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       # taz.de -- Die Wahrheit: Verwählt
       
       > Schwabinger Krawall: Die alte Frau Reibeis agitiert mit einem Tischbein
       > für die Demokratie, bis die Polizei eingreifen muss.
       
       Seit die alte Frau Reibeis vor 16 Jahren – zunächst gegen ihren Willen und
       den Hinweis, sie habe diesen Hitler damals auch schon nicht gewählt – von
       ihrem Wehrdienstverweigerer zum Wählen gebracht und überzeugt worden ist,
       eine ziemlich radikale Randpartei anzukreuzen, ist sie begeisterte
       Demokratin geworden und wählt, wann und wo es nur geht.
       
       Obwohl es noch nie einer der Außenseiter, für die sie in wechselnder Folge
       stimmt, ins Parlament geschafft hat, wird sie nicht müde, andere
       Hausbewohner darauf hinzuweisen, sie müssten ihr Wahlrecht ausüben, schon
       weil zum Beispiel die Menschen in Korea, Mauretanien und Pennsylvanien
       dieses Recht nicht hätten.
       
       Herr Reithofer ist der Belehrungen eines Vormittags so müde, dass ihm der
       Kragen platzt und er Frau Reibeis in lautem Ton erklärt, Mauretanien gebe
       es nicht mehr, in Pennsylvanien dürfe man sogar den Ku-Klux-Klan wählen,
       und die Koreaner könnten ihm auf den Hut steigen, solange sie nicht in der
       Lage seien, ihrem Elektroklimbim lesbare Gebrauchsanweisungen beizulegen.
       Als Frau Reibeis insistiert, brüllt er, beim nächsten Mal werde er zum
       Fleiß diesen Hitler mit der blauen Nase und seine Autofahrer oder
       Antifaschisten oder was immer die Abkürzung bedeute wählen.
       
       Dieser Ausbruch versetzt Frau Reibeis so in Sorge, dass sie am
       Sonntagmorgen ihr Klapptischchen vors Haus stellt, ein Plakat ihrer
       momentanen Lieblingspartei („Keinen Cent dem Großkapital – DKP“) daran
       befestigt und jedem Vorbeikommenden lauthals die „Internationale“
       entgegensingt.
       
       Herr Reithofer, dessen Frau meint, einer 95-Jährigen müsse man solche
       Kleinigkeiten durchgehen lassen, rauft sich die Haare und erwägt den Einbau
       von Schallschutzfenstern. Der von Nachbarn gerufene Hausverwalter Özdogan
       ist sich nicht sicher, ob eine derartige Demonstration auf privatem Grund
       nicht möglicherweise gegen das bayerische Versammlungsrecht verstößt.
       
       Als er daran geht, den Informationsstand abzubauen, eilt Herr Reithofer
       herzu und konstatiert, er lasse nicht zu, dass ein Nicht-EU-Bürger in die
       politische Meinungsbildung eingreife. Herr Özdogan brüllt, er sei
       bayerischer Staatsangehöriger und zur Wahrung der öffentlichen Ordnung
       verpflichtet. Der auf dem Heimweg vom Stammtisch vorbeikommende ehemalige
       Hausmeister Hammler fragt, ob der Fasching jetzt schon im Mai beginne; aus
       diversen Fenstern schallen Rufe, es habe sofort Ruhe einzukehren, sonst
       werde man handgreiflich.
       
       Als die Polizei eintrifft, entwindet sie Frau Reibeis das Tischbein, mit
       dem sie Herrn Özdogan eine Beule an der Stirn zugefügt hat, und erklärt,
       man solle sich nicht aufregen, schließlich habe die Wahl, um die es hier
       gehe, schon längst stattgefunden. Da ist Herr Reithofer ebenso baff wie
       Frau Reibeis, die erklärt, sie werde umgehend eine Bürgerinitiative zur
       Wiedereinführung des Kriegsdienstes gründen, weil eine politisch
       vielbeschäftigte Frau wie sie nicht dreimal am Tag auf den Kalender schauen
       könne und daher das Recht auf einen Wehrdienstverweigerer habe, der sie an
       wichtige Termine erinnere.
       
       12 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sailer
       
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