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       # taz.de -- Leben mit dem Klimawandel: Was tun, wenn das Wasser steigt?
       
       > Sind Sturmfluten und überlaufende Flüsse Zeichen der Klimakatastrophe -
       > oder einfach schlechtes Wetter? Klimaforscher empfehlen, mit dem Wasser
       > zu leben.
       
   IMG Bild: Land unter: Sturmflut auf der Nordsee vor Wilhelmshaven.
       
       HAMBURG taz | Die Jahrhunderte werden immer kürzer. August 2002, April
       2006, Januar 2011, Juni 2013 sind die Daten der jüngsten
       „Jahrhunderthochwasser“ auf der Elbe. Statistisch kämen sie nur einmal in
       100 Jahren vor, behauptet der Niedersächsische Landesbetrieb für
       Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz zwar in seinem Jahresbericht 2013
       noch immer standhaft. Um dann jedoch einzuräumen, dass es „in Wirklichkeit“
       eben leider in nur elf Jahren vier solcher Fluten gegeben habe, jede höher
       als die vorhergehende. Was dagegen zu tun sei, weiß die Behörde auch: mehr
       und höhere Deiche.
       
       Vor einem halben Jahr brach das Orkantief „Xaver“ mit der zweithöchsten
       Sturmflut aller Zeiten über Norddeutschland herein. Im Hamburger Hafen
       wurde ein Wasserstand von 6,09 Meter über Normalnull (NN) erreicht, nur
       1976 war das Wasser mit 6,45 Meter über NN noch höher aufgelaufen. Bei der
       verheerenden Sturmflut von 1962 mit mehr als 300 Toten hatte der Pegel
       „nur“ bei 5,70 Meter über NN gelegen. Damals waren die Deiche aber deutlich
       niedriger und instabiler. An den Nordseeinseln nagte die Sturmflut Strände
       weg, die Halligen meldeten Land unter, der Flug- und Bahnverkehr kam
       zeitweise zum Erliegen, in Schleswig-Holsteins Wäldern fällte der Orkan die
       Jahresmenge an Bäumen, Feuerwehr und Hilfsdienste waren vier Tage lang im
       Dauereinsatz.
       
       Beide Naturereignisse sind kein Zufall – das stellt Munich Re ganz nüchtern
       fest. Nach Angaben der weltgrößten Rückversicherung hat sich die Zahl der
       Naturkatastrophen in Deutschland seit 1970 mehr als verdreifacht. 2013 sei
       das Jahr mit den zweithöchsten Unwetterschäden gewesen, allein die Elbeflut
       im Juni habe Schäden von neun Milliarden Euro verursacht. Nur beim
       Elbehochwasser 2002 habe die Schadenssumme mit 20 Milliarden Euro noch
       höher gelegen.
       
       Und das wird nach allen vorliegenden Szenarien so weitergehen. Auf dem
       norddeutschen Extremwetterkongress im vorigen September in Hamburg sagten
       Experten voraus, dass in Norddeutschland bereits bis 2035 deutlich mehr
       Stürme und 20 Prozent weniger Niederschläge zu erwarten seien. Zwar würden
       „extreme Wetterereignisse regional begrenzt bleiben“, sagte Frank Böttcher
       von Institut für Wetter- und Klimakommunikation, das sei aber kein Grund
       zur Beruhigung: Wo es stürmt und hagelt, würden die Schäden umso größer
       ausfallen.
       
       Steigende Meeresspiegel, mehr Stürme und Starkregenfälle, längere und
       heißere Sommer sind „keine Phänomene, sondern eine akute Drohung“, stellte
       der Kieler Klimaforscher Mojib Latif am Donnerstag auf der
       Regionalkonferenz „Klimaanpassung Küstenregion“ in Lübeck klar. Noch sei
       zwar Zeit, das Schlimmste zu verhindern, „aber leider sind entsprechende
       Anstrengungen nicht zu erkennen“, sagte Latif. Der Worst Case, auf den die
       Menschheit deshalb zusteuere, bedeute für das Norddeutschland des Jahres
       2100 einen Anstieg der Durchschnittstemperatur um fünf Grad: „Von der
       letzten Eiszeit bis heute sind es plus fünf Grad in 10.000 Jahren, wir sind
       dabei, das innerhalb von 100 Jahren zu schaffen“, warnt Latif.
       
       Um mindestens 26 Zentimeter, im ungünstigsten Fall um 82 Zentimeter würden
       die Pegel an Nord- und Ostsee bis zum Ende des Jahrhunderts sich erhöhen,
       hatte der Weltklimarat in seinem im vorigen September veröffentlichten
       Bericht vorgerechnet. Latif hält das für zu optimistisch. Er geht von einem
       Anstieg um bis zu einem Meter aus, von deutlich mehr Tropennächten mit mehr
       als 20 Grad Celsius und von einem häufigen Wechsel zwischen Hitzewellen und
       Starkregenfällen: „Was das für die Gesundheit der Menschen und für Ernten
       bedeutet, ist noch gar nicht abzuschätzen“, warnt der Klimaforscher. Dass
       effektiver Klimaschutz aber doch noch rechtzeitig umgesetzt würde, „wage
       ich mal zu bezweifeln“, so Latif.
       
       Ein Grund dafür ist das menschliche Gehirn, sagt der Psychologie-Professor
       Daniel Gilbert von der US-Universität Harvard. Evolutionsbedingt reagiere
       es vor allem auf unmittelbare Reize, die globale Erwärmung jedoch sei eine
       Drohung für die ferne Zukunft, nicht für den Fernsehabend, schrieb Gilbert
       in einem Essay für die Los Angeles Times. Das menschliche Gehirn reagiere
       sehr sensibel auf Änderungen bei Licht, Klängen, Temperaturen oder
       Luftdruck. „Aber wenn die Geschwindigkeit des Wandels langsam genug ist,
       bleibt er unbeachtet.“
       
       Und deshalb machen speziell die Norddeutschen genauso weiter wie schon seit
       1.000 Jahren. Getreu dem Aphorismus „Gott schuf das Meer, der Friese die
       Küste“ mauern sie sich an Meeresstränden und Flussufern immer höher ein. Um
       dem Klimawandel zu trotzen, werden derzeit in Schleswig-Holstein alte
       Deiche durch neue Deiche mit einem „Klima-Zuschlag“ von 50 Zentimetern
       ersetzt. Zudem haben sie eine extrem breite Deichkrone von fünf Metern als
       „Baureserve für spätere Nachverstärkungen“, so das Kieler
       Umweltministerium. Dadurch könnte noch in Jahrzehnten mit geringem Aufwand
       eine zusätzliche „Kappe“ aufgesetzt werden. Die neuesten und höchsten
       Deiche sind schon so breit, wie ein Fußballfeld lang ist – endlos kann man
       so nicht weiterbauen.
       
       Und es wird teuer: Schleswig-Holstein hat in diesem Jahr insgesamt rund
       66,8 Millionen Euro für den Küstenschutz eingeplant. Mecklenburg-Vorpommern
       investiert nach Angaben des Umweltministeriums bis 2020 insgesamt 120
       Millionen Euro. In Niedersachsen müssen nach früheren Angaben noch rund 200
       Küstenschutzprojekte realisiert werden. Für 2013 waren dafür 72 Millionen
       Euro vorgesehen. Hamburg erhöht seine Dämme zurzeit für rund 700 Millionen
       Euro auf 8,50 Meter Höhe.
       
       Das Forschungsprojekt „Klimzug-Nord“, in dem rund 170 Experten aus der
       Metropolregion Hamburg über fünf Jahre mitgearbeitet haben, empfiehlt darum
       „einen Paradigmenwechsel“ beim Hochwasserschutz: „Lebt mit dem Wasser.“ Für
       die norddeutschen Küstenländer würde das bedeuten, eben nicht weiter
       Milliardensummen in immer höhere und breitere Deiche sowie andere
       Hochwasserschutzeinrichtungen zu stecken. „Die Anpassung an den Klimawandel
       in der Metropolregion ist unumgänglich“, sagt Daniela Jacob, Leiterin der
       Abteilung Klimasysteme am Climate Service Center in Hamburg, einer
       Einrichtung des Helmholtz-Zentrums Geesthacht. Mit dem Stapeln von
       Sandsäcken per Hand sei den drohenden Überschwemmungen an den Flüssen und
       den Sturmfluten an den Küsten auf Dauer nicht zu trotzen. Es sei notwendig,
       Häuser hochwassersicher zu bauen: Durch Fluttore für Türen und Fenster
       sowie automatische Abschottungen von Gebäuden ließen sich Flutschäden in
       Grenzen halten.
       
       In seinem mehr als 130 Seiten starken Abschlussbericht „Kursbuch
       Klimaanpassung“ empfiehlt das Expertengremium, großflächig
       Überflutungsräume zurückzugewinnen. So müssten an der speziell untersuchten
       Unterelbe die Gebiete mit Tideeinfluss ausgeweitet werden, um die negativen
       Folgen von Deichbau und Fahrrinnenvertiefungen zu lindern. Die „zunehmende
       Einengung des mehrfach vertieften Flusslaufs hat zu einer Verstärkung der
       Tide und zu einer schlechteren Sauerstoffverfügbarkeit im Wasser geführt“,
       heißt es. Deshalb sollten Überflutungsräume an den Flussläufen geschaffen
       werden.
       
       Nach dem Elbehochwasser im Juni 2013 hat die Schadstoffbelastung in der
       Nordsee erheblich zugenommen, wenn auch nur kurzzeitig. Untersuchungen des
       Hamburger Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) ergaben,
       dass das Hochwasser erheblich mehr Schadstoffe wie Pflanzenschutzmittel,
       Düngemittel und Altlasten ins Meer gespült hat. „Da floß eine giftige
       Flutzunge in Richtung Helgoland“, berichtet Sieglinde Weigelt-Krenz vom
       BSH. 80 organische Stoffe wiesen die Forscher nach, darunter 700 Prozent
       mehr Phosphate, die zehnfache Menge an Nitraten, bei Pestiziden und
       Unkrautvernichtungsmitteln von den überfluteten Wiesen und Äckern an der
       Elbe stiegen die Konzentrationen „bis zu Faktor 430“, so Weigelt-Krenz.
       Zwar habe sich die Belastung im Meerwasser binnen zwei Monaten wieder
       normalisiert, aber viele der Stoffe haben sich in den Sedimenten
       abgelagert. Sehr oft, so die Botschaft, könnten Muscheln und Krebse und
       dann auch ihre Fressfeinde solche Chemie-Cocktails nicht verdauen.
       
       Der Klimawandel sei „nicht aufzuhalten, nur zu gestalten“, erklärte
       Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Robert Habeck auf dem Lübecker
       Klimakongress. Dabei stelle sich auch die Frage nach „dem sozialen
       Zusammenhalt der Gesellschaft“. Denn Hochwasser, Sturmfluten und Missernten
       könnten zu erheblichen „gesellschaftlichen Verwerfungen“ führen. Für die
       Landwirtschaft könnten wärmere Sommer bedeuten, dass künftig zwei Ernten im
       Jahr möglich wären. „Das würde aber womöglich bedeuten, dass wir dann
       genverändertes Saatgut in Kauf nehmen müssten. Die Frage ist, ob wir das
       wirklich wollen“, sagte Habeck.
       
       Ina-Maria Ulbrich, Staatssekretärin im Umweltressort
       Mecklenburg-Vorpommerns, hofft auf „positive Effekte für den Tourismus“:
       „Von heißeren Sommern könnten die Bäder an der Ostsee und in der
       Müritzregion profitieren.“ Das fände auch Marc Euler von der
       Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein schön, warnt aber zugleich:
       „Unbeständigeres Wetter mit mehr Regen und Stürmen durch den Klimawandel
       wäre allerdings kontraproduktiv. Wer reist schon gerne in ein
       Überschwemmungsgebiet.“
       
       Übrigens: Dieses Wochenende soll es das heißeste Pfingsten seit Beginn der
       Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 geben.
       
       Unseren ganzen Schwerpunkt über den Umgang mit Hochhäusern lesen Sie in der
       taz.am Wochenende oder [1][hier]
       
       6 Jun 2014
       
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