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       # taz.de -- DJ Hell boykottiert die WM: Copa remixed
       
       > DJ Hell ist seit 20 Jahren regelmäßig in Brasilien. Genauso lang legt er
       > bei laufenden Turnieren in WM-Spielorten auf. Diesmal nicht. Aus Protest.
       
   IMG Bild: DJ Hell bewundert den Fußball an der Copacabana, sieht aber auch die Veränderungen im Stadtbild.
       
       ## 19.–20. November 2013, São Paulo
       
       Über der Stadt stehen Hubschrauber in der Luft. São Paulos Helikopterdichte
       ist die höchste der Welt. Auch die Fifa-Funktionäre werden während der WM
       die meisten Strecken mit den weit über den Wolken schwebenden Lufttaxis
       zurücklegen. Der Weg vom Flughafen ins Zentrum wird ohnehin von einem
       Verkehrschaos versperrt. Die Bauarbeiten an der beidseitig dreispurigen
       Straße schleppen sich wie Minimalbeats in einer Endlosschleife dahin.
       Zwischen den Fahrbahnen quält sich ein verschmutzter Fluss vorwärts.
       
       Für die meisten BrasilianerInnen ist das Infrastruktur-Update anlässlich
       der WM ein „Fake“. Auch der Stadionbau, den man in der Ferne erahnen kann,
       stockt. Der Zeitplan wird immer enger. In der „Arena São Paulo“ im
       Stadtteil Itaquera soll das Eröffnungsspiel stattfinden. Ein Kran wird bald
       auf eine der Tribünen stürzen. Arbeiter werden sterben. Im Mai 2014 wird
       das Stadion immer noch nicht fertig sein.
       
       Jetzt, während die tägliche Rushhour alles blockiert, frisst sich die Sonne
       durch die Scheiben der anruckenden und schnell wieder stoppenden Autos. Der
       Winter walzt mit Temperaturen zwischen 35 und 40 Grad Celsius über eine der
       größten Städte der Südhalbkugel hinweg. Es wird hitzig. Noch wartet das
       Land auf eine WM, auf die sich nur noch die Hälfte seiner Bewohner freut.
       In ein paar Monaten, im Frühjahr und auch während des Turniers wird es neue
       Unruhen, Streiks und Proteste gegen die Regierung geben. Skepsis, Angst und
       Wut werden weiter wachsen. Viele von denen, die es sich leisten können,
       werden von Mitte Juni bis Mitte Juli freinehmen – und Urlaub woanders
       machen.
       
       Ich erreiche nach 1,5 Stunden das Hotel. In den nächsten Tagen verschwinde
       ich in einem Dreieck: Vom Hotel geht es ins Restaurant, vom Restaurant in
       den Club. Irgendwann bringt mich morgens ein Fahrer zurück ins Hotel. DJs
       haben kaum Zeit, die Städte, die sie für eine Nacht bespielen,
       kennenzulernen. Doch hier ist alles anders. Ich liebe dieses Land. Ich bin
       vertraut mit seinen Menschen. Seit fünfzehn Jahren verbringe ich jeweils
       mehrere Monate in Deutschland und mehrere Monate in Brasilien. Ich bin
       wieder zu Hause
       
       ## Bezahlte Proteste gelten als wahrscheinlich
       
       Vor dem Set im Club gehen wir essen. Fleisch wird über offenem Feuer
       gegrillt und vom Spieß direkt auf den Teller geschnitten. Es sind viele
       Freunde da. Menschen, die ich seit langem kenne – aus der Modebranche, aus
       der Kunstszene, aus der brasilianischen Gay-Community. Wir sprechen über
       die Unruhen im Bankenviertel und über die Gerüchte, dass die Opposition für
       Krawall bezahlt. Einige halten das für wahrscheinlich.
       
       Keiner weiß es genau. Auf den Tischen liegen grüne und rote Punkte. Wer
       satt ist, stellt auf Rot. Man warnt mich davor, nachts mit dem Auto in São
       Paulo an roten Ampeln zu halten. Das Risiko eines Überfalls ist hoch: Man
       wird aus dem Wagen gezogen und gekidnappt. Später geht es mit vorgehaltener
       Waffe zum Geldautomaten. Dann wird wieder über Tage hinweg der Kreditrahmen
       ausgeschöpft – bis nichts mehr da ist. Niemand wird verletzt, nur das Geld
       ist weg. Ein sicheres Geschäftsmodell – für die Kidnapper.
       
       Der Club, in dem ich auflege, heißt D-Edge. Es gibt technische Probleme mit
       dem DJ-Set-Up und dem Licht, doch das wird behoben. Die Mittelschicht
       feiert, die gleiche Chemie wie in Deutschland. Die Armen in den Favelas und
       auf der Straße nehmen Crack. Es gibt nichts, was billiger ist. Die
       Elektroszene ist überschaubar, aber sehr enthusiastisch in Brasilien. Eine
       geschlossene Gesellschaft. Minimal, House und Techno sind etabliert. Wenn
       „Made in Berlin“ drauf steht, nehmen es die Leute wichtig.
       
       ## 
       
       Der Flughafen von Brasília ist eine einzige Baustelle.
       Sicherheitskontrollen finden nicht wirklich statt. Ich schaue über ein
       Geländer in der Ankunftshalle. Auf der Etage darunter befindet sich ein
       lehmfarbenes Areal, das einer archäologischen Ausgrabungsstätte gleicht. Es
       werden immer noch neue Bauaufträge vergeben. Der Weg in die Stadt gleicht
       den Bildern aus São Paulo. Wieder Rushhour. Ein Wirrwarr nach Turnierbeginn
       scheint mir spätestens jetzt unumgänglich.
       
       Brasílias zentrales Regierungsviertel selbst ist eine Stadt ohne Leben –
       vor fast sechzig Jahren ins tropische Herz des Landes gebaut. Ein Ort von
       makelloser Ästhetik, „in der Reinheit seiner Formen“ wie es der
       brasilianische Architekt Lúcio Costa einst sagte. Formen ohne Leben – trotz
       Parlament, trotz Uni. Ein lebloses Versprechen, von Stadtplaner Oscar
       Niemeyer in schöne Steine gehauen. 1987 wurde die junge Hauptstadt zum
       Weltkulturerbe der Unesco erklärt. Gebäude alleine schaffen keine Kultur,
       keine Bewegung. Mir fehlen Menschen. Doch, oder gerade deswegen ist das
       erste WM-Stadion hier bereits fertig. Weil es keinen erfolgreichen
       regionalen Klub gibt, wird es nach dem Turnier Teil des Denkmals.
       
       Ich tauche wieder ins Dreieck ab. Doch Brasília kommt ohne Nachtleben aus.
       Der Quito Club, in dem ich später auflege, ist winzig, das Publikum sehr
       jung. Studenten. Im Zentrum der Hauptstadt leben nur Menschen mit Geld.
       Diplomatenkinder tänzeln auf einer Hofparty, die in den tropischen Winter
       hinaus wabert.
       
       ## 
       
       Die Deutschen waren clever bei der Wahl ihrer WM-Trikots. Die rot-schwarzen
       Akzente lieben die Menschen. Es sind die Farben des Klubs Flamengo.
       Überhaupt lieben alle den deutschen Fußball. In Rio habe ich in den letzten
       Jahren die meiste Zeit verbracht. Ich wohne bei Freunden an der Copacabana
       direkt am Meer. Morgens fahre ich mit dem Fahrrad zum Strand, trinke
       frische Kokosmilch und schaue den zahllosen Mannschaften beim
       Beachsoccer-Training am Strand zu.
       
       Zum Baden fahren die Meisten raus aus der Stadt. Der Sand gehört dem
       Fußball, der Ozean ist nur Kulisse. Bewegung, Ball, Beachlife. Ein anderes
       Dreieck, das mir gefällt. Der brasilianische Fußball spiegelt die
       Lebensfreude und Kreativität der Menschen wieder. Will man sie verstehen,
       ihre Hoffnungen und Ängste gleichermaßen, muss man ihnen nur beim Spielen
       zu sehen.
       
       Während der WM wird es hier eng werden. Die Aufgebote von Polizei und
       Militär werden massiv erhöht. „Beach Robbings“ sind an der Tagesordnung:
       Typen, nur mit Badehose und verdunkelten Motorradhelm bekleidet, überfallen
       dich innerhalb von Sekunden, steigen auf ein Motorrad und sind weg. Vor
       zwei Jahren wurde ein guter Freund vor seiner Garage erschossen, der Grund
       ist bis heute unklar. Wahrscheinlich war die Uhr, die er trug, sehr
       wertvoll.
       
       Auf dem Heimweg merke ich, dass mehr und mehr Obdachlose auf den Straßen
       unterwegs sind. Die Polizeipräsenz in den Favelas hat zuletzt merklich
       zugenommen. Ich bin häufig in die Armenviertel an den Berghängen der Stadt
       eingeladen worden und habe dort lokalen Radiosendern Interviews gegeben. In
       kleinen Studios werden auf alten Rechnern neue Tracks für
       „Baily-Funk-Weekend-Partys“ gebastelt. Es wird viel improvisiert. Beats
       werden von den DJs und Producern einzeln in die Tastatur gehackt, gesampelt
       und für die Partys unter freiem Himmel massenhaft kopiert.
       
       Populäre Beats werden den ganzen Sommer gespielt. Eine geschlossene
       Verwertungskette: keine verkauften Songs, keine offiziellen Releases –
       alles ist nur für die Party entwickelt. Weil die Preise in der Stadt wegen
       der WM anziehen, haben Aktivisten eine neue Währung entworfen, den „Rio
       Surreal“. Auf dem Hunderter ist Salvador Dalí zu sehen. Händler, die
       abkassieren wollen, kriegen die Scheine überreicht.
       
       ## 
       
       Die Stadt ist hysterisch. Flamengo Rio de Janeiro gegen Atlético
       Paranaense. Das fußballerische Niveau entspricht etwa der 2. Liga in
       Deutschland. Karneval für einen Tag. Ein Probelauf für die WM in Maracanã.
       Das ganze Spiel ist durchsetzt von Werbeblöcken im TV. Ronaldo macht gerade
       im brasilianischen Fernsehen bei einer Weight-Watchers-Kur mit. Die
       Nachbarn jubeln lautstark und die deutschen Trikots gewinnen.
       
       ## 
       
       Seit zwanzig Jahren toure ich während Europa- und Weltmeisterschaften durch
       die Gastgeberländer. Ich lege in den Städten auf, wo auch gespielt wird.
       Seit fünfzehn Jahren verbringe ich die Wintermonate in Brasilien. Ich habe
       mich darauf gefreut, beides in diesem Jahr zu verbinden. Auch, weil hier
       der Fußball – nachhaltiger als anderswo – einen friedlichen
       Gesellschaftsvertrag symbolisiert.
       
       Hinter der Liebe zum Fußball verbirgt sich das Herz einer freien,
       freundlichen und fröhlichen Kultur. Dieser Kultur wünsche ich den Titel.
       Die WM in Brasilien gehört aber nicht den Menschen, sondern der Fifa. Und
       deswegen werde ich erstmals nicht während der WM im Gastgeberland
       performen. (Protokoll: Jan Scheper)
       
       15 Jun 2014
       
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