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       # taz.de -- Debatte Front National in Frankreich: Europa braucht Wohlfahrt
       
       > Die Wähler des französischen Front National müssen integriert werden –
       > auch wenn sie Rechte sind. Ansonsten wird es nie ein vereintes Europa
       > geben.
       
   IMG Bild: Deutet die Prinzipien der französischen Revolution nationalistisch um: Marine Le Pen.
       
       Es war im Mai, dass ein aus Rheinpreußen stammender, in Paris lebender
       Revolutionär, der bald nach Brüssel umziehen sollte, mit Blick auf eine
       europäische Revolution hoffnungsvoll schrieb: „Wenn alle innern Bedingungen
       erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das
       Schmettern des gallischen Hahns.“ So Karl Marx 1844 in der Einleitung zu
       seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“.
       
       Am Sonntag, einhundertundsiebzig Jahre später, hat der gallische Hahn
       wieder auf sich aufmerksam gemacht, allerdings mit einem Ruf ganz anderer
       Art. Mit dem Sieg des migrantenfeindlichen und nationalistischen Front
       National der Marine Le Pen, die mit diesem Sieg gute Aussichten hat, 2017
       erfolgreich für das Amt der französischen Präsidentin zu kandidieren, ist
       ein Menetekel gesetzt worden.
       
       Niemand, der kosmopolitisch und internationalistisch gesinnt ist, darf es
       übergehen. Bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung konnte Le Pens Front
       National in Frankreich stärkste Partei werden, gewann dabei vor allem unter
       Arbeitern wie Jungwählern hinzu und scheint jetzt für das gaullistische
       Programm eines „Europas der Vaterländer“ zu stehen. Hätte sich dieser
       Erfolg verhindern lassen?
       
       Nicht umsonst wurde in den Wochen vor dem Wahlgang unter französischen
       Intellektuellen debattiert, ob es sinnvoll, nötig und möglich ist, Marine
       Le Pen, die sich von dem Antisemitismus ihres Vaters verabschiedet hat, um
       ihn durch anti-islamische Ausländerfeindlichkeit zu ersetzen, weiterhin zu
       dämonisieren.
       
       Es war zumal der bekannte Antisemitismus- und Rassismusforscher
       Pierre-André Taguieff, ein Spezialist für Frankreichs Nouvelle Droite, der
       in einem soeben erschienenen Buch davor warnte, Marine Le Pen zu
       verteufeln. Sein viel besprochener Essay unter dem Titel „Du diable en
       politique. Réflexions sur l’antilepénisme ordinaire“ (Der Teufel in der
       Politik. Reflexionen zum gemeinen Anti-Le-Pen-ismus) rät Taguieff unter
       Bezug auf den in der NS-Zeit emigrierten, als konservativ geltenden
       deutsch-jüdischen Philosophen Leo Strauss von dem ab, was Strauss „reductio
       ad Hitlerum“ (Reduktion auf Hitler) genannt hatte.
       
       ## Weder rechts noch links
       
       Taguieff prognostizierte Tage vor der Wahl, dass es vor allem die
       Dämonisierung rechtspopulistischer Parteien ist, die ihnen einen
       Märtyrerbonus und damit weitere Gewinne an den Wahlurnen schenkt. Andere
       Theoretiker ziehen Vergleiche zu den europäischen Faschismen der 1930er
       Jahre.
       
       So hat der israelische Faschismusforscher Zeev Sternhell in einem Interview
       der Maiausgabe des monatlich erscheinenden philosophie magazine darauf
       hingewiesen, dass schon der „klassische“ Faschismus politisch weder rechts
       noch links stand, sondern seine Motive aus beiden politischen Traditionen
       zusammenklaubte: Nationalismus, Rassismus und Autoritarismus von „rechts“,
       soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung und eine radikal eingeschränkte Form
       der Solidarität unter „Volksgenossen“ von „links“.
       
       Dieser kritische Blick auf das Verhältnis von Nationalismus und
       Internationalismus, von Partikularismus und Universalismus war in den
       1930er Jahren auch in Deutschland nicht unüblich: In seiner Essay- und
       Artikelsammlung „Erbschaft dieser Zeit“, sie erschien 1935 in der Schweiz,
       rief der Philosoph Ernst Bloch die Linke dazu auf, einen „echten“ Begriff
       der Nation zu fordern: „Wir betonen: echter Nation; denn ’Nation‘ ist
       gewiss eine Wirklichkeit und nicht allein, wie bisher immer, eine
       Ideologie. Erst echter Sozialismus aber holt auch echte Nation auf, als
       Sprach- und Kultureinheit; erst die internationale Regelung der
       Gütererzeugung und Güterverteilung legt das Multiversum der Nationen
       wirklich frei; erst dies Esperanto des Unwesentlichen schafft wesentliche
       menschliche Existenz, auch als Nation, ans ideologiefreie Licht.“ Das kann
       so heute nicht mehr für ein vereintes Europa gelten; für ein vereintes
       Europa, das mehr denn je das wäre, was Bloch als „Multiversum“ bezeichnet.
       
       Gleichwohl: Der hohe Stimmenanteil, den die Rechtspopulisten im
       wirtschaftlich angeschlagenen Frankreich verzeichnen, beweist, dass sie die
       Einzigen waren, die überhaupt noch an einen, wenn auch ethnisch-rassistisch
       pervertierten Begriff von „Solidarität“ appellierten. Die regierenden
       französischen Sozialisten haben diesen Begriff längst preisgegeben. Ein
       Blick auf die Wählerinnen und Wähler des Front National – das Prekariat,
       Arbeitermilieus, die früher kommunistisch wählten, sowie desillusionierte
       Jungwähler – beweist nur eines: ein Vereintes Europa wird es nur mit ihnen,
       nicht gegen sie geben.
       
       ## In der Tradition der Revolution
       
       Entgegen Überlegungen, dass die Verfassung eines künftigen vereinten
       Europas in etwa dem Gründungsprozess der USA gleichen könnte, ist darauf
       hinzuweisen, dass die jetzt von Marine Le Pen missbräuchlich beerbten
       Ideale der französischen Revolution von 1789 „Liberté, Egalité, Fraternité“
       nach wie vor aktuell sind – aktueller jedenfalls als die nicht zufällig
       neoliberal deutbaren Prinzipien der amerikanischen Revolution von 1776:
       „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“.
       
       Marine Le Pen deutet die Prinzipien der französischen Revolution
       nationalistisch, ja rassistisch verengt, und feiert damit Erfolge an den
       Wahlurnen – obwohl diese Prinzipien ursprünglich keineswegs nur für
       Franzosen gedacht waren und man im revolutionären Paris auch als
       „Ausländer“ schnell Bürger, also „citoyen“, werden konnte.
       
       Davon zu unterscheiden ist das Wahlergebnis in Großbritannien. Die UKIP
       beerbt keine revolutionäre, sondern jene klassisch konservative Tradition,
       die die Tories seit Thatcher vakant ließen. Dennoch, Farage sowie Le Pen
       profitieren, wenn auch verzerrt, von der jeweils klassisch nationalen
       Tradition ihrer Länder.
       
       Mit Le Pens Wahlsieg in Frankreich steht Europa vor der Entscheidung: Ein
       vereintes Europa, das seinen Namen verdient, wird entweder ein sozial- und
       wohlfahrtsstaatliches Europa sein oder es wird nicht sein!
       
       Die Verantwortung dafür liegt ab heute bei Europas Sozialdemokraten und
       Sozialisten, den Grünen sowie den Erben der kommunistischen Parteien. Ob
       sie dieser, einer historischen Verantwortung gerecht werden?
       
       28 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
       ## TAGS
       
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