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       # taz.de -- Bilanz der WM-Vorbereitungen: Ein überteuertes Desaster
       
       > Im Vorfeld der WM lief schief, was schieflaufen konnte. Aus Angst vor
       > Pfiffen wird Präsidentin Rousseff wohl auf eine Ansprache bei der
       > Eröffnung verzichten.
       
   IMG Bild: Schön ist der Schein im Austragungsort Brasilia, doch die Bilanz ist weniger romantisch.
       
       RIO DE JANEIRO taz | So langsam bringen sich die Brasilianer in Stimmung.
       Ganz ohne Pünktlichkeitswahn werden immer mehr Straßen gelb-grün
       geschmückt. Kneipen haben sich mit Nationalwimpeln auf den Ansturm
       vorbereitet, die Touristen sind nicht mehr zu übersehen. Die Biervorräte
       werden auf die obligatorischen 0,1 Grad Celsius heruntergekühlt. Die
       Spannung steigt.
       
       Auch Tausende Polizisten und Soldaten sind bereits unterwegs. Ihr oft
       martialisches Aussehen lässt die Einheimischen kalt, die Besucher wundern
       sich schon mal über die vielen Gewehrläufe, die überall gezeigt werden. In
       Tijuca, nahe dem Maracanã-Stadion in Rio, geht es einigen Bewohnern jetzt
       aber doch zu weit. Auf den Dächern ihrer Hochhäuser sollen
       Flugabwehrraketen installiert werden. „Uniformierte sollen nun ständig
       durch unser Treppenhaus rennen?“, fragt eine Mieterin entrüstet.
       
       Nur in São Paulo wird noch richtig gestritten. Die U-Bahn-Fahrer streikten
       und drohen die Stadt auch zum Eröffnungsspiel ins Chaos zu stürzen. Richter
       drohen mit Geldstrafen, der Gouverneur mit Entlassung. Es geht um die
       Löhne, letzter Akt auf der politischen Spielwiese vor dem Anpfiff,
       Verlängerung nicht ausgeschlossen.
       
       Vor den Kulissen letzte Botschaften der Verantwortlichen für das
       Fußballspektakel. Fifa-Chef Joseph Blatter sagt grandiose Spiele voraus,
       Präsidentin Dilma Rousseff ist weiterhin in der Defensive: Die ganze Kritik
       richte sich gar nicht „gegen die WM, sondern gegen mich und meine
       Regierung“. Nicht einmal zu Zeiten der Militärdiktatur seien Sport und
       Politik miteinander verwechselt worden, beschwert sie sich und betont, sie
       sei ein geradezu ungehaltener Fußballfan und werde fanatisch für ihre
       Mannschaft jubeln.
       
       Rousseffs Aufforderung, jetzt den Fußball zu feiern und die ausländischen
       Besucher herzlich zu empfangen, ist überflüssig. An Gastfreundschaft
       mangelt es nun wirklich nicht, und die Vorfreude auf den Nervenkitzel, auf
       spannende Spiele und auf das Fiebern mit den Idolen hat sich durchgesetzt.
       Natürlich wird gefeiert.
       
       ## Angst vor dem Volk
       
       Und doch ist es anders. Die massive Kritik an den negativen
       Begleiterscheinungen der WM, die bisherigen und die erwarteten Proteste
       sowie deren politische Auswirkung oder Instrumentalisierung haben die
       Stimmung beeinflusst. Nie zuvor überlegten sich Brasilianer, ob sie für
       oder gegen ihr Team sind.
       
       Zur Eröffnung am Donnerstag wird Rousseff voraussichtlich auf eine
       Ansprache verzichten. Zu groß ist die Gefahr, wie beim Confed-Cup vor einem
       Jahr ausgepfiffen zu werden. Die Angst ist berechtigt, da vor allem die
       Bessergestellten in die Fifa-Stadien gehen, die den Unmut rund um die WM am
       liebsten direkt auf die Präsidentin lenken. Die Elite, eines der
       Lieblingsobjekte der WM-Kritiker, steht stramm hinter der rechten
       Opposition und hofft, die regierende Arbeiterpartei bei der Wahl im Oktober
       endlich wieder loszuwerden.
       
       Doch nicht nur die betuchten Ticketbesitzer würden Rousseff auspfeifen. Die
       Bilanz der Vorbereitung ist wahrlich kein Ruhmesblatt. Gerade so sind die
       letzten Stadien fertig geworden. Rund zwei Drittel der Bustrassen,
       Schnellstraßen oder Flughafenerweiterungen sind noch im Bau, einige lang
       ersehnte Projekte wurden komplett gestrichen.
       
       Doch das sei gar nicht das Problem, sagt Orlando dos Santos vom
       WM-kritischen Comitê Popular da Copa. „Die Schlagzeilen über Verzögerungen
       und Planungsmängel sollen nur den Blick auf das Wesentliche verdecken: dass
       die Städte entgegen den Bedürfnissen ihrer Bewohner umgestaltet werden.“
       Und die Verspätung bringe der Baumafia nur noch mehr Gewinne.
       
       Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang. Zehntausende wurden für
       die Baumaßnahmen vertrieben, Umweltauflagen und die sonst üblichen
       Genehmigungsverfahren missachtet. Die Arbeiter klagten über niedrige Löhne
       und unhaltbare Arbeitsbedingungen. Transparenz oder Bürgerbeteiligung gab
       es nicht. Der Breitensport wurde vollständig vernachlässigt, oft mussten
       Sportstätten sogar den Fifa-Stadien weichen, deren sterile Normen wiederum
       ein Affront gegen die lokale Fankultur sind. Reichenviertel wurden
       aufgewertet, Obdachlose, Straßenhändler und Prostituierte aus den
       Stadtzentren vertrieben. Die Stadt als Unternehmen, nicht als Ort zum
       Leben, fasst das Comitê Popular da Copa zusammen.
       
       Ermöglicht wurde das durch ein eigenes WM-Gesetz, das viele für
       verfassungswidrig halten. Es räumt der Fifa die alleinigen
       Verwertungsrechte und Copyright ein, verpflichtet den Staat zu
       Entschädigungen bei Gewinnausfall, beinhaltet ein Unterrichtsverbot für
       öffentliche Schulen an Spieltagen und erlaubt sogar entgegen lokalem Recht
       den Bierverkauf im Stadion. Hinzu kommen Steuerbefreiungen für die Fifa und
       für WM-Bauten. Langfristige Folgen wird die Erlaubnis der Kommunen haben,
       Schulden bis über die sonst gesetzte Grenze hinaus aufzunehmen.
       
       ## So teuer wie nie
       
       Offiziell liegen die Ausgaben für dieses Desaster bei umgerechnet 8,5
       Milliarden Euro. Schätzungen der Kritiker gehen von über 11 Milliarden aus,
       inklusive der Steuererleichterungen, Werbung, temporärer Bauten und schwer
       kalkulierbarer Nebenkosten. Damit ist die WM in Brasilien die teuerste
       aller Zeiten.
       
       Besonders ärgerlich finden die Brasilianer, dass fast alles aus
       öffentlichen Kassen finanziert wurde. Laut einer Aufstellung der
       WM-Kritiker tragen Bund, Länder und Kommunen fast die Hälfte der Kosten,
       die andere Hälfte wurde von staatseigenen Banken per Kredit finanziert.
       Weniger als ein Prozent der Investitionen sei von privater Hand finanziert
       worden. Andere Quellen sprechen von einem Privatanteil von bis zu 15
       Prozent.
       
       Abgerundet wird diese Politik von oben durch ein fragwürdiges
       Sicherheitskonzept. Die Polizei wird aufgerüstet, brutale Einsätze gegen
       Demonstranten sind die Regel. „Sicherheitspolitik bedeutet in Brasilien
       nicht, den Menschen Sicherheit zu garantieren“, sagt die Aktivistin Gizelle
       Conceição. Es sei vielmehr eine Kriminalisierung der Armen und jetzt auch
       noch der sozialen Bewegungen, um die Interessen der Mächtigen zu schützen.
       
       11 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Behn
       
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