich auch Oliver Bierhoff,
       der 25 Semester Betriebswirtschaftslehre in Hagen studiert hatte. In seiner
       Funktion als Vermarktungsoffizier der deutschen Nationalelf formte er
       gemeinsam mit Jogi Löw aus dem DFB-Trupp nicht nur eine Ausbildungsstätte
       respektive Wohlfühloase für Tikitaka-Trickser, sondern auch eine PR- und
       Werbeagentur. Kurzum: Aus der Nationalmannschaft wurde ein globales
       Medienunternehmen mit angeschlossenem Spielbetrieb.
       
       ## Die Marke DFB-Team
       
       Alle Bemühungen um die Ästhetisierung des Fußballs gipfeln aber in einem
       Punkt: der der Vermarktung des Ballsports. Je besser das mit dem Tikitaka
       und der Begeisterungsfähigkeit der Deutschen klappte, desto wertvoller
       wurde die Marke Nationalmannschaft. „Markenbotschafter“ Bierhoff,
       Fürsprecher der neoliberalen Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“,
       verkündete so manchen „Sponsorendeal“ mit einem „Premiumpartner“.
       
       Man wirbt für Bier, weil das nun mal das beliebteste Fußballfangetränk ist.
       Reklame für exklusive Uhren, Kreditinstitute und Kosmetikprodukte trifft
       aber viel direkter den Zeitgeist einer Fußballmannschaft, die sich mehr und
       mehr aus kickenden Avataren zusammensetzt.
       
       Es dürfte die Nationalspieler gefreut haben, dass man jetzt nicht mehr an
       den Schluchsee zur Vorbereitung auf ein großes Turnier fährt, sondern nach
       Sardinien oder Südtirol in Fünf-Sterne-Anlagen. Wie soll man einem
       Millionenverdiener auch erklären, dass er sich mit Sportheim-Standard
       zufriedenzugeben hat? Heute sind nicht nur 23 Spieler und ein paar Trainer
       bei einer WM zusammen. Der DFB reist mit fast 70 Leuten nach Brasilien und
       gibt etwa 20 Millionen Euro allein für diese Unternehmung aus. Und wenn die
       Unterkunft nicht passt, dann baut man sich wie in Santo André eben selbst
       eine an Brasiliens Atlantikküste, um es für einige Wochen schön zu haben.
       
       Die Revolution, von Löw angestoßen als technisch-taktischer Umbruch, droht
       freilich, in Stagnation und bisweilen auch in Schnöseltum umzuschlagen.
       Bierhoff erscheint in seinem BWL-Sprech nur mehr als Karikatur eines
       Fußballverkäufers. Die Spieler haben sich im Elfenbeinturm ihrer sportiven
       Extraklasse recht bequem eingerichtet. Coach Löw versucht derweil tapfer,
       als ein Muster an Authentizität zu gelten. War er nicht immer ein ehrlicher
       Mittler zwischen den turmhohen Ansprüchen der Öffentlichkeit und dem wahren
       Leistungsvermögen des DFB-Teams? Ja, schon. Aber. Er, der seit 2004 im DFB
       Verantwortung trägt, hat noch immer keinen Titel mit der DFB-Elf gewonnen.
       
       ## Unrhythmische Schwingungen
       
       Und diesmal? Es ist zu einem Spiel geworden, die Chancen der Auswahl
       herunterzurechnen. Auch die langjährigen Begleiter der Nationalmannschaft
       haben unrhythmische Schwingungen im Kreis unserer Fußballelite
       wahrgenommen. Die FAZ glaubt, dass in der Auswahl das Gespür für die
       Situation abhanden gekommen ist. Die richtigen Worte würden nicht mehr
       gefunden, die Bodenhaftung sei verloren gegangen. Das Team lebe nur noch in
       seiner eigenen, abgeschotteten Welt.
       
       Noch krasser beurteilte die Berliner Zeitung schon vor einiger Zeit die
       Lage: „Ein Biotop für altkluge Neureiche ist hier scheinbar entstanden, bei
       denen der Sinn fürs Ganze abhanden gekommen ist, bei denen Kritik nur die
       Eitelkeit, nicht den Ehrgeiz provoziert.“ Manchmal nutzen sich die tollsten
       Ideen, die besten Absichten im Laufe der Jahre ab. Auch Löw, der glücklose
       Revoluzzer, ist davor nicht gefeit.
       
       Es ist die Summe der Kleinbeträge, die hier zu Buche schlägt und die Kritik
       befeuert. Im Stadion von St. Pauli ließ der DFB-Tross den Schriftzug „Kein
       Fußball den Faschisten“ verdecken. Kurz darauf folgte beim Trainingslager
       in Südtirol ein Autounfall mit einem Sponsorenwagen, den Bierhoff so
       kommentiert: Verletzte könne es auch bei einem Fahrradausflug geben.
       
       In einem Videoclip lässt man Toni Kroos munter mit einer „18“ hantieren und
       über diese seine Rückennummer parlieren, obwohl auch der DFB wissen dürfte,
       wofür die Buchstaben in der rechten Szene stehen. Die an sich schon
       bemerkenswerten Vorfälle werden jeweils von einer PR- und
       Kommunikationsstrategie umrahmt, die in ihrer Selbstgefälligkeit
       amateurhaft wirkt.
       
       Dazu kommt: Spieler, die in Journalisten nur noch Claqueure sehen und schon
       mal in eine Hotellobby pinkeln. Ein Verband, der sich als „vierte Macht“ im
       Staate sieht und die Elitekicker vor fast allen Zudringlichkeiten der Fans
       schützt. Freundschafts- und Qualispiele, die nicht mehr so sind wie noch in
       der Hochphase der Nationalmannschaft zwischen 2010 und 2012, als alles,
       wirklich alles möglich schien und die „Internationalmannschaft“, die nicht
       nur inspiriert und schön spielte, sondern auch noch mit Khedira, Klose,
       Podolski oder Özil einen migrantischen Background hatte, zum Liebling der
       Nation aufstieg.
       
       ## Im Abschwung
       
       Berauschend waren manche Spiele bei der WM in Südafrika, großartig etliche
       Kicks in Polen und der Ukraine während der Euro. Aber richtig
       weltmeisterlich war Löws Fußball nie. Immer kam etwas dazwischen, eine
       Zögerlichkeit, ein Verharren, letztlich eine Unreife, die den ganz großen
       Coup verhinderte.
       
       Löw ist aufrichtig genug, den Abschwung der vergangenen zwei Jahre zu
       benennen. Man brauche jetzt mehr Chancen, um Tore zu erzielen. Auch klappe
       das schnelle, direkte Spiel in die Spitze nicht mehr so reibungslos wie
       früher, sagt er. Das Trauma des Italien-Spiels im Halbfinale 2012 wirkt
       nach, natürlich, ebenso das absurde 4:4 gegen Schweden.
       
       Löws offensivfreudige Seidenfüße tun sich notorisch schwer gegen Fußballer,
       die auch mal draufkloppen. Die dazwischen hauen und keine Lust auf die
       Arrigo-Sacchi-artigen-Übertölpelungsaktionen der DFB-Elf haben. All das
       weiß Jogi Löw. Und deswegen moderiert er die Ansprüche an den WM-Titel auch
       eher ab, als dass er sie anheizt.
       
       Die deutsche Auswahl befinde sich allenfalls mit anderen Nationen im
       Windschatten der hoch favorisierten Brasilianer, sagt er. Und wenn er sich
       doch genötigt sieht zu verkünden „Wir wollen Weltmeister werden“, dann
       wirkt das so krampfig wie das Statement von Löws Werbepartner Nivea: Das
       Testimonial sei „die Personifizierung des neuen Männertyps, der sich pflegt
       und auf sein Äußeres achtet, dabei aber nichts an seiner Männlichkeit
       einbüßt.“ Manchmal erstickt eine Revolution auch im Banalen.
       
       14 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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