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       # taz.de -- Die Wahrheit: Eine für alle
       
       > Euro-Urne (2): Heute erklärt uns Michael Sailer, warum man im Fall der
       > CSU ohnehin nicht von einer Wahl sprechen kann.
       
       Als ich klein war, war Wahl. Auf den Straßen hingen Plakate, die sagten
       „Winfried Zehetmaier“ und „CSU“. Dazu sah ein Mann grimmig aus. Das
       imponierte mir, auch wenn ich den Mann nicht mochte. Er sah anders aus als
       die Leute, die ich daheim traf. Die sprachen leise, hatten lange Haare,
       waren polütisch und machten die Tür nicht zu, wenn sie aufs Klo mussten.
       
       Eines Vormittags nahm ich ein Blatt Papier, kritzelte ein Gesicht, grimmig
       wie die auf den „Wanted“-Plakaten in Fix und Foxi (Reward 1000 $), und
       schrieb „CSU“ drunter. Viel mehr konnte ich noch nicht schreiben, aber es
       genügte, um meine Mutter zu ärgern. Das Bild leimte ich mit Pfützenwasser
       an eine Aschentonne. Es fiel im Regen bald wieder herunter.
       
       Später wollte ich wissen, was CSU ist, aber das konnte mir niemand genau
       sagen. CSU war so ähnlich wie Hitler. CSU war böse, gut, dafür, dagegen,
       laut vor allem und grimmig meistens; CSU war, schloss ich, alles außer uns.
       Mehr weiß ich bis heute nicht. Unsere Nachbarin war CSU, weil sie mit dem
       Holzpantoffel gegen die Wand schlug, wenn die polütischen Diskussionen der
       Wohnzimmerkommune zu lang dauerten. Später war mein Englischlehrer CSU; das
       stand auf dem Kugelschreiber, den er stolz zur Schau stellte, wenn er
       brüllte und Hefte zerfetzte. Parteien waren an der Schule verboten, aber
       CSU war ja keine Partei.
       
       CSU war auch nicht polütisch, was ansonsten bei uns fast alles war. Immer
       saßen abends Leute in unserem Wohnzimmer oder auf dem Klo bei offener Tür
       und redeten polütisch, und einmal sahen zwei davon aus, als wäre dort, wo
       sie herkamen, Krieg gewesen. Sie erzählten von Prügeln, Polizei und anderen
       unerfreulichen Sachen, vor denen sie weggelaufen und bei uns gelandet
       seien. Auch das, wovor sie weglaufen mussten, war CSU.
       
       Wenn wir am 1. Mai auf den Schultern der Eltern saßen und „Nie wieder
       Verschißmus! Nie wieder Krieg!“ plärrten, dann gegen CSU. Wenn wir uns die
       Haare schulterlang wachsen ließen und bald darauf rasierten und färbten,
       war das wegen und gegen CSU. Später durften wir wählen und wählten
       begeistert Kommunisten, angebliche Naturschützer und vermeintliche
       Vertreter der Arbeiterklasse. Immer waren wir die Verlierer. Irgendwann
       wurde mir klar, warum: weil CSU alles ist. CSU umfasst Anarchisten,
       Faschisten, Bauern, Proletarier, Pfaffen, Bonzen, Säufer und Heilige, Stars
       und Stubenhocker, Spießer, Streber, Polizisten, Aussteiger, Rentner und
       Durchstarter, Kleingartler, Großgrundbesitzer, Spekulanten, Spaziergänger,
       Dackelzüchter und Rennfahrer, Trottel, Schreihälse, Künstler und weise
       Greise.
       
       Wir wählten auch nichts anderes. Wozu sollte jemand eine Partei gründen,
       wenn es schon eine gab, die alles war? Wozu sollte man die wählen, wenn man
       sie nicht war? Und wozu eine andere? Ich selber habe nie CSU gewählt und
       werde nie CSU wählen, weil das nicht geht. CSU wählt man nicht, CSU ist
       man, und ich bin nun mal nicht CSU. Pech gehabt. Oder Glück, wer weiß.
       
       19 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sailer
       
       ## TAGS
       
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