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       # taz.de -- Debatte Vergewaltigung in den Medien: Täter sind Opfer sind Täter
       
       > Journalisten picken oft heraus, was am besten Schlagzeilen macht. Im
       > Kongo sind es die Vergewaltigungen. Doch die meisten Täter handeln unter
       > Zwang.
       
   IMG Bild: Leben in einer brutalisierten Gesellschaft: Mutmaßliche M23-Rebellen im Kongo.
       
       Unter uns, die wir schon seit vielen Jahren über den Kongo berichten, ist
       ein Running Gag besonders beliebt: „Kommt ein Filmteam in den Dschungel
       geflogen und sucht eine vergewaltigte Frau. Es geht zum Dorfältesten und
       fragt ganz diskret nach. Der bestellt alle Dorfbewohner ein und spricht:
       ’Wer jemals Opfer sexueller Gewalt geworden ist, erhebe sich!‘ Alle stehen
       auf. Auch die Männer.“ Das ist nicht nur ein Witz, sondern auch die bittere
       Wirklichkeit.
       
       Es gibt sie, die Kollegen, die zum ersten Mal im Dschungel aufschlagen, mit
       dem Auftrag Vergewaltigungen zu dokumentieren. Die Gretchenfrage ist dann
       stets: Wie findet man ein Opfer, „am besten eines, das auch noch gut vor
       der Kamera darüber reden kann“? Mir wird diese Frage oft gestellt, gerne
       abends an der Hotelbar. Man verweist diese Kollegen dann an Krankenhäuser
       wie „Heal Africa“ oder das Panzi-Hospital, die haben sich auf sexuelle
       Gewalt spezialisiert. Da liegen Tausende Frauen und Mädchen. Alle Opfer.
       
       Der Kongo gilt in der Medienöffentlichkeit als der Schauplatz schlechthin
       für Vergewaltigung; wer besonders brutale sexuelle Gewalt dokumentieren
       will, reist nach Ostkongo und sucht sich dort seine Opfer. In den meisten
       Berichten wird als Grund für diese maßlose sexuelle Gewalt der
       Rohstoffreichtum des Landes angegeben. Es ginge um Coltan – das Erz, das
       für die Herstellung von Handys gebraucht wird und auf dem Weltmarkt gefragt
       ist. „Hörst du die kongolesischen Frauen in deinem Handy schreien?“ –
       wählte sich einmal eine Aktivistengruppe als Slogan für „fair Phone“. Die
       Opfer werden instrumentalisiert für eine Marketingkampagne und dem
       Verbraucher verklickert: Wenn nur alle faire Smartphones kauften, dann
       müsste im Kongo keine Frau mehr leiden. Schwachsinn.
       
       Es ist die Verantwortung von uns Journalisten, die Zusammenhänge zu
       verstehen. Bei der endemischen sexualisierten Gewalt geht es weder um
       Coltan noch um sexuelle Befriedigung, sondern um eine tief gehende
       strukturelle Gewalt, die nicht nur die Frauen betrifft, sondern alle:
       Kinder, Alte und auch die Männer. Dass stattdessen die Erklärungsmuster
       „Rohstoffe“ und „Handy“ auftauchen zeigt, dass wir unseren Job nicht machen
       und es lieber Aktivisten überlassen, die vermeintlichen Zusammenhänge zu
       erläutern.
       
       ## Alle Dorfgrößen kommen, um Opfer zu präsentieren
       
       Auch ich hatte meinen Running-Gag-Moment. Es war 2011 in dem kleinen
       ostkongolesischen Dorf Luvungi. Die UN hatten gemeldet, dass dort knapp 400
       Frauen in nur drei Tagen vergewaltigt worden waren. Da standen wir also,
       auf dem Fußballfeld mitten im Dorf, wo der Hubschrauber gelandet war. Mit
       Kamera und Notizbuch ausgestattet: auf der Suche nach vergewaltigten
       Frauen.
       
       Die erste Station, wie sollte es anders sein, war der Gemeindevorsteher,
       der wiederum führte uns zum lokalen Polizeichef, der rief den örtlichen
       Armeekommandeur herbei, welcher noch den Pfleger von der örtlichen
       Gesundheitsstation hinzu winkte. Etwa zwölf indische Blauhelmsoldaten
       begleiteten uns auf Schritt und Tritt – zur Sicherheit, denn dies sei
       Rebellengebiet. So endeten wir in einem windschiefen Armeezelt, in welchem
       ein paar Dutzend Männer im Kreis saßen, die uns alle abwechselnd von den
       Vergewaltigungen berichteten, die die Rebellen hier verübt hätten.
       
       „Wollen sie mal sehen, was sie den jungen Mädchen angetan haben?“, fragte
       der Polizeikommissar. Bevor ich antworten konnte, trug eine Frau ein
       4-jähriges Mädchen im rosa Kleidchen hinein. Es bewegte sich nicht und
       wurde wie eine Puppe inmitten der im Kreis sitzenden Männer abgesetzt. Ihre
       inneren Verletzungen seien so stark, dass sie blute und nicht laufen könne.
       „Machen Sie ein Foto!“, sagten die Männer.
       
       Zum Glück hatte der Fotograf schon das Zelt verlassen, und ich ging ihm
       nach. Er war den Hügel hinaufgestapft, um ein paar Panoramaaufnahmen zu
       machen: lauter kleine Dörfer zwischen den Hügeln. Wir sahen Frauen, die die
       Äcker an den Hängen beharkten. Die an Marktständen Tomaten verkauften und
       am Flussufer Wäsche wuschen. Wir sahen Mädchen, die Wasserkanister
       schleppten. Einfach unvorstellbar: Rein rechnerisch konnte bei knapp 400
       Vergewaltigungsopfern keine einzige verschont geblieben sein, kein Mädchen
       und keine Großmutter. Nur ganz wenige Männer waren noch im Dorf. In dieser
       Bürgerkriegsgesellschaft sind Frauen das Rückgrat. Wer die Sozialstruktur
       zerstören will, muss bei ihnen anfangen.
       
       ## 20 Jahre systematischer Terror
       
       Dann kam der Regen, und wir stellten uns unters Vordach einer kleinen
       Lehmhütte. Darin saß eine junge Frau und stillte ihr Baby. Sie winkte uns
       herein. Wir nannten sie später für unseren Bericht Marie, weil wir ihre
       Identität schützen wollten. Sie rief ihre Nachbarinnen zusammen: ein
       16-jähriges Mädchen, das von der Vergewaltigung schwanger geworden war.
       Eine runzelige 79-jährige Großmutter, deren Wickelrock nach Urin roch, weil
       sie als Folge der Vergewaltigung das Wasser nicht mehr halten kann. Sie
       alle wollten reden. Doch nicht nur über jene Nacht der Vergewaltigungen,
       sondern über 20 Jahre systematischen Terror, den sie erfahren haben.
       
       Rebellen, die Raubzüge begehen, die junge Männer entführen, töten. Von
       ihren eigenen Männern, die eine Miliz gegründet haben, um sich zu wehren
       und seitdem im Wald leben und ebenfalls plündern und töten – eine Spirale
       der Rache. Die Vergewaltigungen waren nur die Spitze eines Eisbergs, eine
       Form der Gewalt, neben vielen anderen. Und es betraf nicht nur die Frauen,
       sondern auch die Männer. Über fünfzig Männer wurden ebenfalls Opfer,
       inklusive dem Dorfvorsteher.
       
       Ich schämte mich furchtbar. Das war alles zu kompliziert, um es in der
       Zeitung zu beschreiben. Was Gewalt und Krieg wirklich bedeuten, das wissen
       wir Deutschen überhaupt nicht mehr. Doch im Kongo ist Gewalt wie in allen
       langjährigen Kriegsgebieten ein Normalzustand auf allen gesellschaftlichen
       Ebenen und hat sich über Generationen hochgeschaukelt.
       
       Doch: Warum rammen die Täter den Frauen Macheten in den Unterleib bis sie
       verbluten? Was macht es für einen Sinn, sich eine Großmutter zu nehmen? Was
       hat dieser brutale Gewaltakt mit sexueller Lust zu tun? Wieso geschieht
       dieser Horror so systematisch? Marie hatte keine Antwort darauf: „Wenn Sie
       einmal einen Täter finden, fragen Sie ihn!“
       
       ## Der Penis als Zerstörungsinstrument
       
       Seit dem Drama von Luvungi werden Massenvergewaltigungen als „Kriegswaffe“
       bezeichnet. Der Penis wurde im Erklärungsmuster zum Kanonenrohr, zum
       Zerstörungsinstrument. Neue Statistiken besagten, dass jeder dritte Mann
       ein Täter sei. „Ein Land voller Vergewaltiger“, titelte eine Zeitung. 2012
       verlor die Regierungsarmee eine Schlacht gegen die Rebellen und zog sich
       geschlagen in die Kleinstadt Minova zurück. Dort machten sie sich über die
       Frauen her. Wieder kamen unzählige Journalisten eingeflogen, um die
       Vergewaltigungen zu dokumentieren. Wieder wurden unzählige Maries
       interviewt. Wieder derselbe Running-Gag-Moment. Verflixt.
       
       Im Zuge meiner Recherche besuchte ich in Goma ein Traumazentrum, das sich
       auf Vergewaltigungen spezialisiert hat. Psychologen arbeiteten hier, auch
       deutsche. Die meisten Patienten waren junge Männer. Einer davon war der
       19-jährige Bonerge: Als Sohn eines getöteten Vaters und einer
       vergewaltigten Mutter hatte er sich mit 16 einer Miliz angeschlossen und
       zwar einer, die Luvungi überfallen hatte. Was Bonerge und die anderen
       jungen Männer im Beisein der Psychologen erzählten, ließ mir den Atem
       stocken.
       
       Selbst mehrfach von Kameraden und Kommandeuren vergewaltigt, bekam Bonerge
       als 17-Jähriger den Befehl, keine Frau im Dorf zu verschonen. Wer nicht
       gehorcht, wird exekutiert. Wer keinen hochkriegt, muss sich eines
       Hilfsmittels bedienen: dann kommt der Stock, der Gewehrlauf oder die
       Machete ins Spiel. Mit sexueller Lust und Befriedigung hat das alles nichts
       zu tun. Im Gegenteil. In den jüngst veröffentlichten psychologischen
       Studien steht: 85 Prozent der Täter sind selbst Opfer von Gewalt. 12
       Prozent wurden sexuell missbraucht, meist von ihren Kommandanten. 73
       Prozent wurden gezwungen, Gewalt auszuüben. Dazu gehören auch Kannibalismus
       und Enthauptungen.
       
       Journalisten neigen dazu, sich das herauszupicken, was in den Medien am
       meisten Schlagzeilen macht. Im Kongo sind es die Vergewaltigungen. In
       Norduganda waren es die Kindesentführungen und die abgeschnittenen Lippen,
       in Sierra Leone die abgehackten Hände, in der Zentralafrikanischen Republik
       die Menschenfresser. Doch das sind alles nur Facetten eines riesigen
       Gewaltarsenals. Und die Täter sind Produkte jener brutalisierten
       Gesellschaften. Und selbst Opfer. Wie geht noch mal der Witz? Alle stehen
       auf.
       
       15 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schlindwein
       
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