URI: 
       # taz.de -- Debatte Videobeweis im Fußball: Der Fetisch der Fehlbarkeit
       
       > Bei der WM wird die Torlinientechnologie zum Einsatz kommen. Gegen den
       > Videobeweis aber sträuben sich die Fußball-Traditionalisten weiter.
       
   IMG Bild: Obwohl Dante den Ball eindeutig hinter der Linie klärt, gilt das Tor nicht. Mit der Torlinientechnologie oder Videobeweis wäre das nicht passiert
       
       Die kleine Stadt Würselen bei Aachen macht sich weit überproportional
       verdient um den deutschen Fußball. Jupp Derwall, später Bundestrainer, trat
       dort seine ersten Bälle. Martin Schulz, heute Mr EU, gab in den frühen 70er
       Jahren beim westdeutschen B-Jugend-Vizemeister SV Rhenania den giftigen
       Linksverteidiger (wobei ihm allerdings, erinnern sich Augenzeugen, der
       Schalker Rüdiger Abramczik mehrfach Schleifen in die kurzen Beine flocht).
       Und auch bei der Fußball-WM 2014 ist Hightech aus Würselen dabei.
       
       Dort nutzt die Fifa die Torlinientechnik GoalControl, ein
       Überwachungssystem für bildliche Echtzeitanalyse, entwickelt von der Firma
       gleichen Namens in ebenjenem 37.000-Einwohner-Städtchen. 14 Spezialkameras
       sind in Brasilien pro Stadion unterm Dach installiert. Bei jedem Spiel
       werden die GoalControl-Rechner acht Gigabyte Datenmenge pro Sekunde
       verarbeiten, das entspricht einem Download-Volumen von einem halben Dutzend
       Kinofilmen. Ganze fünf Millimeter Messtoleranz gibt es.
       
       Das Signal „Goal“ erfolgt auf die Spezialuhr des Referees per Vibration und
       Tonsignal binnen weniger als einer Sekunde, übermittelt über eine geheime
       Spezialfrequenz. „Das übliche W-LAN war uns zu gefährlich“, sagt
       GoalControl-Firmenchef Dirk Broichhausen.
       
       Es ist „ein kleines Märchen“, gespeist aus „Gründungsidealismus“, wie
       Broichhausen sagt. 2009 hatten frühere Absolventen der Technischen
       Hochschule Aachen (RWTH) die Idee. 2013 kam der Zuschlag der Fifa, schon
       beim Confed-Cup vor einem Jahr war die Technik im Einsatz, bei der Klub-WM
       im Dezember 2013 in einer überarbeiten Version ebenfalls. Als GoalControl,
       ein Spin-off der RWTH mit bereits 40 Angestellten, jetzt „Praktikanten für
       die WM“ suchte, kamen binnen Stunden, sagt Broichhausen, „gefühlt
       zehntausend Bewerbungen“.
       
       ## „Weil das Spiel dann nicht mehr das gleiche wäre“
       
       Keine Frage, so etwas wie der nicht gegebene 2:2-Ausgleich von England im
       WM-Achtelfinale 2010 gegen Deutschland oder der ignorierte Hummels-Treffer
       beim Pokalfinale Dortmund–Bayern wäre mit GoalControl nicht passiert.
       „Hätten die doch unser System“, hat Broichhausen gedacht, nachdem Dante den
       Ball aus dem Münchner Tor getreten hatte, sagte er jetzt bei einer
       Podiumsdiskussion in Aachen. Doch Liga und DFB, auch die Uefa, haben
       GoalControl bislang abgeblockt. 170.000 Euro im Jahr pro Klub für
       Installation, Bedienung, Wartung, Garantie war zwei Drittel der deutschen
       Erst- und Zweitligisten (Jahresumsatz: zwei Milliarden Euro) im März zu
       viel. Nach Dante gibt es eine neue Initiative der Befürworter.
       
       Die Debatte um Torlinientechnik ja oder nein klammert eines aus: das
       sinnvolle, preiswerte und leicht handhabbare Instrument des Videobeweises.
       Bei der Debatte in Aachen lehnten ihn alle ab, auch Broichhausen – der
       schnöde Blick eines Schiedsrichters auf TV-Wiederholungen, könnte man
       unterstellen, würde den Verkaufserfolg von GoalControl abbremsen. „Nein“,
       sagten auch Alemannias Exbundesligaspieler Reiner Plaßhenrich und ein
       Schiedsrichter der NRW-Liga: „Weil das zu lange dauert.“ „Weil das Spiel
       dann nicht mehr das gleiche wäre.“ „Weil man auch mit dem Videobeweis nie
       100-prozentige Sicherheit hätte.“ „Weil der Spielfluss nicht beibehalten
       werden kann.“
       
       Wenn man nur 99-prozentige Sicherheit hätte nach Augenscheinnahme, wäre das
       doch besser als Dante, könnte man nun einwenden. Nein, so die Ablehner – ob
       ein Spiel „am Ende fünf Stunden dauern soll“, ätzte Plaßhenrich. Wenn jeder
       dauernd wegen irgendetwas, womöglich wegen einer Einwurf-Entscheidung, den
       Videobeweis verlange.
       
       ## Cricket, Football, Basketball
       
       Schiedsrichter und Verband („Videobeweis macht die Leute verrückt“) wollen
       ohnehin bei der „Tatsachenentscheidung“ bleiben – Motto: einmal entschieden
       und für immer wahr, selbst wenn es falsch ist. Man kann die bockige
       Ablehnung einen Wunsch nach exklusiver Deutungshoheit nennen oder schlicht
       Macht- und Herrschaftsdenken. Goal Control – ja, da dürfen Kameras helfen.
       Match Control – nein, das machen wir allein mit all unserer Fehlbarkeit.
       
       Als ob es nicht aus anderen Sportarten genügend Gegenbeispiele gäbe. Das
       Überwachungssystem Hawk-Eye beim Tennis kann von jedem Spieler angefordert
       werden, die Häufigkeit ist dabei je nach Turnier gedeckelt.
       Unterbrechungsdauer: ein paar Sekunden. Von den Zuschauern wird das längst
       als Extraspaß goutiert. Beim Eishockey nehmen sich die Schiedsrichter ab
       und zu Auszeit für ein Studium der Kamerabilder, so haben sie belastbare
       Argumente. Das Publikum nimmt die kurzen Pausen mit Spannung. Im Fernsehen
       könnte bei einem Fußballspiel sogar kurz Werbung laufen; und kaum wer würde
       wegzappen, weil man ja nicht weiß, wann genau die Entscheidung fällt.
       
       Andere Videobeweis-Sportarten sind: Cricket, Football oder Basketball –
       aber nur in der NBA. Im autoritätsgläubigen Deutschland musste jetzt ein
       BBL-Viertelfinale nach einem grotesken Regelverstoß der Schiedsrichter
       sogar wiederholt werden. Der kurze Blick auf TV-Bilder hätte umgehend
       geholfen.
       
       Christoph Pauli, Sportchef der Aachener Nachrichten, nannte bei der Debatte
       um Goal Control den FC Bayern ganz nebenbei den „stellvertretenden
       Pokalsieger“. Eine hübsche Formulierung. Einen stellvertretenden
       Weltmeister kann es am 13. Juli auch geben, beispielsweise durch eine
       Abseits-Fehlentscheidung. Vielleicht wieder für Dante & Co – im Finale
       gegen Deutschland? Was die Fußball-Romantiker dann wohl sagen?
       
       27 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Müllender
       
       ## TAGS
       
   DIR Torlinientechnologie
   DIR Fußball
   DIR Fußball-WM 2014
   DIR Videobeweis
   DIR Fußball
   DIR DFB-Pokal
   DIR Fußball
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Press-Schlag: Des Fußballs gutes Unrecht
       
       Der Videobeweis wird in einigen Ligen demnächst getestet. Ist der Fußball
       endlich auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit?​
       
   DIR Nach dem DFB-Pokalfinale: Stoßstürmer Robben
       
       Pep Guardiola ist doch ein großer strategischer Denker, die Fans sind
       launisch und einer hat noch viel zu tun. Drei Thesen zum DFB-Pokal-Finale.
       
   DIR DFB-Pokal-Finale: Bayern holt das Double
       
       Der FC Bayern München schlägt Borussia Dortmund 2:0 nach Verlängerung und
       ist Pokalsieger. Robben und Müller erzielen die Tore. Bitter für den BVB.
       
   DIR Torlinientechnologie in der Bundesliga: Vorwärts nimmer
       
       Modernisierer unterliegen Traditionalisten. Die meisten Bundesligisten
       blockieren die Torlinientechnologie. Aber die Entscheidung muss nicht
       endgültig sein.