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       # taz.de -- Jugendarbeitslosigkeit in Europa: Kinder der Krise
       
       > Jeder fünfte unter 25-Jährige ist in Südeuropa ohne Job. Drei von ihnen
       > haben wir besucht, in Madrid, Rom und Athen.
       
   IMG Bild: 2012 wollte die EU eine Jobgarantie für unter 25-Jährige einführen. Auf diesem Arbeitsamt in Rom ist davon noch nichts angekommen.
       
       ## David aus Madrid: Prekäres Auf und Ab
       
       Als „staatlicher Saisonarbeiter“ stellt sich David Beniliam gerne vor, wenn
       er nach seiner Beschäftigung gefragt wird. Der 28-jährige Fotograf ist der
       Prototyp des jungen Spaniers. Seit Abschluss seiner Studien vor sechs
       Jahren arbeitete er insgesamt zwei Jahre, davon nur vier Monate in seinem
       Beruf, den Rest als Pflegehilfspersonal in allen möglichen Krankenhäusern
       und Gesundheitsposten des spanischen Sozialsystems. Dann vertritt er kranke
       Kollegen oder Frauen im Mutterschaftsurlaub.
       
       Den Rest war er arbeitslos, meist ohne Bezüge. „Jugendarbeitslosigkeit ist
       nicht so wie die Arbeitslosigkeit bei älteren Menschen“, weiß er zu
       berichten. „Es ist ein ständiges Auf und Ab, ein Leben mit prekären Jobs.
       Ich hatte alle möglichen Verträge, von fünf Tagen bis zu einem Jahr am
       Stück.“
       
       55 Prozent der jungen Spanier unter 25 sind offiziell ohne Job – in die
       Statistik werden allerdings auch die Immatrikulierten eingerechnet. Wer
       diese Altersgrenze überschreitet, hat meist auch kein besseres Leben, nur
       die Statistiken untersuchen dies nicht mehr. Wenn Beniliam mal wieder ohne
       Arbeit ist, rutscht er gar in eine weitere Problemgruppe, die der
       Haushalte, in der kein einziges Mitglied arbeitet.
       
       Sein Vater verstarb, als er 23 war. Seine Mutter, mit der er zusammenlebt,
       ist seit vier Jahren ohne Arbeit. Sie verlor ihre Anstellung als
       Chefsekretärin in einem Zeitschriftenverlag nach mehr als 37 Jahren und ist
       nun mit ihren 50 Jahren zwar hochqualifiziert, aber nicht mehr
       vermittelbar. Die Stütze lief vor mehr als einem Jahr aus. Die Familie lebt
       von dem, was Beniliam verdient oder eben nicht, von einer Witwenrente und
       von der Pension der Großmutter, die ebenfalls den Haushalt teilt.
       
       „So manches Mal habe ich daran gedacht, auszuwandern“, berichtet Beniliam.
       Zuletzt bei einer Reise nach Lateinamerika. „Dort habe ich junge Spanier
       kennengelernt, die im Tourismusbereich tätig sind.“ Europa kommt für ihn
       nicht infrage, denn sein Englisch „ist nicht allzu gut“. Andere
       Fremdsprachen spricht er nicht.
       
       Wahlen, Politik, Europa … Beniliam interessiert all das nur wenig. „Ich
       glaube nicht an die Parteien und die Demokratie“, sagt er. Mit gerade
       einmal 18 ging er an die Urnen, „und danach nie wieder“.
       
       An den sozialen Protesten, die in den letzten Jahren in Spanien deutlich
       zugenommen haben, hat er sich kaum beteiligt. „Mit Ausnahme der Aktionen im
       Gesundheitsbereich gegen die Privatisierung und die Kürzungen“, sagt er.
       Schließlich ist er hier unmittelbar betroffen. Denn die Qualifizierung für
       eine Festanstellung hat er längst. Doch freie Stellen werden seit Jahren
       nicht mehr besetzt, die Arbeitsbelastung nimmt ständig zu, die Gehälter
       wurden gekürzt.
       
       „Ich bin trotz der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht verbittert“,
       sagt Beniliam. Was ihn am meisten an der Krise schmerzt, sind die älteren
       Menschen. „Im Krankenhaus und in den Gesundheitsposten habe ich immer
       wieder mit Rentnern und mit älteren Arbeitslosen zu tun, die alles verloren
       haben. Das ist das große Drama der letzten Jahre“, ist er sich sicher.
       RAINER WANDLER 
       
       ## Giorgio aus Rom: Keine Lust zu jammern
       
       Nein, verzweifelt wirkt Giorgio nicht, obwohl er zu dem Heer der eine
       Million Jugendlichen in Italien gehört, die erfolglos Arbeit suchen.
       Lederjacke, Jeans, ein kurz getrimmter Vollbart, die Sonnenbrille ins
       dichte schwarze Haar geschoben: Modisch ist der 21-Jährige auf der Höhe.
       Zum Jammern ist ihm nicht zumute, trocken sagt er, „wir sind ziemlich viele
       in Rom, überhaupt in ganz Italien“ – viele, die ohne Job dastehen.
       
       Seit knapp einem Jahr ist er in dieser Situation, seit dem Abitur an einem
       sozialpädagogischen Gymnasium. Gleich an die Universität wollte Giorgio
       nicht, „erst mal muss ich meine Ideen ordnen“. Und erst mal wollte er
       deshalb Geld verdienen, eine Arbeit im Einzelhandel, was Prekäres auch zur
       Not, womöglich bei einem Callcenter, „aber es gibt einfach nichts, was soll
       ich sagen, die Lage ist mehr als schwierig“, sagt er.
       
       Giorgio macht dennoch, anders als viele seiner Altersgenossen, nicht auf
       Politikverdrossenheit. Zur EP-Wahl geht er auf jeden Fall, „und ich wähle
       Renzi“. Gemeint ist Matteo Renzi, der 39-jährige, seit knapp drei Monaten
       amtierende Premier von der gemäßigt linken Partito Democratico (PD), der
       zwar gar nicht fürs EP antritt, der die Europawahl aber zu einem Votum über
       sich umfunktioniert hat. „Der weiß, was er will“, begeistert sich Giorgio,
       „und er ist entschlossen, in Italien eine Wende durchzusetzen. Vor allem
       aber: Er ist jung.“
       
       Klar, Beppe Grillo mit seiner Protestliste MoVimento5Stelle (M5S) kommt bei
       vielen Jungwählern, vor allem bei den Arbeitslosen unter ihnen gut an, mit
       ihren wütenden Tönen gegen die verkommene politische Klasse Italiens
       genauso wie gegen Merkels Austeritätseuropa. Auch Giorgio schreibt Grillo
       Verdienste zu. „Er sagt immer, was er denkt, und er enthüllt viele
       Missstände – aber ich sehe in ihm keinen Leader, der imstande wäre, Italien
       zu regieren.“
       
       Renzi will Europa einen „Kurswechsel“ verordnen – und Giorgio sieht das
       genauso. Beispiel Flüchtlingspolitik. „Es kann doch nicht sein, dass
       Italien damit völlig alleingelassen wird, hier wäre wirklich europäische
       Solidarität angesagt.“ Italiens Krise aber hält er für weitgehend
       hausgemacht; am Geschimpfe auf Deutschland will er sich nicht beteiligen.
       „Ich war vor ein paar Jahren in Frankfurt, da sieht man ein Land, dem es
       einfach besser geht, weil die Bürger anders ticken.“ Und dann malt er ein
       Bild von „Germania“, das eher an Singapur erinnert als an Deutschland, „in
       dem sich die Menschen halt wirklich an die Regeln halten, in dem es zum
       Beispiel keinem in den Sinn käme, auch nur eine Zigarettenkippe auf die
       Straße zu werfen“. Italien dagegen? „Hier denkt doch jeder nur an sich,
       hier werden fröhlich die Steuern hinterzogen.“
       
       Auch an der deutschen Kanzlerin Angela Merkel hat er eigentlich nichts
       auszusetzen, „das ist doch schon einmal gut, dass eine Frau
       Regierungschefin ist, und die Merkel weiß, was sie will, sie hat die nötige
       Entschlossenheit“. Genau die Entschlossenheit, die Giorgio sich jetzt von
       Renzi wünscht, „dann geht es auch bei uns wieder aufwärts“. MICHAEL BRAUN 
       
       ## Jorgos aus Athen: Warten auf die Uni-Karriere
       
       Jorgos Theodotou hat aus seiner Sicht alles richtig gemacht: Studium der
       Politikwissenschaften in Athen, Masterstudium an der Universität
       Paris-Dauphine, fließend in Englisch und Französisch. Am liebsten würde er
       eine akademische Laufbahn einschlagen. Doch sein Berufsziel klingt fast
       utopisch im kriselnden Griechenland. Vorerst ist der 25-Jährige ohnehin
       ohne Job. Immerhin konnte er im vergangenen Jahr an einem EU-Hilfsprogramm
       für junge Arbeitslose teilnehmen und fast sechs Monate lang bei einer
       Athener Werbefirma auf 500-Euro-Basis arbeiten. Bis heute wartet er
       allerdings auf sein Geld.
       
       Theodotou ist kein Einzelfall, fast 20 Prozent der jungen Griechen sind
       ohne Job. Auffallend ist dabei, dass viele von ihnen mindestens einen
       Universitätsabschluss haben, denn lange Zeit galt auch in Griechenland
       Bildung als bester Schutz vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Die
       Gewissheit, nach einer anspruchsvollen Ausbildung ohne große
       Schwierigkeiten einen Job zu finden, ist jedoch längst vorbei: Laut einer
       Studie des Gewerkschaftsdachverbandes GSEE ist die Arbeitslosigkeit unter
       Hochschulabsolventen im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 um satte 190
       Prozent gestiegen.
       
       „Das liegt zum Teil, aber nicht ausschließlich an der Krise“, glaubt
       Theodotou. „Gerade im akademischen Bereich gibt es kaum Transparenz beim
       Stellenbesetzungsverfahren, Stellen werden in der Regel über Bekannte
       vermittelt.“ Und: „In der Privatwirtschaft bekommst du erst recht Absagen.
       Da musst du praktische Berufserfahrung vorweisen, damit du eine
       Arbeitsstelle bekommst. Aber wie sollst du Berufserfahrung sammeln, wenn du
       noch nie eine richtige Arbeitsstelle bekommen hast?“, klagt der junge
       Akademiker.
       
       Bewerbungsfrustration. Was tun? Am liebsten würde Theodotou wieder nach
       Frankreich ziehen und dort seinen Traum von einer akademischen Karriere
       verwirklichen. Nur das Geld dafür fehlt ihm. Derzeit erkundigt er sich nach
       einem Stipendium für Absolventen und junge Forscher. Selbst wenn er nur
       eine Erasmus-Förderung von 500 Euro im Monat bekäme, würde er die Rückkehr
       nach Paris wagen, sagt er.
       
       Dass der junge Politikwissenschaftler sich für Politik interessiert,
       versteht sich von selbst. Am 25. Mai geht er auch wählen. Wen er wählt,
       sagt Theodotou nicht direkt, nur so viel will er verraten: „Für die
       altgedienten Volksparteien habe ich nichts übrig. Ich hoffe auf eine
       politische Kraft, die dazu beitragen kann, dass sich die Kluft zwischen dem
       Norden und dem Süden, zwischen dem reichen und dem armen Europa, kleiner
       wird.“ Ob es die Linkspartei schafft? „So ganz sicher bin ich mir nicht.“
       
       Jedenfalls schwindet sein Vertrauen in die heutige Politikergeneration in
       ganz Europa. „Nehmen Sie doch François Hollande als Beispiel“, sagt
       Theodotou. „Die Franzosen setzten Hoffnungen auf ihn, doch nur ein Jahr
       nach seinem Wahlsieg ist er im absoluten Umfragetief.“ Warum? „Weil er
       seine Wahlversprechen nicht umgesetzt und das Vertrauen der Menschen
       enttäuscht hat“. JANNIS PAPADIMITRIOU
       
       20 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
   DIR Michael Braun
   DIR Jannis Papadimitriou
       
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