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       # taz.de -- Katharina Woellert über Medizinethik: „Sind diese Menschen krank?“
       
       > Ihr Medizinstudium brach Katharina Woellert ab, weil ihr das
       > Auswendiglernen zu viel wurde. Heute leitet die Historikerin das
       > Ethik-Komitee am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
       
   IMG Bild: Hat über die Geschichte zur Medizin zurückgefunden: Katharina Woellert .
       
       taz: Frau Woellert, Sie haben über „Schäferstündchen zum Volkswohl“
       promoviert. Das klingt nach der Lebensborn-Ideologie der Nazis. 
       
       Katharina Woellert: Es geht unter anderem um die Wurzeln genau dieser
       Ideologie. Meine Dissertation ist eine vergleichende Diskursanalyse zu
       Sexualitäts- und Gesundheitsdiskursen in Schweden und Deutschland zwischen
       1920 und 1950. In beiden Ländern gab es damals eine Debatte darüber, wie
       man einen „idealen“ Menschen erschaffen könne, der das angestrebte
       Gesellschaftssystem stützt. Das waren in Schweden das „Volksheim“ und in
       Deutschland die „Weimarer Republik“ beziehungsweise das „Dritte Reich“.
       
       Schweden und Deutschland wurden in den 1920er-Jahren von Sozialdemokraten
       regiert. Die Nationalsozialisten kamen in Deutschland erst später an die
       Macht. 
       
       Eben. Die Vorstellung, dass sich das Individualwohl dem Kollektivwohl
       unterordnen müsse, war nicht an rechte politische Ideen geknüpft und betraf
       Gesundheit und Fortpflanzung. Das heißt, man sah sich berechtigt, zu
       verhindern, dass bestimmte Parameter – Erbkrankheiten, aber auch
       Alkoholismus und die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Milieus – vererbt
       wurden.
       
       Was bedeutete das konkret? 
       
       Zum Beispiel, dass bestimmte Personen zwangssterilisiert wurden, um sie von
       der Fortpflanzung auszuschließen. In Schweden betraf das zwischen 1935 und
       1976 über 60.000 Menschen. In Deutschland waren es zwischen 1934 und 1945
       etwa 400.000 Menschen.
       
       Wie sind Sie auf das Thema gekommen? 
       
       Ich habe während meines Skandinavistik-Studiums Mitte der 1990er-Jahre
       verfolgt, wie in Schweden eine staatliche Untersuchungskommission einen
       Bericht über diese Zwangssterilisierungen abschloss. Das Entsetzen war
       groß, denn man setzte in Schweden diese Eingriffe auch nach dem Ende des
       „Dritten Reiches“ fort. Der zweite Schock für die Schweden war, dass
       ausgerechnet Sozialdemokraten diese Politik betrieben hatten. Da ich mich
       damals für Diskursanalyse interessierte, wollte ich beleuchten, wie
       Sexualität in beiden Ländern diskutiert wurde.
       
       Nämlich? 
       
       Im Spannungsfeld von Kollektiv- und Individual-Ethik: Steht das Wohl des
       Einzelnen im Vordergrund oder das der Gemeinschaft? Damals war der Bereich
       des Individualwohls, auf den man zugreifen konnte, viel weiter gesteckt.
       Interessant ist, dass solche Abwägungen auch in heutigen medizinethischen
       Debatten eine Rolle spielen.
       
       Wann zum Beispiel? 
       
       Bei der Frage, ob man ein Kind mit Down-Syndrom gebären soll. Derzeit führt
       diese Diagnose in 90 Prozent der Fälle zum Schwangerschaftsabbruch. Dem
       liegt eine Abwägung verschiedener Individualwohl-Bereiche zugrunde: der
       Mutter und des ungeborenen Kindes. Aber es steckt darin auch ein
       kollektiv-ethischer Aspekt, denn auf diese Weise werden wir zu einer
       Gemeinschaft, die eine bestimmte Personengruppe bald nicht mehr haben wird.
       Wollen wir eine solche Gesellschaft haben? Und inwieweit können wir
       zugunsten eines kollektiv-ethischen Gedankens in den Entscheidungsraum
       einer Familie eingreifen?
       
       Sie meinen: anordnen, dass die Frau das Kind doch bekommt? 
       
       Das würde natürlich keiner tun. Aber anhand dieser Frage kann man gut
       diskutieren, welche Wertigkeit wir einzelnen Personengruppen zuschreiben.
       Das führt zu Gedanken- und Diskussionsbereichen, die tabu sind, weil sie
       als unmoralisch empfunden werden.
       
       Und wie erleben Sie die Kluft zwischen Kollektiv- und Individualinteressen? 
       
       Ein oft diskutiertes Beispiel ist unser Gesundheitssystem, das unter
       knappen Kassen leidet. Das könnte in Behandlungsentscheidungen
       hineinwirken. Überspitzt gesagt: Soll die 90-jährige Patientin eine
       Hüftoperation bekommen, obwohl die Genesungschancen aufgrund ihres Alters
       begrenzt sind? Kann man das der Person zumuten und will man das knappe Geld
       in diese Behandlung stecken?
       
       So etwas wird im Krankenhaus ernsthaft diskutiert? 
       
       Nein, so natürlich nicht. Aber es gibt in jedem Krankenhaus jemanden, der
       die undankbare Aufgabe habe, sich mit der ökonomischen Situation zu
       befassen und der auch im kollektiv-ethischen Bereich Schwerpunkte setzen
       muss. Aus dieser Position heraus könnte man zu einer solchen Frage kommen.
       
       Und wie entkommt man dem Dilemma? 
       
       Nur, indem man Zuständigkeiten und Wertesphären trennt. Indem man also
       entweder bezogen auf einen konkreten Patienten oder auf die ökonomische
       Situation des Hauses argumentiert. Denn man kann Entscheidungen, die auf
       verschiedenen Ebenen stattfinden, einfach nicht zu einer abgewogenen
       ethischen Überlegung zusammenbringen.
       
       Sind das auch die Entscheidungen, bei denen Sie als Medizinethikerin
       gerufen werden? 
       
       Nein. Ich werde fallbezogen hinzugerufen, und das meist bei moralischen
       Konflikten, die enorm belastend sind. Das muss nicht immer die Frage sein:
       Soll ich eine lebenserhaltende Therapie abbrechen? Manchmal stellt sich zum
       Beispiel die Frage, welche Form der lebenserhaltenden Therapie angebracht
       ist.
       
       Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Ein sehr geschwächtes Kind ist an Leukämie erkrankt und braucht eine
       Stammzellentransplantation. Obwohl die Transplantation der angezeigte
       Eingriff wäre, muss man sich also fragen, welche Heilungschancen das Kind
       hat. Und welchen Belastungen wird es ausgesetzt? Ich habe bewusst ein Kind
       gewählt, weil es nur bedingt einwilligungsfähig ist. Es mündet also in die
       Frage, ob man diese Transplantation machen soll. Und wenn nicht: Welche
       anderen Behandlungsmethoden haben wir?
       
       Eine rein medizinische Frage. 
       
       Nur zum Teil. Wenn wir nämlich der Stammzellentherapie Heilungschancen
       zugestehen, bedeutet das im ethischen Sinne „Gutes tun“. Andererseits
       bedeutet es für das Kind eine Belastung, und das ist nicht „gut“. Das
       müssen Ärzte, Pfleger und Angehörige abwägen. Diesen Reflexionsprozess kann
       ich als Medizinethikerin moderieren.
       
       Sie bringen alle Parteien an einen Tisch. 
       
       Das kommt drauf an. Wenn wir eine Anfrage bekommen, gucken wir erst mal,
       welches das moralische Problem ist und wer es hat. Das Optimum ist, dass
       wir das Behandlungsteam, Patienten und eventuell die Angehörigen in die
       Runde einbeziehen.
       
       Welches ist Ihre Rolle? 
       
       In der Regel moderieren ein oder mehrere Medizinethiker die Diskussion,
       damit die Runde zu einer Entscheidung kommt, die alle tragen können.
       Manchmal sagt das Behandlungsteam auch von sich aus: Wir hätten gern, dass
       jemand auf den moralischen Teil draufguckt und ein Votum ausspricht. Das
       tun wir Medizinethiker – wenn wir darum gebeten werden. Außerdem können
       Medizinethiker Handlungsleitlinien für bestimmte Situationen entwickeln.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Bei einem schwer kranken Patienten kann es absehbar sein, dass demnächst
       eine Reanimation notwendig sein wird. Das ist dann ein Notfall, und man
       muss schnell handeln. Deshalb ist es sinnvoll, vorher zu überlegen, welches
       Vorgehen im Sinne des Patienten wäre, und eine Anordnung treffen.
       
       Diese Praxis gibt es an vielen Krankenhäusern. 
       
       Ja, aber aus ethischer Perspektive wäre es sinnvoll zu regeln: Wie sollen
       die Entscheidungen getroffen werden? Wie wird das in der Übergabe
       kommuniziert? In welchen Abständen wird geprüft, ob sich die
       Voraussetzungen geändert haben? Wenn das nicht ausreichend geregelt ist,
       kann die Medizinethik helfen.
       
       Fürs Organisatorische braucht man keine Medizinethiker. 
       
       Auf den ersten Blick nicht. Es können aber in Organisationsabläufen
       Fallstricke auftreten, die ethische Probleme erzeugen. Und das ist der
       Moment, in dem klinische Ethik auch mit Arbeitsabläufen zu tun hat.
       
       Wie sind Sie eigentlich Medizinethikerin geworden? 
       
       Ich habe als Schülerin in einem Behindertenheim gearbeitet und hatte viele
       Fragen: Sind diese Menschen krank? Wie wird mit ihrer Privatsphäre, ihrer
       Sexualität umgegangen? Ich dachte, ein Medizinstudium würde mir Antworten
       geben.
       
       Tat es das? 
       
       Nein. Schon im Grundstudium war ich dermaßen mit Auswendiglernen befasst,
       dass mir keine Kapazität blieb, um Fragen zu stellen. Ich habe nicht mal
       mehr geschafft, Zeitung zu lesen. Als ich das merkte, wurde mir klar, da
       stimmt was nicht. Ich hatte das Gefühl: Ich verlerne das Denken. Diese
       innere Lähmung war nicht das, was ich mit dem Medizinerberuf verband.
       Deshalb habe ich nach dem fünften Semester aufgehört und Neuere Geschichte,
       Skandinavistik und Politikwissenschaft studiert.
       
       Warum diese Fächer? 
       
       Geschichte, weil ich mich wieder für Dinge interessieren wollte, die unsere
       Gesellschaft bewegen. Für Skandinavistik gab es private Gründe.
       
       Sie sind in Schweden geboren. 
       
       Ja, aber ich habe dort nur meine ersten drei Monate verbracht.
       
       Was taten Ihre Eltern dort? 
       
       Mein Vater ist Deutscher, aber er wuchs in Schweden auf. Für seine
       Dissertation hatte er einen deutsch-schwedischen Rechtsvergleich gewählt
       und weilte deshalb in Stockholm. Meine Mutter arbeitete bei der
       deutsch-schwedischen Handelskammer. Kurz nach meiner Geburt sind wir nach
       Deutschland gezogen.
       
       Sind Sie trotzdem zweisprachig aufgewachsen? 
       
       Leider nicht. Meine Eltern sprechen fließend Schwedisch, aber sie glaubten,
       dass es für mich ein Identitätsproblem wäre, zwei Sprachen zu lernen. Das
       Skandinavistik-Studium kam dann auch aus dem Impuls: Ich will das jetzt
       endlich machen!
       
       Und wie kommt man als Historikerin zur Medizinethik? 
       
       Über besagte Dissertation zu den Zwangssterilisationen. Es war so nicht
       geplant, aber im Nachhinein sehe ich, dass ich durch die
       Geisteswissenschaften zu exakt den Fragen zurückgekommen bin, die mich ins
       Medizinstudium getrieben hatten.
       
       26 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
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   DIR Medizin
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
       
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