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       # taz.de -- Überwachungstour durch Berlin: City of Untersuchungsausschuss
       
       > Menschen auszuspähen, hat in Berlin Tradition. Eine Bustour zu
       > historischen Orten der Überwachung – in einer Welt nach Snowden.
       
   IMG Bild: Viel zu große Golfbälle: NSA-Abhörstation am Teufelsberg
       
       Berlin hat diese Stasi-Credibility. „Von Berlin lernen“, gibt Kristoffer
       Gansing also als Parole aus. Er steht ganz vorne im Bus und hat sich ein
       Mikrofon genommen. Berlin als die Stadt mit dem Stasi-Museum, mit der
       BND-Zentrale. Berlin gilt als Hauptstadt des kritischen
       Überwachungsbewusstseins, als Hauptstadt der Snowden-Debatte.
       
       Berlin ist die Stadt, in der jetzt all die digitalen Dissidenten leben
       wollen, die sich in Großbritannien oder den USA nicht sicher fühlen. Von
       Snowden lernen, sagt Kristoffer Gansing. Da fährt der Bus schon die
       Karl-Marx-Allee entlang, die Prachtstraße der DDR, und nähert sich den
       graubraunen Riegeln, in denen die Stasi ihre Unterlagen stapelte.
       
       Kristoffer Gansing stammt aus Schweden, hat in Kopenhagen mit Künstlern
       einen eigenen TV-Kanal betrieben. Jetzt ist er in Berlin und leitet seit
       zwei Jahren das Festival namens „Transmediale“, das auch
       Medienkulturfestival genannt wird. Mit der Schriftstellerin Leslie
       Duntan-Downer, die gerade zu Gast bei der American Academy in der deutschen
       Hauptstadt ist, hat er sich diesen Ausflug ausgedacht. Ein Bus voll
       Menschen betrachtet einen Donnerstag lang die Vergangenheit, um die
       Gegenwart besser zu begreifen. [1][Sie nennen es „Magical Secrecy Tour“].
       
       Im Bus sitzen Musiker, Künstlerinnen, Hacker, Journalisten, ein Agent, eine
       Whistleblowerin, jemand von Amnesty International, jemand von der
       Bundeszentrale für politische Bildung und auch sonst noch so ein paar
       Leute. Ein rolling panel, sagt Kristoffer Gansing vorne ins Mikro. Ein
       rollendes Podium. Eine nicht besonders stabile Diskussionsgrundlage. So ist
       das auch gemeint: Alles soll sich bewegen.
       
       ## Schaut auf diese Stadt
       
       „We have the Untersuchungsausschuss go on as we speak“, sagt Kristoffer
       Gansing. Er wuchtet das Worttrumm dann noch ins Englische, irgendwas mit
       committee, aber für einen Moment wirkt es, als gebe es neben der German
       „Angst“ und dem „Kindergarten“ noch so einen Begriff, den die Welt kennen
       sollte: „Untersuchungsausschuss“. Die Frage, wie, wann und von wo aus
       Edward Snowden vor diesem Untersuchungsausschuss aussagen könnte, macht
       schließlich immer noch Schlagzeilen, auch internationale. Schaut auf diese
       Stadt, wenn ihr was kapieren wollt. Das ist heute der Anspruch. Eine Stadt
       mit einer gewissen Anti-Überwachungs-Hippness. Land of informationelle
       Selbstbestimmung. City of Berghain and Untersuchungsausschuss.
       
       Erster Halt: Stasi-Museum. Die Gruppe betritt die graubraunen Gebäude.
       Dagmar Hovestädt, die Sprecherin der Stasi-Unterlagen-Behörde, liefert eine
       schnelle Geschichtsstunde mit Diashow. Montagsdemos. Sturm auf die Archive.
       180.000 inoffizielle Mitarbeiter. Erich Mielke, der Überwachungsminister,
       der erst nur alles wissen will, was passiert. Und dann auch noch alles,
       bevor es passiert. Stasi-Unterlagen-Gesetz, 48 Paragrafen. Wer soll die
       Akten einsehen dürfen? Die große Frage nach der Öffnung. Jeder seine Akte,
       ist der Kern der Antwort. Und manche die Akten der Täter.
       
       Dann geht es zu den Karteikästen. Hier kann man Überwachung sehen. Sie hat
       Gesichter. Es gibt die, die überwachen, und die, die darunter leiden. Zum
       Anfassen. Karteikästen. Kiloweise Papier, kilometerweit. Zum Ersticken. Was
       wäre wohl in einem NSA-Museum zu sehen, wenn man es in hundert Jahren
       betreten würde, nach dem Untergang der USA? Und wie sehen die Akten aus,
       die in dem ähnlich graubraunen – oder vielleicht doch: braungrauen –
       BND-Gebäude lagern, das genauso klotzig an der Straße ruht wie die
       ausrangierte Stasi-Zentrale? Lagern da überhaupt noch Akten aus Papier?
       
       „Snowden“, sagt Kristoffer Gansing, „hat uns die Beobachter für einen
       Moment beobachten lassen.“ Nur, was genau haben wir gesehen? Dass die Leute
       von der NSA gern in PowerPoint-Präsentationen mit dem angeben, was sie so
       alles können. Auf Folien, die mit ihren bunten Blasen seltsam putzig
       gestaltet sind und nicht so richtig passen zu diesem totalitären Anspruch,
       alles und jeden zu überwachen, möglichst immer und überall. Oder passt das
       sogar ganz gut? Die NSA, ein Verein von PowerPoint-Beamten.
       
       Wir haben es oft mit dem zu tun, was der US-amerikanische Militärphilosoph
       Donald Rumsfeld einmal das unbekannte Unbekannte nannte, „unknown
       unknowns“. Es ging damals um den Irak. Wir ahnen auch jetzt nicht, was wir
       alles noch nicht wissen. Deshalb ist es einfacher, in die Theorie
       auszuweichen und über das Paradox des Beobachters zu diskutieren, der alles
       überwachen können mag, aber sicher nicht alles auf einmal, weil ein Blick
       auf einen Punkt immer das Fehlen des Blicks auf einen anderen ist.
       
       ## Wer ist noch Gut und Böse?
       
       Der Bus fährt nicht nur an der BND-Zentrale vorbei, sondern auch bei der
       Berliner Vertretung von Google, bevor er sich durch den Nachmittagsverkehr
       in Richtung Glienicker Brücke schiebt, wo früher die Spione ausgetauscht
       wurden, zwischen BRD und DDR, zwischen USA und UdSSR. Man kann dann fast
       erleichtert sein, weil es wieder konkret wird, weil es wieder eine Story
       gibt, etwas zum Erzählen. Agentenaustausch. Man hat den Eindruck, da lässt
       sich etwas begreifen. Gut, Böse. Die Rollen lassen sich klar verteilen. Wer
       auch immer jetzt gerade wer ist. Viel leichter als bei Google und den
       Konzernen jedenfalls. Wir sind nicht der Kunde, der bedient wird, wir sind
       das Produkt, das verkauft wird, hat jemand ins Mikrofon gesagt. Das klingt
       so schön schmissig, nach Revolution, aber wir sind doch eben mindestens
       beides und noch viel mehr.
       
       Auf dem Teufelsberg dann, zwischen den riesigen Ballons einer ehemaligen
       Abhörstation, die aussehen wie viel zu große Golfbälle, entsteht eine
       ungeplante Installation, als eine Band von Spionen auf einem roten
       Feuerwehrlaster spielt. Drumherum fotografieren und filmen sich alle
       gegenseitig, in fast alle Richtungen. Fette Kameraobjektive, kleine
       iPhones, Smartphones, Videokameras. Die Sonne scheint. Ein Hund und ein
       Babywildschwein streunen herum. Ein herrlicher Spätnachmittag, unten liegt
       Berlin.
       
       Es ist viel gesagt worden, und es wird noch viel mehr gesagt werden. Über
       den Schwachsinn vom Nichts-zu-verstecken-Haben („Man braucht Privatsphäre
       auch für dumme Gedanken“) oder über das Verhältnis von Whistleblowern zu
       Spitzeln („Der Spitzel berichtet an die Mächtigen. Der Whistleblower
       entblößt ihre Macht“). Aber dieser Moment sagt noch viel mehr: Die
       Filmenden bilden eine Versammlung inoffizieller Mitarbeiterinnen von NSA
       und BND. Die Kameras als Überwachungsinstrumente im Anschlag. Mit bester
       Absicht. Klar klingt das jetzt viel zu negativ, war doch herrlich. Aber
       darum geht es ja.
       
       „Seit Menschen kommunizieren, sitzt einer daneben und fragt sich, worüber
       sie kommunizieren“, sagt Martin, der eine Wollweste trägt, Geschichte
       studiert und jetzt eine schnelle Führung über die Abhörstation macht, von
       wo aus die Amerikaner im Kalten Krieg bis kurz vor Moskau mithören konnten.
       Sagen manche Amerikaner, sagt Martin. Ein ehemaliger britischer Agent
       erzählt, wie manche der Übersetzerinnen aus der Station anfingen, Stimmen
       zu hören, auch abends noch, wenn da eigentlich gar keine mehr waren, weil
       es den ganzen Tag über so viele gewesen waren. Informationsüberlastung in
       einer Zeit, in der „abhören“ wirklich noch „abhören“ bedeutet hat.
       
       ## Merkel zertrümmert ihr Handy
       
       Das Problem der Informationsüberlastung ist wahrscheinlich geblieben.
       Interessant wäre, eine Informationsüberlastete aus der NSA oder vom BND
       anzuhören. Die Bundesregierung sollte überhaupt mal ein Programm zur
       Rekrutierung von BND-Whistleblowern auflegen. Dann könnte das unbekannte
       Unbekannte wenigstens zum bekannten Unbekannten werden. Es würde auch die
       Diskussion erleichtern.
       
       Man kriegt die Vergangenheit und die Gegenwart sonst schwer zusammen, das
       zeigt diese Fahrt durch Berlin. Man büxt schnell aus, in die Konkretheiten
       der Vergangenheit, weil die Abstraktionen der Gegenwart so anstrengend zu
       denken sind, derart faktenarm.
       
       Auf der Rückfahrt vom Teufelsberg spielen ein Schauspielschülerin und eine
       Schauspielschülerin der Schule Ernst Busch die Szene nach, in der Angela
       Merkel erfahren hat, dass ihr Handy überwacht wird. Er ist Merkel. Sie ein
       Minister. „Misses Merkel.“ „Mister Minister.“ Am Ende zertrümmert Merkel
       das Handy auf dem Gehweg – mit einem Hammer, den sie aus ihrer Handtasche
       holt. Es ist in diesem Moment, was es immer war. Eine Nebensache, eine
       nette Ablenkung am Rande. Ein ganzes Land wird überwacht, aber alle schauen
       nur auf das Handy der Kanzlerin. Eine Albernheit, allerdings eine
       erzählbare.
       
       ## Im Zeitalter des Kontrollverlustes
       
       In der C-Base, einem Treffpunkt für Hacker mit deutlich mehr Steckdosen als
       in jeder anderen Kneipe, wird es wieder abstrakt: Der Medienkünstler Gregor
       Sedlag erklärt an diesem Post-Snowden-Tag in dieser Post-Snowden-Welt die
       Idee der Post-Privacy. Es gebe ja in Deutschland das Recht auf
       informationelle Selbstbestimmung, das auch einer der Gründe ist, warum der
       digitale Widerstand Berlin liebt. Es ist ein wichtiges Recht, eine gute
       Idee.
       
       Nur funktioniere sie nicht mehr in einer Zeit, in der jedes Smartphone
       ständig mit diversen anderen Einheiten verbunden sei. „Unser Smartphone“,
       stellt er fest, „ist uns so viel näher, als Facebook es je sein kann.“
       Schon der Begriff „meine Daten“ sei unscharf an sich. Es gebe höchstens
       „Daten über mich“. Die könne man nicht kontrollieren. Also solle man sie
       besser ausgeben, wie Geld.
       
       Wir lebten im Zeitalter des Kontrollverlusts, zitiert Sedlag den Blogger
       Michael Seemann, den er im Grunde die ganze Zeit zitiert hat. Snowden habe
       immerhin gezeigt: Das gilt auch für die NSA.
       
       12 Jun 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.transmediale.de/content/the-magical-secrecy-tour
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Gernert
       
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