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       # taz.de -- Agrarkartelle in Ostdeutschland: Die Saat ist aufgegangen
       
       > 25 Jahre nach der Wende müsste die DDR Geschichte sein. Auf den Äckern
       > aber existiert sie noch: Es profitieren treue Genossen, die sich das Land
       > sicherten.
       
   IMG Bild: Bauern nach der Ernte 1967 der Kooperationsgemeinschaft Gangloftsömmern.
       
       Noch zehn Stunden nach dem Unfall bargen Einsatzkräfte Leichen aus den
       Autowracks. Ein Sandsturm hatte im April 2011 zu einer Massenkarambolage
       auf der A19, kurz vor Rostock geführt. Acht Menschen starben, 150 waren in
       den Unfall verwickelt. Orkanböen waren am Morgen über die weitläufigen
       Äcker im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns geweht. Für die Autofahrer
       fühlte es sich an, als wären sie von klarer Sicht ins Dunkle gefahren.
       Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Unfall auf der Autobahn hat mit der
       SED zu tun – und mit Helmut Kohl.
       
       Vielleicht hätten Hecken zwischen den Feldern die Verwehung verhindern
       können, aber in erster Linie sind es die riesigen Flächen, die es dem Wind
       leicht machten. Ein agrarpolitisches Erbe der SED-Diktatur, das im Prinzip
       auf die Güter der preußischen Junker, den ostelbischen Adel zurückgeht.
       Dass diese Kontinuität bis heute trägt, daran hat auch der Kanzler der
       Einheit entscheidend mitgewirkt. Und alte Seilschaften sorgten dafür, dass
       auch im Jahr 25 nach der Wende die Eliten der DDR von den riesigen
       Ländereien profitieren: die ehemaligen Chefs der Großbauernhöfe der DDR,
       der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, im DDR-Jargon
       abgekürzt als LPG.
       
       Den Chefs gelang es nach 1989, sich die wertvollen Ackerflächen dauerhaft
       zu sichern. Zu Preisen, die nicht mal der Hälfte des Marktwerts entsprachen
       – eine staatliche Milliardensubvention auf Kosten der Steuerzahler.
       
       Einer, der davon erzählen kann, wohnt in Rukieten, einem Dorf in
       Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende eines Feldwegs, umgeben von weiten
       Grünflächen, steht sein Hof. Jörg Gerke lebt hier, seit zwei Jahrzehnten.
       Wessi, Niedersachse, Ökobauer, Kritiker der herrschenden Agrarverhältnisse.
       Ein kantiger Typ, manche werfen ihm vor, dass er auf dem AfD-nahen Blog
       [1][freiewelt.net] schreibt. „Ich lasse mich parteipolitisch nicht
       diskreditieren“, sagt er dazu. Ihm geht es um die Äcker in Ostdeutschland.
       
       1994 kaufte er 150 Hektar und baute einen Öko-Landwirtschaftsbetrieb auf.
       Mittlerweile bewirtschaftet er mit seinem Sohn rund 300 Hektar. Riesig im
       Vergleich zu den Höfen im Westen, die im Durchschnitt 55,8 Hektar groß
       sind, aber klein im Vergleich zu seinem Nachbarn, dem 3.000 Hektar gehören.
       
       Roggen, Hafer und anderes Getreide baut er an, hält eine Fleischrinderherde
       mit 100 Tieren, die von ihrem Stall auf die Weide zum Grasen trotten. Gerke
       ist habilitierter Landwirt, aktiv in der alternativen Arbeitsgemeinschaft
       bäuerliche Landwirtschaft e. V. Doch er ahnte damals nichts von dem, was er
       heute „ostdeutsches Agrarkartell“ nennt. Er ist überzeugt, dass ein Teil
       der DDR noch real existiert, im Jahr 2014.
       
       ## „Junkerland in Bauernhand“
       
       Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man zurückblicken. Zwischen 1945 und
       1949 enteignet die Sowjetunion alle Bauern, die Flächen über 100 Hektar
       besitzen. Sie werden pauschal als Kollaborateure des Naziregimes bestraft.
       „Junkerland in Bauernhand“, so die Propaganda – und viele der alten
       preußischen Junker galten ja auch als Wegbereiter Hitlers. Die
       konfiszierten Äcker und Güter gehen durch diese „Bodenreform“ in
       staatlichen Besitz über. Ab 1952 kommt es zu einer weiteren Welle der
       Enteignung: der Kollektivierung der Landwirtschaft.
       
       Die Bauern werden gezwungen, ihre Flächen in die LPGs einzubringen. Eine
       Maßnahme, die vielen wie eine Enteignung vorkommt, begleitet von
       Schauprozessen.
       
       Die Kollektivierung diente „primär der Herrschaftssicherung der SED-Führung
       auf dem Land“, erklärt der Agrarexperte und ehemalige Landesbeauftragte für
       die Stasi-Unterlagen in Sachsen, Michael Beleites. Aus den Bauern formt das
       Regime lohnabhängige Arbeiter, hoch spezialisiert bis zum Schweinebesamer.
       Dafür mit geregelten Arbeitszeiten und sozialer Absicherung.
       
       Formell bleiben die Bauern Besitzer ihrer Genossenschaftsanteile. Doch
       geführt werden die LPGs von treuen Parteigenossen. Die LPG-Vorsitzenden
       galten als roten Barone der DDR, sie waren mächtiger als andere
       Funktionäre. Ihre Betriebe überspannten mehrere Dörfer, sie finanzierten
       Straßen oder errichteten die für das sozialistische Dorf typischen
       Plattenbauten der Landarbeiter. Die waren oft besser in Schuss als die
       Unterkünfte der Arbeiter in den Industriestandorten der DDR.
       
       „Die LPG-Chefs waren wichtig, weil sie die Ressourcen verteilten, ihre
       Bedeutung für die Diktatur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“, sagt
       Jens Schöne, der Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten für die
       Unterlagen der Staatssicherheitsdienstes. Für ihn ist es ein gravierender
       Mangel, dass das Thema Landwirtschaft bislang kaum aufgearbeitet wurde.
       
       Doch nun hat Brandenburg damit angefangen, ausgerechnet Brandenburg, das
       der langjährige Ministerpräsident Manfred Stolpe gern als „kleine DDR“
       bezeichnete. Der grüne Landtagsabgeordnete Axel Vogel gab den Anstoß für
       die „Enquete-Kommission 5/1“, die vorbildlich für das Erhellen dieses
       dunklen Kapitels werden könnte.
       
       Christian Booß arbeitet für die Behörde des Bundesbeauftragten für die
       Stasi-Unterlagen am Berliner Alexanderplatz. Für die Enquete-Kommission 5/1
       erforschte er unter anderem auch die Transformation der „Vereinigung der
       gegenseitigen Bauernhilfe“. Jener Organisation der SED, die die
       Kollektivierung von mehreren hunderttausend Bauern in der DDR organisierte.
       
       ## Seilschaften nach der Wende
       
       Später, nach der Wende, sichern sich alte Seilschaften einen Großteil der
       verstaatlichten Flächen. Auch dabei spielt die Vereinigung der
       gegenseitigen Bauernhilfe eine wichtige Rolle. Denn 1990 wird sie nicht
       etwa aufgelöst, sondern zu den ostdeutschen Ablegern des bis dahin
       westdeutschen Deutschen Bauernverbands – und fungiert als Lobbyorganisation
       der Ex-LPG-Bosse.
       
       „Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe wie die LPGen und ländlichen
       Wirtschaftseinrichtungen waren fest im Griff des Ministeriums für
       Staatssicherheit“, schreibt der Experte Uwe Bastian in einem Gutachten der
       Enquete-Kommission 5/1. Laut Bastian vertreten die im Deutschen
       Bauernverband organisierten Ex-Kader heute „eindeutig die Interessen der
       LPG-Nachfolger.“
       
       Erster Präsident des neuen Landesbauernverbandes Brandenburg e.V. wird
       Heinz-Dieter Nieschke. Der war von 1975 bis 1990 Vorsitzender der LPG
       Radensdorf im Spreewald. 2003 folgt ihm Udo Folgart in das Präsidentenamt.
       Er tritt später in die SPD ein und ist, wie Nieschke, zugleich
       Landtagsabgeordneter und Bauernverbandspräsident in Brandenburg. Folgert
       wird überdies stellvertretender Präsident des gesamten Deutschen
       Bauernverbandes. Für die SPD ist der Mann so wichtig, dass ihn der damalige
       Kanzlerkandidat Frank Walter Steinmeier 2009 in sein Wahlkampfteam holte.
       Steinmeier wollte ihn zum Landwirtschaftsminister machen. Folgert arbeitete
       von 1982 bis 1986 in leitender Funktion für die LPG Paaren, von 1986 bis
       1990 als deren Vorsitzender. Nach der Wende wird die LPG umgewandelt in die
       Agro-Glien GmbH Paaren. Geschäftsführer bis heute: Udo Folgart. Ein
       erstaunliche Personalunion: Agrarfunktionär, Agrarpolitiker und
       Agrargeschäftsmann.
       
       Nach der Wende mussten die LPGs nach gesamtdeutschem Recht umgewandelt
       werden. Walter Bayer, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung
       der Uni Jena, untersuchte die Umwandlungen. Schon Anfang der 1990er Jahre
       war die Rede davon, dass hier die Mehrheit der Genossen im großen Stil
       betrogen wurden. Bayers mehrjähriges Forschungsprojekt bestätigte das auf
       über 900 Seiten: „Nahezu sämtliche 1.719 LPG-Umwandlungen waren
       fehlerhaft.“
       
       Die LPG-Nachfolger hätten sich „im Regelfall auf Kosten der
       ausscheidungswilligen LPG-Mitglieder zu Unrecht bereichert“. Sie
       kalkulierten beispielsweise teure Asbestsanierungen ein, die nie
       stattfinden sollten und nur dazu dienten, den Wert der
       Genossenschaftsanteile zu drücken. Bauern, die ausschieden, mussten sich
       mit weniger Geld zufrieden geben, als ihnen tatsächlich zugestanden hätte.
       Der Erfindungsreichtum war groß und summierte sich zu einem riesigen
       Wendebetrug. Für Bayer ein Skandal – auch er wurde bis heute nicht
       aufgearbeitet.
       
       Bayer forderte deswegen die Mitglieder der Brandenburger Enquete-Kommission
       auf, endlich „die personellen Kontinuitäten zwischen LPG-Vorständen und
       heutigen Eigentümern der LPG-Nachfolgeunternehmen zu untersuchen“.
       
       ## Kohl beruft sich auf die Russen
       
       Nach dem Zusammenbruch der DDR gehen jene Flächen in den Besitz der
       Bundesrepublik über, die zuvor durch die Bodenreform enteignet worden waren
       und sich im Besitz der DDR befanden. Diese Flächen sollen später
       privatisiert werden. Und wieder profitieren die ehemaligen Spitzenkader.
       Die Weichen dafür stellt Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit.
       
       Am 30. Januar 1991 steht Helmut Kohl im Bonner Bundestag am Rednerpult und
       spricht: „Der Fortbestand der Maßnahmen zwischen 1945 und 1949 wurde von
       der Sowjetunion zu einer Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht. Ich
       sage klar: Die Einheit Deutschlands durfte an dieser Frage nicht
       scheitern.“
       
       Kohl beruft sich auf eine vermeintliche Forderung der Russen. Sie würden
       der Wiedervereinigung nur zustimmen, wenn die Enteignung der Bauern in der
       Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg nicht rückgängig gemacht würden.
       
       Die Politikwissenschaftlerin Constanze Paffrath hat das als Legende
       entlarvt. Sie forschte jahrelang zu dem Thema, schrieb 2004 eine
       Dissertation, in der sie die Verhandlungen zur Deutschen Einheit
       rekonstruierte. Sie resümiert: „Die Forderung seitens der Sowjetunion, das
       während ihrer Besatzungszeit konfiszierte Vermögen dürfe nicht an seine
       Eigentümer zurückgegeben werden, wurde nachweislich an keinem
       Verhandlungstag und auf keiner Verhandlungsebene erhoben.“ Auch Michael
       Gorbatschow sagte Anfang 1998, die Frage „nach Restitution wurde auf der
       höchsten Führungsebene niemals angesprochen“.
       
       Aus Paffraths Expertise ergeben sich zwei Erklärungen für das Vorgehen
       Helmut Kohls: Er wollte keinen Aufstand im Osten riskieren und die ersten
       Landtagswahlen gewinnen, außerdem hoffte er darauf, mit den Ackerflächen
       und Wäldern die Einheit finanzieren zu können. Bis heute steht das
       Restitutionsverbot im Grundgesetz: Artikel 143, Absatz 3.
       
       Nach der Wende besaß die Treuhand Agrarflächen von rund einer Million
       Hektar. Für die Verwaltung dieses wertvollen Besitzes wurde 1992 eine Firma
       des Bunds zuständig: die BVVG, die Boden Verwertungs- und Verwaltungs GmbH.
       
       ## Ex-LPGler kommen zum Zug
       
       Doch schon in den Jahren nach der Wende mussten die Agrarflächen
       bewirtschaftet werden. Als Pächter kamen die gut ausgebildeten
       Ex-LPG-Vorsitzenden zum Zuge. Sie bauten bereits ihre Nachfolgebetriebe aus
       den geplünderten LPGs auf, besaßen die fachliche Expertise und wussten die
       Drähte zu den ehemaligen Genossen in den Verwaltungen zu nutzen.
       
       „Man hat sich im Grunde der alten SED-Strukturen bedient“, sagt Christian
       Booß von der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Zwischen 1990 bis 1991 herrschte
       Anarchie. Bis dahin konnten die Landesagrarministerien in Ostdeutschland
       gar nicht richtig funktionieren. In dieser Zeit betrieben die alten Kader
       erfolgreich Lobbyismus. Sie dockten sich an alle Parteien an und gingen
       runter bis auf die Kreisebene. Dort, wo die Fördermittelanträge gestellt,
       die Betriebsumgründungen getätigt werden müssen und über die Pachtverträge
       für staatliche Ländereien entschieden wurde, saßen die gleichen Leute in
       der Verwaltung wie zu SED-Zeiten.“
       
       Die Spitzengenossen wurden Pächter, später gelingt es ihnen durch
       geschickten Lobbyismus, die Pachtzeiten zu verlängern – bis heute. Das war
       wichtig, denn die Pächter kommen in den Genuss des begehrten Vorkaufrechts.
       
       1994 trat das Gesetz in Kraft, das als Ursprung der Probleme gelten kann.
       Das EALG, das „Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz“. Weil mit
       Helmut Kohl eine Restitution ausbleiben muss, sollen per Gesetz zumindest
       Entschädigungen geleistet werden. Die Opfer der „Bodenreform“ in der
       Sowjetischen Besatzungszone und der Zwangskollektivierung sollen
       Ackerflächen vergünstigt kaufen können. Zu Preisen deutlich unter der
       Hälfte des Marktwerts. Eine Subvention in Milliardenhöhe.
       
       Doch der Kreis der Berechtigten wird unbemerkt erweitert. Und so
       profitieren kaum die Alteigentümer von der verbilligten Kaufoption, sondern
       wiederum die Ex-LPG-Chefs. Eine Anfrage der Grünen zeigt: Zwischen 1992 und
       2011 gingen in ganz Ostdeutschland vergünstigt mehr als 90 Prozent der
       Fläche an die Pächter, also die ehemaligen LPG-Chefs. Das gelang, weil das
       Gesetz an einer entscheidenden Stelle geändert wurde: Auch jene sollten das
       Land vergünstigt bekommen, die ab dem 3. Oktober 1990 ortsansässig waren
       und Flächen längerfristig gepachtet hatten. Kriterien, die auf die
       Ex-LPG-Chefs wie maßgeschneidert passten.
       
       ## Stimmung gegen die Wessis
       
       Die Politik habe die ostdeutsche Landwirtschaft schützen wollen, mit dem
       vermeintlichen Ausverkauf an die Wessis sei Stimmung gemacht worden, sagt
       ein Erbrechtsfachmann, der auf die Bodenreform spezialisiert ist.
       
       Wer sich die parlamentarischen Dokumente zu dem Gesetz ansieht, stößt auf
       Abgeordnete, die sich sehr um die Ex-LPG-Kader bemühten. Gerald Thalheim
       etwa, Mitbegründer der Ost-SPD, ersuchte Anfang 1992 „die Bundesregierung,
       auch Neueinrichtern, die bis zur politischen Wende im Beitrittsgebiet
       gelebt und gearbeitet haben, Finanzierungshilfen zum Flächenerwerb zu
       gewähren“. Neueinrichter wurden Landwirte genannt, die einen Betrieb neu
       aufbauen wollten.
       
       Gerald Thalheim machte eine Karriere ganz im Sinne der SED. 1973 beendete
       er sein Studium als Diplomlandwirt und wurde 1976 promoviert. Zwei Jahre
       später leitete er das Labor im Pflanzenschutzamt Karl-Marx-Stadt. 1986
       übernahm er die Leitung der Agrochemie in der sächsischen
       LPG-Pflanzenproduktion Naundorf im Landkreis Rochlitz. Nach der Wende wird
       er Bundestagsabgeordneter, agrarpolitischer Sprecher der SPD und unter
       Gerhard Schröder schließlich Parlamentarischer Staatssekretär im
       Landwirtschaftsministerium. Heute ist er Vorstand des Mitteldeutschen
       Genossenschaftsverbands – in dem viele Ex-LPG-Chefs organisiert sind.
       
       Auch politisch gab es Unterstützung: So schickte Brandenburgs damaliger
       SPD-Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann im Januar 1993 einen Brief an
       die Bodenkommissionen – Gremien aus Vertretern der Landwirtschaftsämter und
       der Verbände, die die BVVG bei der Vergabe der Flächen berieten. Die
       Bodenkommissionen sollten „folgende Ziele verfolgen: ’Ansprüche‘ von sog.
       Bodenreformopfern bzw. deren Erben bei der Empfehlung keinerlei Beachtung
       zu schenken“, schrieb Zimmermann in dem Brief, der der taz vorliegt.
       
       ## Verfahren gegen die Bundesrepublik
       
       In der DDR war Zimmermann von 1976 bis 1990 als Leiter für
       Transport/Umschlag des Agrotechnischen Zentrums in Hohenseefeld tätig. Er
       legte sein Amt aufgrund von Untreuevorwürfen nieder.
       
       Der EU-Kommission stießen die verdeckten Subventionen für die Ex-LPG-Bosse
       erst 1998 auf. Sie leitete ein Verfahren gegen die Bundesrepublik ein. In
       einer Mitteilung an die Bundesregierung kritisierte die EU-Kommission, dass
       unberechtigte Personenkreise in den Genuss vergünstigter Bodenpreise
       gekommen seien, die „niemals enteignet worden“ waren.
       
       Das Bundesfinanzministerium lässt im Dezember 1998 die vergünstigten
       Verkäufe stoppen. Der Rabatt darf später statt deutlich unter der Hälfte
       des Verkehrswerts nur noch 35 Prozent betragen.
       
       Aus Sicht der Bürger müsste die staatliche BVVG möglichst viel Geld mit den
       Ackerflächen erzielen. Es geht um Staatseinnahmen. Dennoch werden die
       Preise weiter gedrückt. Das ergibt sich aus einem vertraulichen Prüfbericht
       des Bundesrechungshofs, der der taz vorliegt. Die Prüfer schreiben am 30.
       Mai 2005: „Die BVVG stellte nicht sicher, dass keine unerlaubten Nachlässe
       gewährt wurden.“ Die Behörde leitet die Preise von den sogenannten
       Regionalen Wertansätzen ab, kurz RWA. Und das, „obwohl häufig Anhaltspunkte
       gegen die Eignung der RWA“ sprächen. Die Regionalen Wertansätze wichen „von
       den gesetzlichen Vorgaben ab“. Das sei „nicht im Einklang mit der
       Entscheidung der Europäischen Kommission aus dem Jahre 1999“.
       
       Dabei ist das Problem im Bundeslandwirtschaftsministerium längst bekannt.
       Schon drei Jahre vor dem Bericht des Rechnungshofs. Das geht aus einem
       Dokument hervor, das an die damalige Landwirtschaftsministerin Renate
       Künast von den Grünen adressiert ist. Der taz liegt das Schreiben vom 29.
       Januar 2002 vor. Ihr Referatsleiter weist die „Frau Bundesministerin“ in
       Sachen „Agrarpolitik für die neuen Länder“ darauf hin, dass die „Regionalen
       Wertansätze zum Teil nicht mehr mit den tatsächlichen Realitäten
       übereinstimmten“.
       
       Es müsste klar sein, wie heikel das ist: Erneut gewährt der Staat
       großzügige Beihilfen an die Ex-SED-Elite, die den Vorgaben der
       EU-Kommission widersprechen. Doch auch in einem weiteren
       Rechnungshofbericht von 2009 heißt es, die staatliche BVVG prüfte „in
       einzelnen Fällen die gesetzlichen Voraussetzungen für den vergünstigten
       Flächenerwerb immer noch nicht mit der nötigen Sorgfalt“.
       
       ## Klagen von Alteigentümern
       
       Auf der politischen Ebene führen schließlich Klagen von Alteigentümern vor
       dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu Betriebsamkeit. Deswegen
       schreibt ein Ministerialdirektor der Abteilung 5 im
       Bundeslandwirtschaftsministerium am 10. September 2009 seinem Kollegen vom
       Bundesfinanzministerium einen Brief. Er regt an, sich im „Sachvergleich“ zu
       einigen. Den finanziellen Ausfällen für das Finanzministerium stehe „die
       akute Gefahr gegenüber, dass die EU-Kommission das Verfahren vor dem EuGH
       zum Anlass nehmen wird, das z. Z. lediglich ruhende Hauptprüfungsverfahren
       gegen Deutschland wegen der Privatisierungstätigkeit der BVVG wieder
       aufzugreifen“.
       
       Weiter heißt es: „Die EU-Kommission hatte das Hauptprüfungsverfahren gegen
       Deutschland nur unter der Bedingung zum Ruhen gebracht, dass keine weiteren
       Klagen oder Beschwerden gegen die Privatisierungspraxis der BVVG
       (insbesondere im Zusammenhang mit der Preisermittlung) vorgebracht werden.“
       Über die Dimension der Missstände machen sich die Herren nichts vor: „Ich
       bin mir sicher, dass ein grundsätzlich neues Aufrollen der
       Privatisierungstätigkeit der BVVG auf Ebene der europäischen Institutionen
       auch den Interessen des BMF keinesfalls entsprechen wird. Die drohenden
       politischen Turbulenzen brauche ich an dieser Stelle nicht nochmals
       besonders zu betonen.“
       
       Die Klagen vor dem EuGH scheiterten, aber bis heute pachten und besitzen in
       der Mehrheit LPG-Nachfolger die vergünstigten BVVG-Flächen. Michael
       Beleites, Sachsens ehemaliger Stasi-Unterlagen-Beauftragter, schätzt, dass
       rund zwei Drittel der Flächen an die LPG-Nachfolger fielen. Die Anfrage der
       Grünen aus dem Jahr 2012 bestätigt das.
       
       „Wer nicht dazugehört, hat ein Problem“, sagt der Ökobauer Jörg Gerke, der
       1994 in Mecklenburg-Vorpommern anfing. Er zieht die matschigen Gummistiefel
       im grob gefliesten Eingang seines Hofs aus.
       
       Aktenordner liegen auf dem Tisch. Darin steht, was passiert, wenn man nicht
       dazugehört: Trotz Gerkes Anträgen gelang es ihm nicht, elf Hektar von der
       BVVG zu pachten oder zu kaufen. Begründung: Die elf Hektar seien für den
       ebenfalls interessierten Konkurrenten für dessen Weiterbetrieb unabdingbar.
       Gerke klagte auf Akteneinsicht. Er wollte wissen, wie groß der Konkurrent
       sei, der so dringend auf elf Hektar angewiesen sein sollte. Doch zehn Jahre
       lang verwehrte die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben
       die Akteneinsicht. Am 14. März 2014 erhielt Gerke schließlich die
       Information: Die Größe des Konkurrenten beträgt „insgesamt ca. 3.073,0 ha“.
       Ein Gigant – und LPG-Nachfolger.
       
       ## Neue alte Großherzogtümer
       
       2008 schrieb Gerke über diesen Komplex eine umfassend recherchierte Studie.
       „Nehmt und euch wird gegeben“ heißt das Buch über das Agrarkartell. Es
       folgte: nichts. Gerke schätzt, dass sich die Beihilfen für die Agrarkader
       auf einen zweistelligen Milliardenbeitrag summiert haben.
       
       Wer Gerkes Hof in Rukieten hinter sich lässt und die Landstraßen entlang
       fährt, bekommt einen Eindruck von der Weite der Ackerflächen, die zehnmal
       so groß sind wie die westdeutscher Betriebe. Erst am Horizont enden die
       neuen alten Großherzogtümer. Dazwischen verfallene Dörfer und die Ruinen
       alter Gutshöfe. Ähnliche Ansichten findet man überall in Ostdeutschland.
       
       Die Steuerzahler finanzierten die Genossen nicht nur durch den
       vergünstigten Kauf oder die Dumpingpacht. Vermutlich noch lukrativer sind
       die Subventionen, die mittlerweile an die Flächen gekoppelt sind. Je größer
       die Fläche, desto höher die Ausschüttung. Bei Pachten von teilweise unter
       100 Euro pro Hektar und Subventionen von 300 Euro pro Hektar, könnte es
       sich lohnen, gar nichts anzubauen. Die Fläche allein ist das Produkt und
       bringt Geld.
       
       Die konservierte DDR-Agrarlandschaft macht die Böden deswegen für Konzerne
       zum Investionsobjekt. Erst die riesigen zusammenhängenden Flächen der
       Ex-LPG-Großbetriebe machen die flächengebundenen Prämien für Unternehmen
       wie KTG Agrar, Steinhoff Holding oder die Lindhorst-Gruppe so lukrativ. Sie
       haben bereits tausende Hektar in Ostdeutschland erworben. Sie mussten dafür
       nicht mühsam einzelne Hektar ankaufen, sondern schlucken einfach die
       Ex-LPGs.
       
       ## Künstlich knapp gehaltenes Angebot
       
       Allein zwischen 2003 und 2012 wuchs der Wert eines Hektars Land in
       Ostdeutschland laut Statistischem Bundesamt um 150 Prozent auf 9.593 Euro;
       in den anderen Bundesländern um 35 Prozent auf 22.267 Euro. Der Preissprung
       beruht darauf, dass die Äcker so lange so günstig für die Ex-LPG-Chefs
       gehalten wurden. Außerdem wurde das Angebot durch die einseitige
       Bodenvergabe künstlich knapp gehalten – von alledem profitierten fast
       ausschließlich die alten Genossen, die nun ihre Betriebe mit satten
       Gewinnen Konzernen überschreiben können.
       
       Eine Ökonomisierung des Bodens, die auf ostdeutsche Großbetrieben geeicht
       worden war. Der Greifswalder Geograf Helmut Klüter kommt in einer Expertise
       aus dem Jahr 2012 zu anschaulichen Ergebnissen: „Im Industrieland
       Nordrhein-Westfalen können in der Landwirtschaft mehr als dreimal so viele
       Arbeitnehmer pro Hektar Geld verdienen“ als im Osten.
       
       Dort beackern haushohe Mähdrescher die Flächen, überwacht von Drohnen. Doch
       die landwirtschaftlichen Bruttoverdienste „liegen sogar noch unter denen
       der Niedriglohnbranche Gastgewerbe.“ Effizient muss eine so gelenkte
       Wirtschaft nicht sein. Klüter schreibt: „Berücksichtigt man, dass der Wert
       für Brandenburg von etwa 800 Millionen Euro (2009) durch über 540 Millionen
       Euro an EU-Mitteln gestützt wurde, dann war die Flächenproduktivität der
       Landwirtschaft zu DDR-Zeiten höher als heute. Das gilt auch für die anderen
       ostdeutschen Flächenländer.“
       
       Klüter vergleicht die Ex-LPG-Großbetriebe mit den Gütern der Junker. Er
       bezeichnet den heutigen Zustand als „neofeudale Landverteilung“.
       Tatsächlich sind die heutigen Betriebe noch größer als die des alten Adels.
       
       1 Jun 2014
       
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