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       # taz.de -- Zum 100. Geburtstag von Sun Ra: Musik für ein besseres Morgen
       
       > Space is the place: Der Musiker Sun Ra wandte sich gegen rassistische
       > Zustände auf Erden und kreierte einen utopischen Raum in der Zukunft.
       
   IMG Bild: Sun Ra im Sommer 1990 in den Niederlanden
       
       Die Wahrheit über den Planeten ist eine böse Wahrheit. So lautet das Mantra
       des Stücks „The Truth About Planet Earth“, Sun Ra Live 1978. Nach sieben
       Minuten bad & sad truth zu Schlagzeug und Piano folgt der nächste Song.
       Gebetsmühlenfunky wiederholen die vier Musiker: „Space is the place, Space
       is the place …“
       
       Nimmt man die beiden Titel beim Wort, dann hat man die Essenz des Sun Ra.
       Die Erde ist ein feindseliger Ort für einen African American, also lasst
       uns ein besseres Morgen suchen im Space!
       
       Viele Motive bei Sun Ra haben einen doppelten Boden: Space ist der Raum zum
       Leben und das Weltall. Dass der afroamerikanische Visionär des Freien Jazz
       Zuflucht im Space sucht, das hat auch damit zu tun, dass er in Birmingham,
       Alabama zur Welt kommt, „der vielleicht am schärfsten segregierten Stadt
       der Erde“, so sein Biograf John Szwed.
       
       Hier regiert der Ku-Klux-Klan, noch 1963 fallen in einer Baptistenkirche
       vier schwarze Mädchen einem Anschlag zum Opfer, im selben Jahr setzt George
       Wallace, der Gouverneur von Alabama, die Nationalgarde ein, um die weißen
       Schulen „negerfrei“ zu halten.
       
       ## Kein Platz zum Leben
       
       Zu diesem Zeitpunkt ist der am 22. Mai 1914 als Herman Poole Blount
       geborene und im Zeichen des Southern Baptism aufgewachsene Pianist und
       Bandleader längst im toleranteren Norden gelandet. „Space-Stimmen“ und
       „Space-Weisheit“ haben ihn nach Chicago gebeamt, erklärt der Mann, der sich
       nach dem ägyptischen Sonnengott Sun Ra nennt und vom Saturn kommt.
       
       Balkan Music Co. ist ein Studio im Chicagoer Stadtteil Pilsen, dort steigt
       1956 die erste Session für Sun Ras neues Label: El Saturn Records. Slogan:
       „Beta Music For A Beta World.“
       
       Alabama, Ägypten, Balkan, Chicago, Pilsen, Saturn – der Mann ist
       herumgekommen, die Grenze zwischen realen und imaginären Orten ist obsolet,
       wenn Space der einzige Place ist, wo man leben kann als African American.
       
       Wie die von ihm viral beeinflussten Dub- bzw. Funk-Gottheiten Lee Scratch
       Perry („Arkology“) und George Clinton („Mothership Connection“) gilt Sun Ra
       als Wahnsinnsgenie. Auf der Seite des Wahnsinns verorten auch viele Fans
       von Ra, Perry & Clinton die kryptoreligiöse bis synkretistische Rede vom
       Space, der the Place sein soll.
       
       ## Archestra als Gegenmodell zu Sklavenschiffen
       
       Glücklicherweise folgen Sun Ra kluge Sternendeuter, die den
       Esoterik-Verdacht entkräften und seinen Space-Tick auf eine, nun ja,
       historisch-materialistische Grundlage stellen.
       
       Menschenhandel heißt das Geschäft. Schwarze Frauen und Männer aus Afrika
       werden auf Schiffen über den Atlantik geschafft, diejenigen, die nicht ins
       Meer geworfen werden, weil sie schwach sind oder schwanger, finden sich in
       einer unbarmherzigen Welt wieder.
       
       Sie werden gemustert, vermessen, taxiert, von ihren Angehörigen getrennt
       und dienen fortan fremden Herren weißer Hautfarbe. Sun Ra ist nicht zu
       verstehen ohne die afrikanisch-amerikanische Matrix namens Sklaverei, eine
       Erfahrung der Dislokation, der Auslöschung von Geschichte.
       
       Historische Antworten: Nein, ich bin nicht Cassius Clay, ich bin Muhammad
       Ali. Mein Name ist X, Malcolm X, ich scheiß auf meinen Sklavennamen. Ich
       bin Sun Ra, Space ist mein Place. Arkestra nennt er seine Band, noch ein
       doppelter Boden: Wie Arkestra klingt es, wenn sie im Süden Orchestra sagen.
       Ark ist die Arche, das rettende Gegenmodell zu den Sklavenschiffen.
       
       ## Ein utopischer Raum
       
       Die intergalaktische Zukunft sei ein Ort der Selbstprojektion, ein
       utopischer Raum, befreit von der irdischen Last aus Vorurteilen und
       Ungleichheiten. So erläutert die Kunstprofessorin Camille Norment Sun Ras
       Anrufung des Außerirdischen und Exotischen. Unabhängigkeit durch Separation
       statt Integration, diese politische Option hört der Kritiker John Corbett
       in Sun Ras Space-Mantra.
       
       Beide Ra-Analytiker umschreiben so eine komplexe Praxis, für die sich bald
       der Begriffscontainer Afrofuturismus etabliert. Sun Ra: „Das Unmögliche
       zieht mich an, denn alles Mögliche ist schon gemacht worden, und die Welt
       hat sich nicht verändert.“
       
       Obamas Präsidentschaft geht zu Ende, ohne dass sich irdische
       Glücksversprechen über die Maßen erfüllt hätten, da strahlt Sun Ras
       eskapistisch-separatistische Space-Vision zum 100.Geburtstag umso heller.
       
       Auf der eingangs erwähnten Version von „Space is the Place“ – einer von
       Tausenden im wuchernden Werk Sun Ras – wird zwei Minuten lang die
       Titelzeile repetiert, ehe die Instrumente einsteigen, in aller Freiheit,
       befreit von allem Staub, den Feinde und Freunde des Free Jazz angehäuft
       haben.
       
       ## Lesbarkeit vergweigern
       
       Die Dialektik von Freiheit und Disziplin, eine Spezialität des
       Drogengegners und Disziplinfanatikers Sun Ra, ist überliefert von
       Mitmusikern. „Wir haben so viel geübt, es war eine sehr schwierige Musik“,
       so der Trompeter Art Hoyle. „Er sagte mir, ich solle improvisieren, ich
       fragte, in welcher Tonart (key), und er sagte: space key.“ 
       
       Exzentriker wie Thelonious Monk oder Sun Ra „verweigerten die Lesbarkeit
       ihrer oft nur instinktiv befolgten Strategie mit jedem Schritt“, schreibt
       der Autor Diedrich Diederichsen und sieht darin ein Modell des autonomen
       Künstlers, das sich der Fremdbestimmung durch die weiße Mehrheit entzieht,
       und sei es durch exotische Verkleidungen und Soundmaskeraden.
       
       An „tones not notes“ glaube Sun Ra, also benutzt er als einer der ersten
       Jazzer übernatürliche Instrumente. Moog Synthesizer und Rhythmusmaschine
       machen Supertöne, auch ohne Notation.
       
       Trompeter Hoyle erzählt von einer nächtlichen Begegnung mit dem Arkestra
       1961 in New York: „Sie trugen Bergarbeiterhelme mit Grubenlampen, Sun Ra
       hatte eine riesige Goldkette mit einer Sonne auf der Brust. In der
       Empfangshalle trafen sie auf eine Lady, die war zu Tode erschrocken, sie
       hielt sie für Außerirdische.“
       
       ## Außerirdische Sexualität
       
       Sun Ras Sehnsucht nach dem Außerirdischen ist für den afrobritischen Autor
       Kodwo Eshun ein Bruch mit den christlich grundierten Erlösungsversprechen
       von Southern Gospel und Soul, die „das ganze Projekt der
       Bürgerrechtsbewegung“ geprägt hätten.
       
       Außerirdisch war auch Sun Ras Sexualität, zumindest gemessen an der
       Alabama-Norm des 20. Jahrhunderts. Darauf weist Tim Stüttgen in der
       Zeitschrift Testcard und schlägt eine queere Lesart des Ausnahmekünstlers
       vor. „Oder – wie ich es lieber nennen möchte – quare.“
       
       Quare? Wieder doppelter Boden: Der afroamerikanische Queer-Theoretiker J.
       Patrick Johnson verwendet den Begriff so, wie seine Südstaaten-Großmutter
       ihn ausgesprochen habe. So soll quare „in die unmarkiert weiße Fundierung
       queerer Theorien intervenieren“.
       
       Angesichts der Homophobie im (afro-)amerikanischen Jazz hatte jede
       Andeutung von Gay Pride die Überlebenschance eines Schneeballs in der
       Hölle, so Stüttgen. „Bei Sun Ra, dessen Alien Drag sich radikal der
       geschlechtlichen und menschlichen Normativität entzieht, verkompliziert
       sich die Quareness noch mehr, wenn man seine angebliche Homosexualität
       mitdenkt.“
       
       ## Galaktische Musik und Sonnenstaub
       
       Nach seinem Tod 1993 wird öffentlich, dass Sun Ra schwul war, jedoch kaum
       sexuelle Kontakte hatte. Sein Biograf John Szwed verschweigt diese
       Tatsache, zitiert jedoch Sun Ras Credo: Sex habe ihn nie interessiert, das
       einzig Bedeutende auf der Welt sei die Musik, „a full compensation for any
       handicaps I have“. 
       
       Seine angeborenen Handicaps im irdischen Jetzt kompensiert er mit
       galaktischer Musik für ein besseres Morgen: „Jazz From Tomorrow’s World“
       heißt ein Album, „Of Other Tomorrows Never Known“ ist sein Gruß an die
       Beatles, deren „Tomorrow never knows“ 1966 der Rockmusik den Weg in ein
       besseres Morgen weist.
       
       Sun hinterlässt Sonnenstaub an entlegenen Orten, weit ab vom Planeten Jazz.
       Detroits Agit-Rocker MC5 covern sein „Starship“, Detroits Techno Guerilla
       Underground Resistance bereist die Ringe des Saturns, im Kölner Opernhaus
       rekonstruiert Karlheinz Stockhausen Sun Ras Alien Drag, im
       Post-Acid-England beschwört die Band mit dem sprechenden Namen A.R.Kane
       „Love from outta space“ Liebe ohne Handicap.
       
       Im Post-Punk England modelliert Jerry Dammers The Specials (& The Special
       AKA) nach dem Vorbild des Arkestra, bevor er seine Schaffenskraft ganz dem
       Sonnengott widmet: The Spatial AKA Orchestra.
       
       2014 schließlich kritisiert die Austroberliner Band Ja, Panik mit Sun Ra
       die Abschottungspolitik der Festung Europa: „Ich wünsch mich dahin zurück,
       wo’s nach vorne geht / ich hab auf back to the future die Uhr gedreht /
       space is the place, der die Flüchtigen liebt / ganz wie jeder Anfang in
       Trümmern liegt / not sans papier, but sans patrie.“
       
       Space ohne Vaterland. Hätte Sun Ra gefallen.
       
       22 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Walter
       
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