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       # taz.de -- Traum oder Albtraum: Luft nach oben
       
       > Wenn der Wohnraum in den Städten knapp wird, könnte man in die Höhe
       > bauen. Doch unser Verhältnis zu Hochhäusern ist ambivalent.
       
   IMG Bild: Lieferte sich mit New York einen Wettstreit um die fortschrittlichsten und höchsten Wolkenkratzer: Chicago.
       
       Zu Hochhäusern gibt es meist klare Haltungen: Man liebt sie oder man hasst
       sie. Doch ist die Zu- oder Abneigung – jedenfalls in den meisten
       mitteleuropäischen Städten – auch konjunkturabhängig, unterliegt
       zeitgeistbestimmten Einstellungswandlungen. Die letzte Hochphase erlebte
       dieser Gebäudetypus, als die Nachkriegsmoderne zwischen den 1950er- und
       1970er-Jahren das Gesicht unserer Städte prägte.
       
       Danach war, abgesehen von ein paar Finanzzentren, erst mal Schluss mit dem
       Hochhausbau, bis er Ende der 1990er-Jahre langsam wieder ein Thema wurde,
       die Fantasie der Investoren und Architekten anregte und auch beim Publikum
       ankam – oder doch zumindest nicht zu erbittertem, massenhaftem Widerstand
       führte.
       
       Natürlich sind wirtschaftliche Gesichtspunkte die zentrale Voraussetzung
       für den Bau von hohen Häusern, doch ist damit weder das Unbehagen noch die
       Faszination zu erklären, die sie hervorrufen können. Die Geschichte des
       modernen Hochhausbaus beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, doch hohe Gebäude
       wurden schon früher errichtet.
       
       Die Pyramiden von Gizeh, die Hagia Sophia, die gotischen Kathedralen sind
       bis heute bewunderte Monumente, mit denen sich aber nicht selten ein
       ambivalentes Gefühl verband. Hohe Bauwerke symbolisieren Macht, setzen sich
       aber immer auch dem Verdacht der Machtanmaßung aus.
       
       ## Turmbau zu Babel
       
       Der sagenumwobene babylonische Turm – in der historischen Wirklichkeit eine
       über neunzig Meter hohe Stufenpyramide – ist in das kollektive Gedächtnis
       vor allem als Symbol einer solchen Anmaßung eingegangen. Pieter Brueghels
       berühmtes Gemälde „Großer Turmbau zu Babel“ von 1563 reflektiert zugleich
       zeitkritisch die Ruinen der nicht vollendeten Kathedralen-Projekte, die zu
       seiner Zeit in vielen europäischen Städten anzutreffen waren.
       
       Aber auch im Profanbau ging es im Mittelalter zuweilen demonstrativ in die
       Höhe. Mehr als hundert zum Teil über sechzig Meter hohe Geschlechtertürme
       bestimmten im 14. Jahrhundert die Stadtsilhouette von Bologna und machten
       aus der oberitalienischen Stadt ein Manhattan avant la lettre.
       
       Die Technik rationaler Tragsysteme aus Eisen und die Entwicklung von
       Personenaufzügen waren zwei entscheidende Voraussetzungen für den modernen
       Hochhausbau, dessen Wiege in den Vereinigten Staaten stand. New York und
       Chicago lieferten sich einen erbitterten Wettstreit um die
       fortschrittlichsten und höchsten Wolkenkratzer - was die europäischen
       Avantgardearchitekten wie Le Corbusier und Walter Gropius neidvoll über den
       großen Teich blicken ließ. Gleichwohl kritisierten sie ihre amerikanischen
       Kollegen, weil diese die Stahlskelette mit historisierenden Fassaden
       verkleideten.
       
       ## Hochhaus und Lifestyle
       
       Es brauchte noch ein paar Jahrzehnte, bis die modernen Hochhäuser auch
       formal auf der Höhe ihrer Zeit waren. Dieser Durchbruch geschah nach dem
       Zweiten Weltkrieg und stand zugleich für eine weltweite Ausbreitung des
       Gebäudetyps. In diesem Zug rückte eine neue Nutzungsform für diese Häuser
       in den Vordergrund. Waren Hochhäuser bis dahin vor allem Büro- und
       Verwaltungsbauten, gehörte bald das Wohnen im Hochhaus zum Lifestyle
       westlicher Nachkriegsgesellschaften.
       
       Bekannte Architekten wie Le Corbusier, Mies van der Rohe, Alvar Aalto oder
       Hans Scharoun lieferten architektonisch ansprechende Muster. In der
       gebauten Realität waren die in den aufgelockerten Siedlungen der
       Nachkriegszeit platzierten „Hochpunkte“ beziehungsweise „städtebaulichen
       Dominanten“ architektonisch aber meist eher Durchschnittsware.
       
       Neben Eigentumswohnungen füllten diese Häuser bald auch schon die
       Mietwohnungen des sozialen Wohnungsbaus. Mitte der 1960er-Jahre entstand
       bei immer knapper werdendem Bauland und anhaltender Wohnraumnachfrage unter
       der Formel „Urbanität durch Dichte“ eine verdichtete Bauweise hoher
       Bauwerke auf engen und oft dezentral gelegenen Flächen.
       
       ## Vertikale Stadt
       
       In allen größeren europäischen Städten – auch im Ostblock – wuchsen in
       dieser Zeit Großsiedlungen aus dem Boden mit „Punkthäusern“ und endlos
       wirkenden vielgeschossigen Zeilen, die teils zu imposanten Wohngebirgen
       anstiegen. Vermittelten ihre expressiven Formen noch einen vagen Anklang an
       die Wohnutopie der „vertikalen Stadt“ als autonome Insel in der
       Stadtlandschaft, wie sie den Avantgardisten der Moderne vorschwebten, so
       war die Lebensrealität in diesen Gebilden häufig weitaus prosaischer -
       statt Wohnutopie sozialer Brennpunkt.
       
       Diese Diskrepanz zwischen ambitionierter Architekturform und sozialer
       Wirklichkeit veranschaulicht drastisch Matteo Garrones Film „Gomorrha“ am
       Beispiel der neapolitanischen Trabantenstadt Scampia.
       
       Nun sollte keineswegs der falsche Schluss gezogen werden, dass bestimmte
       Wohntypologien automatisch soziale Brennpunkte produzierten. Viele
       Hochhausanlagen – auch aus den 1970er-Jahren – funktionieren immer noch
       bestens und werden von ihren Bewohnern geliebt. Andere wurden inzwischen
       aufwendig umgebaut und aufgewertet.
       
       ## Schrumpfen und wachsen
       
       Die Großsiedlungen der sogenannten Spätmoderne haben vor dreißig, vierzig
       Jahren jedoch ein allgemeines Unbehagen an der modernen Architektur und
       insbesondere an Hochhäusern ausgelöst, das bis heute nachwirkt. Wenn seit
       einigen Jahren wieder vermehrt Hochhäuser – auch Wohnhochhäuser –
       entstehen, so ist ein Grund dafür, dass unter dem Label „Zweite Moderne“
       moderne Architekturformen und -typologien wieder mehr geschätzt werden.
       
       Der Hauptgrund liegt aber in einem neuen urbanen Entwicklungsschub. Während
       einige industriell geprägte Städte und Regionen einem anhaltenden
       Schrumpfungsprozess ausgesetzt sind, wachsen andere Städte, vor allem die
       größten. Motor dieser Entwicklung ist der neue Trend zum urbanen Wohnen.
       
       Das, was Stadtplaner schon jahrzehntelang mit mäßigem Erfolg propagiert
       hatten: die verdichtete Stadt der kurzen Wege, war plötzlich nachgefragt,
       ohne dass man richtig darauf vorbereitet war. Die Vorzüge von
       innenstädtischen Wohnlagen, von Yuppies schon länger geschätzt, wurden nun
       auch von Menschen entdeckt, die vor Jahren noch in die Peripherie gezogen
       waren, um sich dort ihren Einfamilienhaus-“Wohntraum“ zu verwirklichen. Das
       Häuschen tauschten sie mit einer Eigentumswohnung in der Stadt, gern auch
       in einem Wohnhochhaus.
       
       Begehrte Standorte für diese Schichten sind zentrumsnahe Konversionsflächen
       und bislang vernachlässigte Quartiere beispielsweise in Bahnhofsnähe.
       Viertel wie Hamburg-St. Pauli oder das Züricher Bahnhofsviertel erfahren
       zurzeit – initiiert durch einige – eine drastische Steigerung des
       Mietpreisniveaus, genannt Gentrifizierung (= „Aufwertung“ + Verdrängung).
       Durch den raschen Bevölkerungszuwachs in einigen großen Städten und die
       Verdrängung von Bewohnern aus ihren angestammten Quartieren ist eine neue
       Wohnungsnot entstanden.
       
       ## Tendenz zum Einheitlichen
       
       Die neuen Wohnhochhäuser, die in diesen Quartieren weithin sichtbare
       Zeichen des Umbruchs setzen, sind für ein zahlungskräftiges Publikum
       konzipiert. Das ist vor allem eine Folge der um rund 20 Prozent höheren
       Kosten, die der Bau und Unterhalt dieses Haustyps erfordert. Dass die neuen
       Hochhäuser meist von angesehenen Architekten entworfen wurden und hohe
       ästhetische Qualität aufweisen, tröstet nur schwach über die Tendenz zur
       Homogenisierung der zentralen Wohnlagen hinweg.
       
       Das wird in Politik und Stadtplanung längst erkannt. Ob die in einigen
       betroffen Städten geschmiedeten „Bündnisse für Wohnen“ gegen den Marktdruck
       eine wirksame Gegensteuerung erreichen können, muss sich aber erst noch
       herausstellen. Damit die Verdichtung bestimmter Quartiere nicht
       zwangsläufig zu „Reichen-Ghettos“ führt, wären dringend Ideen für
       alternative, das heißt bezahlbare Wohnangebote auch in hohen Häusern
       gefragt. Leider hat sich die Architektenzunft in dieser Frage des
       Hochhausbaus weniger kreativ gezeigt als in formalistischen Spielchen mit
       spektakulären Großskulpturen.
       
       Ein wichtiges Thema ist in diesem Zusammenhang der konstruktive Umgang mit
       dem Erbe der Nachkriegsmoderne. Der Umbau eines an der Pariser Ringautobahn
       gelegenen, abgerockten Wohnhochhauses aus dem Jahr 1960 durch die
       Architekten Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal
       demonstriert, wie man in diesem schwierigen Erbstück durch geschickt
       gesetzte Anbauten attraktive bezahlbare Wohnungen schaffen kann, die
       heutigen ökologischen und sozialen Standards entsprechen.
       
       ## Schlaue Umnutzung
       
       Wege zum kostengünstigen Wohnen könnten auch in der intelligenten Umnutzung
       leer stehender Bürotürme stehen. In Bremen böte sich dafür das frühere
       Bundeswehrhochhaus an, das seit Jahren nur noch als Location für den Bremer
       Tatort genutzt wird.
       
       Als wohl spektakulärstes Beispiel einer eigenwilligen Umnutzung gilt der
       Torre de David in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Das Centro
       Financiero Confinanzas, wie das mit 192 Meter dritthöchste Gebäude
       Venezuelas eigentlich heißt, wurde infolge der Finanzkrise und nach dem Tod
       seines Inverstors David Brillembourg (daher Torre de David) nicht mehr
       fertiggestellt. Der Staat übernahm die Rohbauruine. 2007 besetzten Bewohner
       aus den Armenvierteln der Stadt das Gebäude.
       
       Inzwischen wird es von rund 2.500 Menschen in Selbstverwaltung bewohnt,
       darunter auch Angehörige der Mittelschicht, die sich die hohen Mieten der
       Hauptstadt nicht mehr leisten konnten. Auf den Etagen haben sich Läden und
       kleine Handwerksbetriebe niedergelassen.
       
       Das Architektenteam Urban Think Tank begleitete das Projekt und entwickelte
       eine Studie, die diese Form der kreativen Aneignung und Selbstverwaltung
       als Wohnmodell der Zukunft propagierte. Die Studie wurde 2012 auf der
       Architekturbiennale in Venedig vorgestellt und mit dem „Goldenen Löwen“
       ausgezeichnet.
       
       Unseren ganzen Schwerpunkt über den Umgang mit Hochhäusern lesen Sie in der
       taz.am Wochenende oder [1][hier]
       
       30 May 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /e-Paper/!p4350/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eberhard Syring
       
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