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       # taz.de -- Bilanz der Filmfestspiele: Auf Cannes ist Verlass
       
       > Die Goldenen Palmen sind verliehen worden. Und schon allein die Auswahl
       > der Filme zeigt, auf welch hohem Niveau sich das Festival wieder bewegt
       > hat.
       
   IMG Bild: „Merci!“ Der 25-jährige Regisseur Xavier Dolan hat für „Mommy“ den Jury-Preis erhalten – zusammen mit Altmeister Jean-Luc Godard.
       
       CANNES taz | Wildpferde galoppieren durch eine weite Graslandschaft. Reiter
       mit Lassos verfolgen sie und sondern einen Schimmel von der Herde ab. Die
       Reiter treiben ihn in einen Wasserlauf, aus dem er, den Hals in der
       Schlinge, nicht mehr herauskommt. Voller Panik ist das Pferd, seine
       Vorderbeine suchen Halt auf dem Boden, rutschen zurück ins Wasser, der Atem
       klingt wie ein Röcheln, der Tod durch Ersticken scheint unmittelbar
       bevorzustehen, der Mann mit dem Lasso kann ihm nicht helfen.
       
       Schließlich gelingt es dem Tier doch noch, aus dem kleinen Fluss
       herauszukommen, erschöpft liegt es im Gras, es dauert lange, bis das
       heftige Schnauben in ruhigen Atem übergeht. Die Reiter fangen das Wildpferd
       für Aydin (Haluk Bilginer), einen älteren Schauspieler, der sich vom
       Theater zurückgezogen hat und nun in der Felslandschaft Kappadokiens ein
       Hotel betreibt. Das Anwesen und Teile des umliegenden Dorfes hat er von
       seinen Eltern geerbt. Das Pferd ist nicht das einzige Wesen, das er fast
       zerstört, indem er es in Besitz nimmt.
       
       Die Szene stammt aus „Winter Sleep“, dem Film des türkischen Regisseurs
       Nuri Bilge Ceylan, der am Samstagabend bei den Filmfestspielen von Cannes
       die Goldene Palme gewonnen hat. Eine gute Entscheidung, denn „Winter Sleep“
       entfaltet in seiner Langsamkeit (3 Stunden und 16 Minuten) und seiner
       Subtilität eine verhaltene Wucht, der man sich nicht entziehen kann.
       
       Aus den vielen ruhigen Dialogszenen schält sich nach und nach das
       desillusionierte Bild einer Notgemeinschaft heraus, zu der neben Aydin
       dessen Schwester und dessen jüngere Frau zählen. Dass die drei Geld und
       Macht haben und beides ohne Skrupel gegen die Dorfbewohner einsetzen,
       ändert nichts an ihrem Überdruss, an ihrem Groll und an ihrer diffusen
       Sehnsucht nach einem Leben irgendwo anders, vielleicht in Istanbul. Darin
       erinnern sie an Figuren in den Stücken von Anton Tschechow.
       
       ## Schwere Entscheidung
       
       Ceylan kombiniert die ruhigen Szenen in den Innenräumen geschickt mit
       einigen Augenblicken jäher Zuspitzung, mit einem Steinwurf etwa, der dem
       Fenster eines Jeeps gilt, mit der Pferdejagd, viel später mit einem
       Geldbündel, das mit gewaltigem Knistern in Flammen aufgeht. Vor drei Jahren
       hat er in Cannes für „Once Upon a Time in Anatolia“ den Großen Preis der
       Jury erhalten. Es war an der Zeit, dass seine herausragende Arbeit mit
       einer Goldenen Palme belohnt wird.
       
       Leicht dürfte die Entscheidung der Jury, der in diesem Jahr Jane Campion
       vorstand, trotzdem nicht gefallen sein. Denn die Auswahl an preiswürdigen
       Filmen im Wettbewerb war groß. Sicher, es gab ein paar traurige Ausnahmen.
       Michel Hazanivicius’ Tschetschenien-Drama „The Search“ etwa bewegt sich mit
       seinem menschelnden Zugang an der Grenze zur Obszönität, und ein Beitrag
       aus Argentinien, „Relatos salvajes“ („Wild Tales“) von Damián Szifrón, war
       eine jener schwarzen Komödien, die sich an Niedertracht und Blödheit nicht
       sattsehen wollen und darüber selbst niederträchtig und blöd werden.
       
       Warum Thierry Frémaux, der Direktor der Filmfestspiele, „Relatos salvajes“
       im Wettbewerb, einen anderen argentinischen Film, Lisandro Alonsos
       großartigen „Jauja“, dagegen in der Nebenreihe Un certain régard
       programmiert hat, ist ein Rätsel. Könnte es sein, dass die spanische
       Produktionsfirma von Szifróns Film, El Deseo, ein wenig Druck ausgeübt hat?
       
       Aber das waren wenige Fehlgriffe angesichts der zahlreichen Filme, die
       anregten und herausforderten. Der 83 Jahre alte Jean-Luc Godard etwa sandte
       mit „Adieu au langage“ ein wunderbares 3-D-Experiment an die Croisette, der
       er selbst lieber fernblieb. Versatzstücke aus Theorie, Literatur und
       Filmgeschichte wirbeln darin umeinander, die Sehnerven werden mit bis dato
       ungesehenen Kapriolen auf die Probe gestellt, und außerdem versucht Godard,
       den Blick eines Hundes in übersteuertem Rot und übersteuertem Grün zu
       imitieren. Schön, dass die Jury an diesem Essay Gefallen fand und Godard
       den Jury-Preis zuerkannte, ex aequo mit dem Frankokanadier Xavier Dolan.
       
       ## Alltag einer Alleinerziehenden als Tour de Force
       
       Dolan stellte in Cannes „Mommy“ vor, eine Tour de Force durch den Alltag
       einer allein erziehenden Mutter und des etwa 15 Jahre alten Sohnes. Der
       leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, und so viel
       überschüssige Energie wie der Junge hat auch der Film. Aus dem Wortwitz und
       aus der proletarischen Schönheit der Figuren holt Dolan viel heraus, und er
       erfindet ein neues Format, indem er das Bildrechteck vertikal statt
       horizontal ausrichtet, also aus der 4:3-Bildratio eine 3:4-Bildratio macht
       (verschiedentlich war zu lesen, es sei ein Quadrat, also eine 1:1-Ratio,
       aber ich bin mir ganz sicher, ein Hochformat gesehen zu haben). „Mommy“ ist
       der fünfte Film in der Karriere des 25-jährigen Xavier Dolan.
       
       Den Regiepreis nahm der US-Amerikaner Bennett Miller für „Foxcatcher“
       entgegen, einen Spielfilm, der auf einer tatsächlichen Begebenheit aus den
       80er Jahren beruht. Der Millionär John du Pont (Steve Carell), Spross der
       Ostküsten-Oberschicht, fördert Ringer, damit sie bei internationalen
       Wettkämpfen Medaillen für die USA gewinnen. Zwei dieser Ringer sind die
       Brüder Mark und Dave Schultz (Channing Tatum und Mark Ruffalo).
       
       „Foxcatcher“ etabliert eine komplizierte Dreiecksbeziehung; das Psychogramm
       der Figuren ist von Anfang an klar umrissen, Überraschungen sind nicht zu
       erwarten. Doch es ist toll zu sehen, wie Steve Carell den Millionär und
       Wohltäter John du Pont gibt, nämlich in einer berückenden Mischung aus
       Mattigkeit und Größenwahn. Die Mattigkeit überträgt sich auf den Film, was
       „Foxcatcher“ – auch wenn es nicht so klingt – ausgezeichnet bekommt, die
       Dynamik und den Aktionismus von Sportfilmen unterwandert er mit seiner mild
       depressiven Mise en Scène.
       
       Verdient ist auch der Darstellerinnenpreis für Julianne Moore, die in David
       Cronenbergs bitterbösem Film „Maps to the Stars“ eine Schauspielerin in
       Hollywood gibt. Ihres Alters wegen ist sie nicht mehr gut im Geschäft, und
       auch bei ihr gehen die Selbstzweifel und der Überdruss eine frappierende
       Allianz ein mit der Art und Weise, wie sie über andere verfügt: ein leises
       Echo auf den Hotelbesitzer Aydin in „Winter Sleep“ oder auf John du Pont in
       „Foxcatcher“.
       
       ## Monica Bellucci als TV-Fee
       
       Ebenfalls verdient schließlich der Große Preis der Jury an Alice
       Rohrwachers Film „Le meraviglie“ („The Wonders“), der einer Familie von
       Aussteigern in einer ländlichen Gegend Italiens zuschaut. Mit Imkerei
       halten sie sich gerade so über Wasser. Die vier Töchter schultern einen
       großen Teil der Arbeit, was Rohrwacher in präzisen Bildern einfängt. Die
       realistisch anmutende Oberfläche wird von märchenhafteren Momenten
       punktiert; sobald Monica Bellucci als TV-Fee auftritt, weitet sich „Le
       meraviglie“, und irgendwo tief unten im Film liegt auch eine Geschichte
       linksradikaler Militanz verborgen, die auszubuchstabieren Rohrwacher sich
       zum Glück nicht die Mühe macht.
       
       „Timbuktu“, Abderrahmane Sissakos komplexer Film über die Machtübernahme
       von Dschihadisten in einem Ort in Mali, ging bei der Preisvergabe leider
       leer aus, ebenso Bertrand Bonellos von Proust beeinflusste Filmbiografie
       „Saint Laurent“ über den französischen Modeschöpfer Yves Saint Laurent.
       Auch Olivier Assayas’ „Sils Maria“ fand keine Berücksichtigung, genauso
       wenig wie Naomi Kawases „Futatsume no mado“ („Still the Water“).
       
       Die Liste zeigt an, auf welch hohem Niveau sich das Festival von Cannes in
       diesem Jahr bewegte. Oft macht man Thierry Frémaux zum Vorwurf, seine
       Filmauswahl setze zu sehr auf Bewährtes, auf ohnehin schon kanonisierte
       Filmemacher. Und es stimmt, tatsächlich ermüdet es manchmal, so viele
       Beispiele für gehobenes, künstlerisch wertvolles Erzählkino zu sehen.
       
       Ab und zu ein Genrefilm, ein herausragender Dokumentarfilm wie etwa Sergei
       Loznitsas „Maidan“ oder eine rauhe Unverschämtheit wie Abel Ferraras
       jenseits des Festivals gezeigter „Welcome to New York“ würden den
       Wettbewerb abwechslungsreicher gestalten. Doch der Konservatismus von
       Cannes birgt auch einen entscheidenden Vorteil: Man kann sich darauf
       verlassen, dass man viele richtig gute Filme sieht.
       
       25 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
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