URI: 
       # taz.de -- US-Professor über Krankenhauskontrolle: „Bei uns wäre das undenkbar“
       
       > In den USA werden schlecht arbeitende Krankenhäuser finanziell bestraft.
       > Das verbessert die Qualität und nutzt den Patienten, sagt Ralph
       > Weissleder.
       
   IMG Bild: Falsche Diagnosen, mangelnde Hygiene oder ungeeignete Therapien: Bei drohenden Sanktionen profitiert der Patient.
       
       taz: Herr Weissleder, seit Jahren belegt Ihr Massachusetts General Hospital
       auf sämtlichen Klinik-Rankings der USA einen der vordersten Plätze. Egal ob
       bei Diagnostik, Behandlungsqualität, Krankenpflege oder Forschung: immer
       sind Sie unter den Top 5. Haben Sie jemanden bestochen – oder was machen
       Sie besser als andere? 
       
       Ralph Weissleder: Bestochen? Macht man das bei Ihnen in Deutschland jetzt
       so? Nein, so einfach geht das in den USA nicht. Die Qualitätskontrollen
       hier sind sehr transparent und streng. Es gibt jedes Jahr verschiedene
       Bewertungen der privaten wie öffentlichen Krankenhäuser.
       
       Die Krankenversicherungen beteiligen sich, die nationalen Berufsverbände,
       die Verbraucherschutzverbände, die Zeitungen, die Kliniken selbst. Auch die
       Ärzte, die meisten haben ja nur Ein-Jahres-Verträge, werden bewertet. Dann
       gibt es noch ein Qualitätsinstitut der Regierung. Jeder Patient hat via
       Internet Zugang zu dieser Datenbank. Da können Sie schlecht schummeln.
       
       In Deutschland will die Regierung jetzt auch ein solches Qualitätsinstitut
       einrichten, verbunden mit der Drohung, schlechte Kliniken schärfer zu
       sanktionieren als bisher. Und schon tobt der Streit im Gesundheitswesen,
       wer dabei wie viel Mitsprache haben soll. 
       
       Natürlich spielt bei allen Qualitätsmessungen auch Subjektivität mit rein.
       Aber ich kann nicht nachvollziehen, dass manche Kliniken und Ärzte in
       Deutschland sich dagegen wehren, dass die Qualität ihrer Arbeit allen
       Patienten offengelegt wird. Bei uns wäre das undenkbar.
       
       Weil die Fehlerkultur in den USA eine offensivere ist? 
       
       Ich denke nicht, dass Kultur oder Mentalität hierbei eine Rolle spielen.
       Fehler sind nicht gut. Darüber herrscht Konsens, auch in Deutschland. Die
       Frage ist bloß, wie weit Fehler toleriert werden. Für Komplikationen, die
       entstehen, weil etwa der Patient zu krank ist oder weil der Schuss
       blöderweise durchs Herz geht, können Sie die Klinik nicht verantwortlich
       machen. Aber es gibt auch diese anderen Fehler, die vom Krankenhauspersonal
       verschuldet werden, weil Ärzte falsche Diagnosen stellen, sich nicht an
       Hygienevorschriften halten oder ungeeignete Therapien wählen. Diese Fehler
       müssen verhindert werden.
       
       Wie geht das? 
       
       Die Versicherungen haben vor Jahren beschlossen, Krankenhäuser mit selbst
       verschuldeten Komplikationen nicht zu bezahlen. Wenn also ein Patient mit
       einer simplen Blinddarmentzündung eingeliefert wird, aber es zu schweren
       Komplikationen kommt, die verhinderbar gewesen wären, dann zahlen sie
       nicht. Selbst wenn die Rechnung auf 35.000 Dollar lautet.
       
       Wer bleibt auf diesen Kosten sitzen? 
       
       Das Krankenhaus. Deshalb sind die Krankenhäuser seither übrigens auch sehr
       daran interessiert, vermeidbare Komplikationen einzudämmen. In der Folge
       gingen die Komplikationsraten um einige Prozentpunkte runter. Die meisten
       Häuser betreiben mittlerweile riesige Programme gegen
       Krankenhausinfektionen. Bei uns im Mass General etwa beobachten Polizisten,
       ob wir uns wirklich die Hände desinfizieren, bevor wir ins Patientenzimmer
       gehen.
       
       Polizisten? 
       
       Keine echten! Aber die Kontrollen sind sehr streng. Unser
       krankenhausinternes Qualitätsprogramm beginnt, sobald der Patient
       eingeliefert wird. Wir überprüfen, ob der Arzt die richtigen Eingangstests
       macht, um überhaupt herauszufinden, was der Patient hat. Wenn einer mit
       Rückenschmerzen kommt und ich lediglich die Wirbelsäule röntge und auf
       weitere Untersuchungen verzichte, dann dürfte das kaum angemessen sein.
       
       Wir messen auch, wie lange der Patient auf die Untersuchung wartet, ob die
       gestellte Diagnose die richtige war und wie lange es dauerte, dies
       herauszufinden. Wir bewerten daneben die Arzt-Patienten-Kommunikation und
       den Nutzen für den Patienten: Wie geht es ihm hinterher? Ist er geheilt?
       
       Das alles machen Sie freiwillig? 
       
       Ja und nein. Nehmen Sie mein Department, die Radiologie. Die Versicherungen
       erstatten Leistungen häufig nur noch, sofern wir dokumentieren können, dass
       wir besser arbeiten als der nationale Durchschnitt radiologischer
       Krankenhausabteilungen. Also haben wir ein Interesse an der Dokumentation.
       Bei den privaten Krankenhäusern kommt hinzu, dass diese in den USA aktiv um
       ihre Patienten werben müssen. Das ist wie bei Restaurants: Je mehr Sterne
       sie haben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gäste anlocken.
       
       Es sind ausschließlich finanzielle Anreize und drohende Sanktionen, die
       bewirkt haben, dass Kliniken sich diesem Wettbewerb stellen? 
       
       Mit Sicherheit, ja.
       
       Was macht ein gutes Krankenhaus aus? 
       
       Ein gutes Krankenhaus ist eines, in das ich wieder hingehe, wenn ich noch
       einmal krank werde, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken.
       
       Dafür nehmen Sie auch weite Wege in Kauf? In Deutschland argumentieren
       Kommunen, Patienten müssten das nächste Krankenhaus binnen weniger Minuten
       erreichen können – bei möglichst maximalem Versorgungsangebot. 
       
       Von diesem Traum haben wir uns in den USA verabschiedet. Es kostet zu viel
       Geld, wenn kleine Häuser alles anbieten. Seit etwa zehn Jahren erleben wir
       deswegen, wie größere Klinikunternehmen die kleinen Häuser aufkaufen.
       Schade ist, dass es so immer weniger Kliniken gibt, wo man den Arzt
       persönlich kennt. Aber zugleich steigt die Qualität der Behandlungen.
       Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern etwa werden schneller an
       Spezialisten überwiesen, weil jeder weiß, welche Klinik für welche
       Behandlung Profi ist.
       
       Welche Patienten kommen zu Ihnen ins Massachusetts General Hospital? Nur
       die schweren Fälle? 
       
       Tatsächlich kommen viele zu uns, die einen Spezialisten brauchen. Oder die
       gern eine zweite Meinung hätten. Insgesamt aber kommen zu uns sehr
       unterschiedliche Patienten, weil wir eben eines jener Krankenhäuser sind,
       die noch alles anbieten. Wir sind ja ein sehr großes Krankenhaus,
       jedenfalls von der Anzahl der Ärzte her betrachtet. Betten haben wir
       übrigens nur 1000.
       
       Das reicht? 
       
       Ja. Die meisten Patienten bleiben nur vier bis fünf Tage hier. Danach
       verlegen wir sie in andere Krankenhäuser, in Reha-Einrichtungen, oder wir
       schicken sie nach Hause. Ein Bekannter hatte vor ein paar Jahren eine
       Bypass-Operation, der war für vier Tage bei uns und dann wieder daheim.
       
       Sie selbst behandeln Patienten im Krankenhaus, sind aber zugleich als
       Wissenschaftler in Harvard tätig. Sollte sich jeder gute Kliniker auch mit
       Wissenschaft beschäftigen? 
       
       Zumindest bei uns ist das sehr üblich. Ich glaube, es macht die meisten
       Ärzte zufriedener, wenn sie beides machen können. Ich habe viele junge
       Kollegen aus Deutschland, sehr gut ausgebildete Leute, die als Postdocs für
       ein paar Jahre zu uns kommen.
       
       Wenn die zurückgehen, beklagen sie oft, dass sie in den Kliniken verheizt
       werden, dass sie rund um die Uhr schuften und keine Zeit mehr haben für
       ihre Forschung. Darunter leidet auch die Wissenschaft. Dann muss man sich
       nicht wundern, wenn die guten Leute nicht mehr in der Klinik arbeiten
       wollen.
       
       Wie lautet Ihr Konzept für mehr Balance zwischen Klinik und Forschung? 
       
       Bei uns zahlt das Krankenhaus den Ärzten ein Gehalt, das nicht astronomisch
       ist, aber zum Leben reicht. 50.000 bis 70.000 Dollar pro Jahr erhält ein
       Resident. Wenn jetzt ein Assistenzarzt sagt, er möchte auch
       wissenschaftlich tätig sein, dann kann er das. Indem er Anträge bei der
       Regierung, dem National Institute of Health oder sonstigen Sponsoren
       stellt, die ihm die Zeit, die er statt in der Klinik mit Wissenschaft
       verbringt, bezahlt.
       
       Damit macht sich Wissenschaft abhängig von Sponsoren. 
       
       Ich sehe es positiv: In den USA können sich Ärzte freikaufen.
       
       26 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
       ## TAGS
       
   DIR USA
   DIR Patientensicherheit
   DIR Krankenhäuser
   DIR Gesundheitspolitik
   DIR Gesundheit
   DIR Sterbehilfe
   DIR Arzneimittel
   DIR Klinische Studien
   DIR DSO
   DIR Gesundheitspolitik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neue Krankenhaus-Studie: Mehr Arbeitsbelastung in der Pflege
       
       In den Krankenhäusern gibt es weniger Pflegepersonal als vor 25 Jahren. Und
       gleichzeitig über 30 Prozent mehr Behandlungen.
       
   DIR Ärztetag in Düsseldorf: Schmerz lass nach
       
       Zehn Millionen Deutsche haben chronische Schmerzen. Die Vizepräsidentin der
       Bundesärztekammer fordert eine bessere Versorgung.
       
   DIR Medizinethiker über Sterbehilfe: „Vertrauenswürdige Ansprechpartner“
       
       Könnte man Ärzten noch vertrauen, wenn sie auf Verlangen töten dürften? Der
       Medizinethiker Urban Wiesing plädiert unter bestimmten Voraussetzungen
       dafür.
       
   DIR EU-Regeln für Arzneimitteltests: Ethikkomissionen müssen zustimmen
       
       Die neue EU-Verordnung zu klinischen Studien regelt auch, wie die
       teilnehmenden Patienten über die Arzneimitteltests informiert werden
       müssen.
       
   DIR Pharmakritiker über klinische Studien: „Wir müssen wachsam bleiben“
       
       Die EU verpflichtet die Industrie zu mehr Transparenz bei klinischen
       Studien. Gegen die Macht der Medikamente-PR hilft das wenig, sagt Jörg
       Schaaber.
       
   DIR Deutsche Transplantationsszene: Neuer Kopf für die Organspende
       
       Der langjährige Eurotransplant-Chef Axel Rahmel rückt jetzt in den
       Medizinischen Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation auf. Ein
       Porträt.
       
   DIR Kommentar Krankenkassenbeiträge: Versichertenbestrafung
       
       Wer gesetzlich versichert ist, soll weniger zahlen. Außerdem fällt die
       ungerechte Kopfpauschale weg. Klingt gut, für viele wird es aber trotzdem
       teurer.