URI: 
       # taz.de -- 60. Geburtstag von Rainald Goetz: Aber wer ist jetzt dieses Ich?
       
       > Scharfe Gegenwartsbeobachtung, andächtiges Besingen der Schönheit der
       > Welt: Der Schriftsteller Rainald Goetz wird 60 Jahre alt.
       
   IMG Bild: Einer, der stets mit dem größtmöglichen emotionalen Einsatz schreibt: Rainald Goetz.
       
       Ist es Zufall, dass ein Schriftsteller, der in seinem Schreiben um
       größtmögliche Gegenwärtigkeit ringt, selbst außergewöhnliche Präsenz
       verkörpert? Immer wieder ist mir Rainald Goetz aufgefallen: im Gedränge von
       Ausstellungs-eröffnungen, Theaterpremieren, Lesungen und Popkonzerten, aber
       auch auf dem Rad, wo er in den Pedalen stehend den Berlin-Mitte-Verkehr
       übergrinste. Oft schrieb er eifrig mit oder lachte einladend abwehrend in
       die Runde, hoch aufmerksam und abwesend zugleich.
       
       Wie sehr dieser körperliche Ausdruck seinem Verständnis vom Schreiben
       entspricht, wurde mir an einem sommerlichen Frühlingsabend vor zwei Jahren
       klar, bei seiner Antrittsvorlesung zur an den Berliner Literaturpreis
       gekoppelten Heiner-Müller-Professur.
       
       Noch während die Zuschauer – darunter nicht nur Studierende, sondern auch
       etliche Journalistenkollegen der mittleren Generation – cum tempore in den
       Hörsaal strömten, hatte der beanzugte Dichter, in sehr großen
       Kleinbuchstaben und mit leicht zittriger Hand, wie es schien, den Titel
       seines Vortrags an die Tafel geschrieben: „leben und schreiben. der
       existenzauftrag der schrift“.
       
       Rainald Goetz, geboren 1954 in München, doppelt promoviert in Medizin und
       Geschichte, hat nach journalistischen Anfängen rund 18 Bücher
       veröffentlicht (zwei bei Merve, den Rest bei Suhrkamp), darunter zahlreiche
       Stücke, Erzählungen, Tagebücher und Schriften, die sich der Klassifizierung
       entziehen.
       
       „Nur“ zwei Romane im engeren Sinn sind dabei – das aufsehenerregende Debüt
       „Irre“ von 1983, die autobiografisch gefärbte Geschichte des junger
       Psychiaters Raspe, der sich dem Schreiben zuwendet, und der 2012
       erschienene Schlüsselroman „Johann Holtrop“, eine Abrechnung mit der
       Wirtschaft (samt sich ihr unterwerfender Politik und Medienwelt) als Farce.
       „Nur“ in Anführungszeichen, weil der Vorwurf, keinen richtigen Roman zu
       schreiben, im Literaturkritikerkreis vor 2012 öfter erhoben wurde – als sei
       der Entwurf eines fiktiven, komplexen Handlungsgerüsts mit ebensolchen
       Figuren die einzige Disziplin, die den Schriftsteller zu einem ernst zu
       nehmenden macht.
       
       Die ausdrücklich fiktionalen Texte haben mich, offengestanden, bei Goetz
       gar nicht so sehr interessiert. Etwas anderes machte ihn für viele andere
       und Ende der neunziger Jahre für mich zum faszinierendsten
       deutschsprachigen Autor: So genau er die Wirklichkeit beobachtete, er
       schrieb mit dem größtmöglichen emotionalen Einsatz.
       
       Er rang um den richtigen Ausdruck und um die richtige Haltung – nicht im
       Sinne des gerade Angesagten, sondern des (oft auch: ethisch)
       Unausweichlichen. Und wenn andere eines von beidem zu fassen kriegten – ob
       Madonna oder Stuckrad-Barre, Detlef Kuhlbrodt oder Albert Oehlen –, dann
       ließ er sich davon so ansteckend begeistern, dass sich die
       passivitätsgefährdete Kunstrezeption plötzlich berauschend lebendig
       anfühlte.
       
       So war es mir 1998 mit seinem Blog „Abfall für alle“ ergangen, dessen
       erbarmungsloses Nebeneinander von Einkaufszetteln, Loveparade- oder
       Castorf-Eindrücken, Luhmann-Lektüren und experimenteller Lyrik ich täglich
       gierig verschlang. Die ebenfalls dort referierten Vorlesungsskripte und
       Tafelanschriebe seiner damaligen Frankfurter Poetikvorlesungen waren
       kryptische Schatzkarten voller Worte und Namen, „Ich“, „Text“, „Welt“,
       „Kritik“, „Schleef“ und so weiter, versehen zwar mit Struktur
       vortäuschenden römischen Ziffern, tatsächlich aber magische Formeln, die
       durch den Vorgang des Aufschreibens aktiviert wurden.
       
       Rainald Goetz, der immer eine Obsession mit dem Feuilleton hatte und im
       Journalismus durchaus Parallelen zu seinem Schreiben sah, konnte Struktur
       nur ironisch bis hilflos zitieren. Zum Glück, seine Unordnungen waren viel
       spannender.
       
       Erstaunliche Kontinuität prägt sein Werk. Ob „Abfall für alle“, „Klage“
       oder der formal geschlossenere Bericht „loslabern“, eine bandwurmsätzige
       Tirade über den Herbst 2008 mit deutlichen Verbeugungen vor Thomas
       Bernhard, ob in den Erzählungen „Rave“ und „Dekonspiratione“ oder eben im
       jüngsten Roman: Goetz ist ein scharfer Beobachter und Chronist des zumeist
       hauptstädtischen Medien-, Kunst- und Kulturlebens sowie seiner
       Meinungsmächtigen (in den achtziger Jahren auch der Punk- und Subkultur, in
       den nuller Jahren mit Abstechern in die Politik und vor Gericht).
       
       ## Büroküchenespressofachsimpeln
       
       Die hier gewonnen, scharf formulierten Gegenwartsbeobachtungen fließen auch
       in fiktionale Texte ein, wie dieser schöne Satz übers
       Büroküchenespresso-fachsimpeln in „Johann Holtrop“: „Nichts am Gesagten war
       neu, der Text war bis in die letzte Formulierungseinzelheit hinein fertig
       durchstandardisiert und ohne jede inhaltliche Information, wurde aber so
       ausgetauscht, als würde mit ihm ein hochinteressantes Wissen, zugleich eine
       hochindividuelle Besonderheit des sich selbst damit darstellenden Sprechers
       mitgeteilt.“
       
       Daneben stehen, manchmal auf derselben Seite, nicht minder genau
       formulierte „Exzesse von Zartheit“: „Die Wellen, ein Boot und der Steg, es
       riecht gut, nach Holz und nach Hochsommersonne, nach dem matt geschwappten
       Geschmatze des Sees hier beim Schild und den Steinen.
       
       Hinten am Horizont, wo über den flaumigen Härchen des anderen Ufers das
       große Lichtspiel des Abends aufflammt, pastellfarben mint, türkis und
       pfirsichtorangerosarot hell: die Wölkchen, und unendlich lau dahinter das
       Blau, der Planet, wie er atmet, so lind, diese Erde“ („Dekonspiratione“).
       Auch das ist Goetz: ein Romantiker, der andächtig die Schönheit besingt.
       
       Und manchmal braucht es nur so etwas Profanes wie die unbehagliche
       Kurzbegegnung mit dem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in „loslabern“, um
       Goetz analytisch-poetisch zu beflügeln. Dann wird aus der
       Schirrmacher-Beschimpfung handfeste Selbstkritik, aus dem
       Feuilletonunbehagen ein expressives Ich-Gedicht: „Keine je gehabten
       Gedanken aufzugeben, nichts revidieren, […] es da, wo es falsch gewesen
       war, im Weitergehen weiterentwickeln, keine Wende, keine Kehre, kein
       Zurück, die Länge der Tage, des einen Tages als Vorbild, wie man unterwegs
       sein könnte, und nachts, in Zettels Nächten, wach, beim Feiern, Reden oder
       Schreiben, so lebe ich, ich musste an Blumfeld und Jochen Distelmeyers
       Stimme denken, Stunde um Stunde, einer von vielen, kein Einzelfall.“
       
       Aber wer ist jetzt dieses Ich? „Everybody’s Ich-Ermächtigung“, wie Goetz es
       im Dahlemer Vortrag hundertprozentig affirmativ nannte, hat nicht nur in
       der Popliteratur, sondern auch von Maxim Biller bis Karl-Ove Knausgard
       Erzählweisen geprägt. Doch während etwa Biller und Knausgard ziemlich
       präzise Selbstporträts entwerfen und intensive Ich-Erkundungen betreiben,
       bleibt Goetz merkwürdig unscharf – was nicht nur an den zahlreichen
       Heteronymen wie Kyritz, Klage, Jesus, Goethe oder Kränk liegt, die etwa
       „Klage“ bevölkern.
       
       ## Kein Gegenstand
       
       In neun Büchern hat sich mein Goetz-Bild fast nur indirekt über seine
       häufig ethisch motivierten Geschmacksurteile geformt: keine
       Selbsterklärungen (schon gar keine psychologischen), keine
       Familiengeschichten, keine Liebesverhältnisse, kein „wie ich der geworden
       bin, der ich bin“. Kurz: Goetz ist sich selbst kein Gegenstand, die Welt im
       allerumfassendsten Sinn („das Spezialgebiet Leben“, von dem er „keine
       Ahnung“ hat – „Abfall für alle“) aber sehr wohl.
       
       Zurück noch mal zum Dahlemer Vortrag, in dem der „mitschreibende Mönch“
       seine Poetik (oder Lebenskunst?) aus lauter interessanten Widersprüchen
       entwickelte. Noch fesselnder als seine Rede war der Performer Goetz, dem
       immer mal wieder die Kontrolle über den eigenen Körper zu entgleiten, ja,
       dem der Raum in sich selbst zu eng zu werden schien: plötzliches
       Haareraufen nach „Folterschraubstock Hirn“, irritierend lange
       Sprachlosigkeit nach „Dorotheenstädtischer Friedhof“.
       
       An diesen brüchigen Stellen wurde auch die den Vortrag durchziehende These
       von der Autonomie der Schrift unheimlich plausibel. Das Selbst dient nur
       als Medium, um die Welt in größtmöglicher Unmittelbarkeit abzubilden. Kein
       teilnehmender Beobachter, eher ein das Soziale suchender Asozialer.
       
       Wie alle Zen-Techniken hat auch das Schreiben eine paradoxale
       Doppelfunktion: Es entbindet den Schreibenden vom Leben, denn wer schreibt,
       nimmt nicht am Alltag und Sozialleben teil. Gleichzeitig dient Schreiben,
       literarisches zumal, der Intensivierung und Feier des Lebens, es ist
       fortdauernde Übung, Wiederholung, ein großes Nochmal. Rainald Goetz, der
       heute seinen sechzigsten Geburtstag feiert, hat immer wieder versucht,
       beides so dicht wie möglich aneinander heranzuholen und vielleicht doch
       irgendwie in Deckung zu bringen. Die Kraft, die das zweifellos kostet,
       strömt superlebendig durch seine Texte.
       
       24 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Behrendt
       
       ## TAGS
       
   DIR Rainald Goetz
   DIR Schriftsteller
   DIR Suhrkamp Verlag
   DIR Berliner Ensemble
   DIR Literatur
   DIR Literatur
   DIR Rainald Goetz
   DIR Literatur
   DIR Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Knausgård als Theaterinszenierung: Mit Kochtopf und Selbstzweifel
       
       Regisseurin Yana Ross hat „Sterben Lieben Kämpfen“ nach Karl Ove Knausgård
       am Berliner Ensemble inszeniert. Das Stück lässt einen ratlos zurück.
       
   DIR Seltener Auftritt von Rainald Goetz: Abstrakte Texte und echte Menschen
       
       Der Autor Rainald Goetz schenkt der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ eine
       fulminante Blattkritik. Ein Ortstermin im Berliner Wissenschaftskolleg.
       
   DIR Selfie-Literatur von Ben Lerner: Auf den Schultern von Giganten
       
       Ben Lerner weiß um das Erbe der Literatur und erzählt ihre Gegenwart. Ein
       Mainstreambuch ist sein Roman „22:04“ allerdings nicht.
       
   DIR Gewinner des Georg-Büchner-Preis 2015: Rainald Goetz ausgezeichnet
       
       Rainald Goetz bekommt den Georg-Büchner-Preis 2015. Er sei ein
       einzigartiger „Chronist der Gegenwart“, meint die Deutsche Akademie für
       Sprache und Dichtung.
       
   DIR Romanprojekt von Karl Ove Knausgard: Eines Menschen Herz
       
       Die Biografie, die einen gerade voll drauf sein lässt: Überlegungen einer
       Leserin, die an Karl Ove Knausgard verloren ging.
       
   DIR Klagenfurt auf der roten Liste: Bedrohung Fernsehen
       
       Der ORF will sich von der Live-Übertragung des
       Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt zurückziehen – die
       Literaturszene protestiert.
       
   DIR 50 Jahre Literarisches Colloquium Berlin: Wellnesshotel der Literaten
       
       Die Großen wie Grass und Walser kamen ebenso ins Literarische Colloquium
       wie viele junge Talente der Literatur. Das Haus feiert 50-jähriges
       Bestehen.
       
   DIR „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz: Schweine des Kapitals
       
       Rainald Goetz' Konzeptroman kommt bei den Kritikern schlecht an und wird
       doch besprochen. Gewidmet ist er allen enthemmten Ich-Idioten.
       
   DIR Rainald Goetz' Roman „Johann Holtrop“: Gefeuert, gefeuert, gefeuert
       
       Rainald Goetz präsentiert im Deutschen Theater Berlin sein neues Werk
       „Johann Holtrop“. Ein Roman, so einfach wie möglich.