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       # taz.de -- Berlin Biennale: Cool, calm and collected
       
       > So entspannt wie die 8. Berlin Biennale war keine zuvor. Doch die
       > Streber, Angeber, Bluffer und Provokateure vermisst man. Ein Rundgang.
       
   IMG Bild: Die Installation „Crash Pad“ des Architekten Andreas Angelidakis.
       
       Ein bisschen gestaltet er sich wie eine Schatzsuche, der Rundgang der
       [1][8. Berlin Biennale] in den Museen in Dahlem, also dem Ethnologischen
       Museum und dem für Asiatische Kunst beziehungsweise Europäische Kulturen.
       Man muss suchen, um fündig zu werden. Dann aber wird man mit
       anspruchsvollen Arbeiten belohnt, die immer am exakt richtigen Ort
       präsentiert zu sein scheinen. Dass dieser jeweilige Ort im Dahlemer
       Gebäudekomplex nicht groß angezeigt ist, hat Methode. Die Gastausstellung
       will nicht störend in dem Betrieb des Hauses eingreifen.
       
       Die 8. Berlin Biennale unter der Leitung von Juan A. Gaitán ist weit in den
       bürgerlichen Westen der Stadt vorgedrungen. Nach Dahlem und nach
       Zehlendorf, wo das Haus am Waldsee der dritte Ausstellungsort ist, neben
       dem traditionellen Zentrum in Mitte, den Kunst-Werken (KW) in der
       Auguststraße.
       
       Hier hat alles einmal seinen Anfang genommen, mit der ersten, vom damaligen
       Leiter der KW, Klaus Biesenbach, dem Kurator Hans Ulrich Obrist und Nancy
       Spector vom Guggenheim Museum organisierten Berlin Biennale 1998. Die
       Auseinandersetzung mit dem Standort Berlin gehört gewissermaßen zum
       genetischen Code der Biennale, die ihre Zeugung dem Hype um eine unfertige,
       heftig pubertierenden Stadt verdankte.
       
       Im neuen Werden der Stadt hat Dahlem erst einmal den Kürzeren gezogen. 2019
       ziehen die Sammlungen in das dann wiedererstandene Stadtschloss um. Im
       Humboldt-Forum, nach dem universalgelehrten Brüderpaar Alexander und
       Wilhelm von Humboldt genannt, soll es mit der außereuropäischen Kunst einen
       Ort der Weltkultur bilden.
       
       Dass Juan A. Gaitán, der in Kanada geborene Kurator kolumbianischer
       Abstammung mit der Wahl des Standorts Dahlem die Verluste thematisiert, die
       dem Hype geschuldet sind, allem voran das Negieren der für das 20.
       Jahrhundert maßgeblichen Ästhetik und Architektur – ein Trend, der bis in
       die Szenecafés durchschlägt, die dann „Lenas feine Kost und Lebensmittel“
       heißen und mit Porzellanpötten aus dem Preußen des späten 19. Jahrhunderts
       wichtig tun – ist ein kluges, notwendiges Statement.
       
       Es scheint für die 8. Biennale insgesamt zu gelten, betrachtet man die
       uneitle Auswahl zeitgenössischer Kunst. Gaitáns Verwahren gegen den Hype
       scheint insgeheim die Leitlinie der Schau zu sein, die sein Beraterteam mit
       den Künstlern Tarek Atoui, Olaf Nicolai und Danh Vo sowie den Kuratorinnen
       Natasha Ginwala, Catalina Lozano und Mariana Munguia mitgetragen hat. So
       entspannt, cool, calm and collected war bislang noch keine Berlin Biennale.
       
       ## Errungenschaften des 20. Jahrhunderts
       
       Was gleich überzeugt: So wichtig Gaitán die Architektur und Ästhetik des
       letzten Jahrhunderts ist, wie die bisherigen Veranstaltungen im sogenannten
       Crashpad belegen, dem vom Architekten Andreas Angelidakis entworfenen Salon
       im Vorderhaus der KW, so sparsam und subtil kommen diese Errungenschaften
       des 20. Jahrhunderts in der Ausstellung zur Sprache.
       
       Etwa bei Olaf Nicolai, der die modernistischen Lampen und Verkachelungen
       aus einem leerstehenden Einkaufszentrum an der Landsberger Allee zitathaft
       in die Lobby in Dahlem transloziert. Oder mit den noch im kolonialen Indien
       der 1920er bis 1930er Jahre entstandenen Cartoons, satirischen Zeichnungen
       und Bücher von Gaganendranath Tagore (1867 bis 1938), die an den Stil im
       Simplicissimus oder von Malewitschs Weltkriegskarikaturen erinnern und für
       eine frühe internationale Moderne stehen.
       
       Nur wenige Künstler und Künstlerinnen in der Ausstellung können überhaupt
       noch das 20. Jahrhundert vertreten. Gerade einmal vier von rund 60
       Teilnehmern sind vor 1950 geboren. Insgesamt ist die Biennale sehr jung,
       mehr als die Hälfte der Teilnehmer gehören 1970er und 1980er Jahrgängen an,
       dazu stammt weit über ihre Hälfte aus Südamerika, Afrika und Asien.
       
       Gaitáns junge, globale Biennale zeigt viele Künstlerinnen, auch wenn die
       Zahl der männlichen Kollegen etwas höher ist. Ihre Arbeiten stammen
       überwiegend aus diesem Jahr und sind in Hinblick auf die Biennale
       entstanden. Auffällig ist, dass statt Video die Zeichnung in der Schau
       prominent vertreten ist, weil sie wie der Biennale-Leiter sagt, „den
       propositionalen Charakter des Kunstwerks betont“. Propositional ist der
       unerklärte, maßgebliche theoretische Begriff der Biennale.
       
       Auch prominent vertreten sind Soundarbeiten, was vor allem in Dahlem
       auffällt, wo es plötzlich an allen Ecken und Enden wispert und klingt.
       Manchmal wirkt das ein bisschen unheimlich, weil man meint, es flüsterten
       die afrikanische Masken und thailändischen Buddhas.
       
       Im Haus am Waldsee tönt es dann wirklich aus Erde. Dort hat das
       Künstlerkollektiv Slavs and Tatars ein Paar riesiger Lautsprecher in einen
       Erdwall im Garten versenkt, ihre sichtbaren Membranen liegen sich
       gegenüber. Aus ihnen dringt leise ein Gesang, den der durchschnittliche
       Mitteleuropäer als muslimischen Gebetsruf interpretiert. Er hört auch einen
       solchen Gebetsruf, freilich ins Türkische übersetzt.
       
       Das ist dann die andere Seite der Moderne des 20. Jahrhunderts: Selbst beim
       Muezzin duldete der Reformer Atatürk kein Arabisch. Diese politische
       Implikation erschließt sich einem nicht unbedingt. Dass die Installation
       trotzdem fasziniert, liegt an ihrer Anlage, dem Gesang, der fern und
       verloren aus der Erde dringt; an dem Erdwall, der wie ein Schutzraum für
       die Stimme wirkt, aber auch wie ein Erdloch, in das sie eingesperrt ist.
       
       ## Alles in Anführungszeichen
       
       Trotz Slavs and Tatars oder Mathieu Kleyebe Abonnenc’ überzeugender
       Installation zur Prophylaxe der Schlafkrankheit, in der sich der 1977 in
       Französisch-Guayana geborene Künstler mit der Kolonialgeschichte
       Schwarzafrikas und seiner damit verbundenen Familiengeschichte
       auseinandersetzt: Das Haus am Waldsee ist der schwächste Part der Biennale.
       Die Idee, im intimen Charme der Villa aus den 1920er Jahren, die
       Privatsammlung als Zugang zur Kunst zu thematisieren, geht nicht auf. Die
       „Private Collection“ mit ihren von den anderen Ausstellungsorten
       ausgeborgten Artefakten ist eine fiktive und damit unvermeidlich ironische
       Sammlung, was sämtliche Kunst im Haus in Anführungszeichen setzt.
       
       Anders als zuletzt kommt den Kunst-Werken bei dieser Biennale wieder eine
       zentrale Rolle im Konzept der Standorte zu. Wie in Dahlem hat die Zeichnung
       auch in der Auguststraße großes Gewicht, allerdings mit dem Akzent auf
       Fragen des Raums, der Geografie, des Standorts oder der Architektur. Vivan
       Sundaram aus Neu-Delhi etwa reagiert mit seinen Zeichnungen aus Motorenöl
       und Kohle auf die Geopolitik des Erdöls.
       
       Die nigerianische Künstlerin Otobong Nkanga entspinnt eine Geschichte um
       den Bergbau und das Mineral Glimmer, wobei die Zeichnung als Stickerei
       auftritt (neben Ton, Film und Objekten), und Irene Kopelman vermisst in
       ihrer Serie „Vertical Landscape“ das Ökosystem von Lianen. Das klingt
       anstrengend, doch der Betrachtet sieht nicht allein ein wissenschaftliches
       oder politisches Anliegen artikuliert, sondern vor allem den ästhetisch
       formulierten Vorschlag eines Perspektivwechsels auf das Thema oder die
       Fragestellung.
       
       Shilpa Guptas jüngste Arbeit „Untitled“ etwa handelt von den Enklaven, die
       im Grenzgebiet von Indien und Bangladesch existieren. In der Verbindung von
       Fotografie, Zeichnung, Schrift/Text und Performance bringt sie die
       besonders elenden Lebensumstände der Menschen dieser undefinierten Räume
       zur Sprache.
       
       In immer neuen bildlichen und sprachlichen Variationen thematisiert sie die
       Macht der Markierung bzw. der Auslassung. Gerade das Paradox, dass die
       Linie, die sie für die Grenze zieht, die besagt, ob die Leute abends
       elektrisches Licht haben oder nicht, auch die Linie ist, mit der sie sich
       in die Kunstgeschichte einschreibt und ihren eigenen Geltungsanspruch
       markiert, gibt ihren Exerzitien zur Grenzziehung eine ungeheure Spannung.
       
       Die Kanadierin Judy Radul holt dann über eine komplexe
       Live-Video-Installation die Südsee-Sammlung aus Dahlem nach Mitte, in die
       nachgebauten Museumsvitrinen. „Look. Look. Away. Look Back“ ist eine der
       aufwändigeren Arbeiten der Biennale. Generell vermeidet die Schau die
       Materialschlacht, und die Künstler suchen auch nicht nach den ganz neuen
       Formen, Materialien und Herangehensweisen. Alle arbeiten sie aber auf hohem
       Niveau. Die Streber, Angeber, Bluffer und Provokateure vermisst man. Das
       ist eben der Preis, wenn man so cool, calm and collected auftritt wie die
       8. Berlin Biennale.
       
       29 May 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.berlinbiennale.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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