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       # taz.de -- Abschaffung des Paragrafen 175: Ein Geschenk vom „Unrechtsstaat“
       
       > Erst vor 20 Jahren wurde der unselige „Schwulenparagraf“ gestrichen – und
       > das nur wegen des Einigungsvertrages mit der DDR.
       
   IMG Bild: Erst Mitte der 80er gründete sich in Berlin der Sonntags-Club, ein Treffpunkt mit wechselnden Orten für Schwule und Lesben
       
       Wir hatten uns gerade verabschiedet, jeder ging in seine Richtung – mein
       Freund Thomas über den Leipziger Augustusplatz zur Straßenbahnlinie 10, ich
       zum Hauptbahnhof. Thomas studierte in Leipzig Veterinärmedizin, ich
       versuchte Germanistin und Slawistin zu werden. Es war nachts, halb zwölf,
       1987. Da hörte ich es plötzlich hinter mir krachen, ächzen, stöhnen.
       
       Zwei Männer schlugen Thomas brutal zusammen, sie traten ihm in den Bauch,
       in den Rücken. Später war sein Gesicht übersät mit blauen Flecken, er
       konnte sich kaum rühren vor Schmerzen. Die beiden Männer hatten Thomas die
       Brieftasche geklaut. Aber sie hatten es zuallererst nicht auf sein Geld
       abgesehen. Thomas war „so einer“, war: schwul. Und den musste man eben mal
       „aufklatschen“.
       
       Am Ende seines Studiums musste Thomas in die Provinz, Praktikum, gehörte
       dazu, kam niemand drumrum. Was er von dort berichtete, zog einem die Schuhe
       aus: Diskriminierung, Spötteleien, Handgreiflichkeiten. Wir schrieben
       bereits 1989, ich empfand das Jahr als modern, einigermaßen aufgeklärt.
       Keinesfalls erschien es zeitgemäß, Schwule und Lesben zu diskriminieren.
       Ich bin in einem freien und liberalen Hause groß geworden, jemanden wegen
       was auch immer herabzuwürdigen, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen.
       Schon gar nicht Homosexuelle. Ich hatte viele schwule und lesbische
       Freunde.
       
       Schwule und Lesben waren so wie wir, wir Heteros. Auch rechtlich. Der
       sogenannte Schwulenparagraf 175 wurden in der DDR 1968 gestrichen. Ich
       wurde also in dem rechtlichen Bewusstsein groß, dass es total normal ist,
       schwul, lesbisch oder was auch immer zu sein. Und das auch sein zu dürfen.
       
       ## Männer mit Peitschen in der Hand
       
       Die Realität sah dann aber doch anders aus. Nicht nur für Thomas, in
       Leipzig und in der Provinz, sondern selbst in Berlin, der damals – trotz
       Mauer - freiesten Stadt im Osten. Die Schwulenbars lagen versteckt,
       Lesbentreffs gab es offiziell gar nicht. Erst Mitte der Achtziger gründete
       sich in der Hauptstadt der Sonntags-Club, ein Treffpunkt mit wechselnden
       Orten für Schwule und Lesben. Trotzdem: Auf die Idee, das ein Mann bestraft
       werden könnte dafür, dass er einen Mann liebt, oder eine Frau eine Frau,
       bin ich nie gekommen.
       
       Darauf wurde ich jäh gestoßen, als die Mauer fiel. Plötzlich gab es in
       Ostberlin Demos von Männern in Chaps, diesen Lederhosen, bei denen der
       Hintern frei liegt. Die Männer hatten Peitschen in der Hand und Riemen um
       den Hals mit Metallnoppen dran. Sie kamen aus dem Westen und zogen vom
       Alexanderplatz über die Linden zum Brandenburger Tor. Sie forderten
       gleiches Recht für alle und waren dabei ebenso heiter wie sexuell
       aufgeladen. Frauen waren nicht dabei.
       
       Ich stand am Straßenrand und wunderte mich: über die Offenheit, mit der die
       Männer ihre Sexualität zur Schau stellten, über die Wucht, mit der sie ihre
       Rechte einforderten. Und darüber, dass das mit einem Mal Thema war.
       
       In diesem Moment begriff ich, dass der Osten dem Westen was geben kann,
       dass er dem Westen überlegen war, zumindest sexuell und in diesem Fall
       sogar rechtlich. Im Osten durften Männer mit Männern vögeln und Frauen mit
       Frauen, genauso wie Frauen mit Männern. Im Westen wurde da unterschieden.
       Der § 175 schrieb das so vor. In der Realität war der 175er zwar weitgehend
       Makulatur, weil Menschen, wenn es um Sex geht, sowieso machen, was sie
       machen wollen.
       
       ## Ein kleiner Triumpf
       
       Aber ich dachte: Wow, wer hätte das gedacht, dass da mal Westmänner in den
       Osten kommen und fordern, dass es „drüben“ bei ihnen genauso werden soll
       wie „bei uns“ im „Unrechtsstaat“. Der „Unrechtsstaat“ sollte die Vorlage
       für eine kleine große Rechtsreform liefern. So ist es dann ja auch
       gekommen: 1994 wurde der „Schwulenparagraf“ auch im Westen abgeschafft. Ich
       erlebte das als kleinen Triumph.
       
       Gedanken, dass der Osten dem Westen jede Menge lehren könnte, wenn er nur
       wollte, sollte ich später immer mal wieder haben: Frauenerwerbsarbeit,
       Kitaplätze, Abtreibung, Umgang mit Krisen, die Fähigkeit zur Improvisation,
       Spontanität mit Freunden. Das ahnte ich noch nicht, als bei meinen vielen
       schwulen Freunden die Sektkorken knallten.
       
       Damals dachte ich an meinen Freund Thomas. Und daran, dass er immer noch
       tief in der ostdeutschen Provinz feststeckte. Ich wünschte ihm, dass die
       Nachricht sein Leben nachhaltig verändern wird. Dass es auf dem Land ebenso
       liberal zugehen möge wie in der Stadt. Ein frommer Wunsch, wie ich heute
       weiß. Im Osten wie im Westen.
       
       11 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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