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       # taz.de -- Schützenvereine: Geht doch!
       
       > Die Saison der Schützenfeste beginnt. Viele denken an Männer in Uniform
       > mit komischen Puschelhüten. Doch wie schlimm sind Schützenvereine
       > wirklich?
       
   IMG Bild: Gesichter des Schützenwesens: Schützenkönig Roger Habermann (rechts) und sein Lebensgefährte Guido Leffrang.
       
       HAMBURG taz | Stadtfest Meppen 2013: Die emsländische Kreisstadt ist
       weitestgehend verkehrsberuhigt, Kinderkarussels, Bierwagen, Fressbuden und
       Bühnen sind am Samstagnachmittag noch locker bevölkert; die Menschenmassen
       rücken erst gegen Abend an. Plötzlich erklingt aus der Ferne das Geschepper
       eines Spielmannszuges – ungewöhnlich für Anfang September, denn dann ist
       die Schützenfestsaison normalerweise vorbei. Viele junge und alte Männer
       und wenige Frauen marschieren im Gleichschritt in die Innenstadt ein,
       manche in vollem Ornat mit Orden und Königsketten und Puscheln am Hut, eine
       schier endlose Formation von Schützenbrüdern bewegt sich Richtung
       Fußgängerzone.
       
       Die bunte Stadtfestmeile ist plötzlich dominiert von grünen Uniformierten.
       Riesige Fahnen in Rot und Grün und Braun mit aufgesticktem Eichenlaub,
       Zielscheiben oder Hirschköpfen werden gehisst. Während die Meppener
       gelassen bleiben, gaffen Touristen mit offenem Mund, eine Frau schüttelt
       lachend den Kopf, als Meppenes Bürgermeister Jan Erik Bohling (CDU) die
       Männer allen Ernstes „mit einem dreifachen Horrido“ begrüßt und alle
       dreimal „Horrido“ zurückbrüllen. Nahezu alle haben eine Flasche Bier in der
       Hand, auch die mit den Orden und Ketten und Puscheln. Dabei müssen sie
       später noch auf einen hölzernen Adler zielen, denn heute ist
       „Kaiserschießen“, da wird aus den Schützenkönigen aller 16 Meppener
       Schützenvereine „der Kaiser ausgeschossen“, wie es im Jargon der
       Schützenbrüder heißt. Der Sieger kriegt zur Belohnung eine mit allerlei
       Blechorden behangene Kette und regiert fortan für fünf Jahre die
       „vereinigte Schützenbruderschaft Meppen“.
       
       „Im Auge Klarheit – im Herzen Wahrheit“: Dieser Schützen-Leitspruch findet
       sich natürlich ebenfalls großformatig und wahrscheinlich handgestickt auf
       einem der Vereinsbanner – aber es gibt wohl kaum einen Satz, der
       überholter, um nicht zu sagen: das glatte Gegenteil dessen ist, was
       Schützenvereine, die eine durchaus interessante Tradition haben, in der
       heutigen Zeit ausmachen. Denn nicht nur beim Meppener Kaiserschießen wird
       das klare Auge bereits vor der ersten Berührung mit dem Abzug routiniert
       getrübt mit Alkohol, auch die Wahrheit im Herzen legt sich zumindest einmal
       im Jahr anlässlich des langen Schützenfest-Wochenendes schlafen. Da nimmt’s
       der Schützenbruder nämlich plötzlich nicht mehr so genau mit
       Vorbildfunktion und Jugendschutz, mit Gleichberechtigung, Rücksicht und
       Respekt – aber vielleicht ist ja auch genau das die Wahrheit, die in
       Wirklichkeit das restliche Jahr über döst.
       
       Nur der bayerische Sportschützenbund ist mit knapp 470.000 Mitgliedern
       größer als die Schützenbünde Niedersachsen und Nordwest mit zusammen knapp
       307.000 Mitgliedern. Dazu kommen die katholischen Schützenbruderschaften,
       die vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Niedersachsen aktiv
       sind.
       
       Dabei gilt die Faustregel: je ländlicher, desto mehr Vereine; der
       Schützenbund Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim vereint 22.000 Menschen
       in rund 230 Vereinen – allein im Landkreis Emsland werden zwischen April
       und August 180 Schützenfeste gefeiert.
       
       Wer da nicht mitmacht, ist im Sommer recht einsam auf weiter Flur, die
       Straßen sind bis auf die Grünröcke mancherorts menschenleer. Wer keine
       Uniform tragen mag, der feiert samt Kind und Kegel trotzdem mit auf einer
       der zahllosen Feste in Orten oder Bauernschaften wie Brümsel, Plantlünne
       oder Kathen-Frackel. Nicht selten nehmen EmsländerInnen extra fürs
       Schützenfest ein paar Tage Urlaub.
       
       Überall läuft es gleich ab: Die Schützenbrüder marschieren hinter einem
       Spielmannszug her, der erbärmlich schief den „Narhallamarsch“ oder „Blau
       blüht der Enzian“ intoniert, danach findet ein Wettschießen auf eine
       Scheibe oder einen Holzvogel statt, und wer gewonnen hat, wird
       Schützenkönig. Und der muss zwei bis vier Tage lang begossen werden, wobei
       er einen guten Teil davon selbst ausgeben muss – es ist nicht eben billig,
       König zu sein.
       
       Auch in Bawinkel-Plankorth wird ordentlich gebechert, da kann der Erste
       Vereinsvorsitzende Heinz Lake noch so über den NDR schimpfen. Der wollte
       nämlich im September 2010 in der Reihe „45 Minuten“ eine Dokumentation über
       das Schützenfest in der zur kleinen emsländischen Gemeinde Bawinkel
       gehörigen Bauernschaft Plankorth mit dem Titel „Prost Deutschland“ senden.
       
       Aber erst ein knappes Jahr später lief sie im Fernsehen, denn die
       Plankorther Schützen hatten sich gegen die Ausstrahlung gewehrt: Nach
       Angaben Lakes habe der Sender ihnen „eine schöne Dokumentation über
       Volksfeste im Norden versprochen“. Herausgekommen sei aber eine Sendung,
       „die sich mit Alkoholkonsum oder gar Alkoholmissbrauch beschäftigt“. Das
       sei eine verzerrte und falsche Darstellung. Der NDR bearbeitete den Beitrag
       dann tatsächlich noch einmal – aber selbst die entschärfte Version zeigte
       im Grunde genommen nichts weiter als bechernde Menschen. Auch deren
       Ausstrahlung wollte Lake mithilfe eines Rechtsanwalts verhindern, diesmal
       allerdings ohne Erfolg.
       
       Wenig Erfolg hatten auch zwei Handvoll junger Schützenbrüder, die sich im
       Jahr 2011, nach einem bühnenreifen Auftritt auf dem Schützenfest im
       emsländischen Örtchen Wesuwe, plötzlich bei Youtube wiederfanden, und zwar
       in einem wackelig aus der Hand aufgenommenen Video mit dem Titel
       „Deprimierendes Emsland: 8. Mai. Wesuwe.“ Zu sehen ist deren Einmarsch auf
       das Festgelände: Trotz strahlenden Sonnenscheins ganz offensichtlich
       bereits stark alkoholisiert, formieren sie sich in Zweierreihen, ein paar
       mit Bieren in der Hand, und marschieren, den Gleichschritt nur mühevoll
       einhaltend, Richtung Festzelt. Dabei grölen sie laut und schief „Preußens
       Gloria“.
       
       Keine zwei Minuten dauert der kleine Einblick in die Gaudi – zu lang für
       die Protagonisten. Einer von ihnen machte sich die Mühe, Namen und Adresse
       der Filmemacherin ausfindig zu machen und stattete ihr einen Besuch ab.
       Seiner nachdrücklich vorgetragenen Bitte, das Video unverzüglich aus dem
       Internet zu entfernen, kam die nicht nach, allerdings tat das Youtube – per
       automatisierter Reaktion auf die Beschwerde der untalentierten Sänger. Kurz
       darauf erschien der Film auf dem Videoportal Vimeo, wo er bis heute steht.
       
       Dabei handeln beide Beispiele von den eher harmlosen Normalitäten auf
       Schützenfesten. Später am Tag, wenn zum Bier noch der Korn oder allerlei
       bunte Schnäpse hinzukommen, sind sowohl die uniformierten als auch die
       zivil gekleideten, oft noch minderjährigen Feiernden vollends außer Rand
       und Band, da fliegen auch mal Stühle oder Fäuste, bevor der Magen nicht
       mehr mitspielt. Auch dabei sind nicht selten Kinder zugegen.
       
       „Hier gibt’s ja sonst nichts“, ist die übliche Begründung für
       Mitgliedschaft in Schützenvereinen und Teilnahme an Schützenfesten. Doch
       die fast schon entschuldigend klingende Begründung greift zu kurz,
       schließlich könnten sich all die Menschen vom Land, die die
       Alternativlosigkeit von Schützenfesten und -vereinen beklagen, selbst
       Alternativen schaffen. Angesichts der schwachen, lediglich dem
       demografischen Wandel geschuldeten Rückläufigkeit der Mitgliedszahlen in
       Schützenvereinen scheint es eher so zu sein, dass auch die junge Generation
       keinerlei Berührungsängste vor Marschmusik und Uniformen hat und sich ohne
       Not einfügt in eine Welt der Gleichmacherei von Männern und der
       Ungleichheit der Geschlechter: Noch immer sind die Schützenvereine in der
       Überzahl, in denen eine Schützenkönigin lediglich das schmückende Beiwerk
       des Regenten ist.
       
       Schwule Königspaare sind bundesweit die Ausnahme und werden mancherorts
       sogar verboten: Der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften
       hat einen ihrer Mitgliedsvereine, der Münsteraner Bruderschaft St.
       Wilhelmi, vor zwei Jahren schriftlich angewiesen, dem Lebensgefährten ihres
       schwulen Schützenkönigs das Auftreten als dessen Partner zu untersagen. Er
       dürfe beim Marschieren lediglich vor oder hinter ihm hergehen. Die
       Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat dieses Vorgehen als rechtswidrig
       eingestuft und an den Schützenverband appelliert, die Regelung
       zurückzunehmen – bislang erfolglos. Der Schützenverband seinerseits beruft
       sich auf die katholische Kirche.
       
       Attraktiv macht die Schützenvereine aber wohl eher, dass sie eine Art
       Ausnahmezustand sanktionieren. Das ist wichtig in ländlichen Strukturen mit
       ausgeprägter Sozialkontrolle, in denen es kaum die Möglichkeit gibt, im
       Schutze der Anonymität mal so richtig die Sau rauszulassen. Beim
       Schützenfest darf das jeder, dort darf man selbst jenem Nachbarn dreckige
       Witze erzählen, der sonst die Polizei ruft, wenn er um 22:01 Uhr noch
       Gelächter von nebenan hört. Dort dürfen verheiratete Männer auch mal die
       Frau des besten Freundes anbaggern, dort verbietet den Jugendlichen keiner
       das Pöbeln und Saufen, im Gegenteil: Wer nüchtern bleibt, ist ein
       Spielverderber. Der Schützenverein: ein paramilitärisches Paradies des
       Miteinanders, wo alle Unterschiede aufgehoben sind.
       
       Der nicht ganz unumstrittene Kriminologe Christian Pfeiffer hat in
       Zusammenarbeit mit dem Landkreis Emsland die Studie „Jugendliche als Täter
       und Opfer von Jugendgewalt“ herausgegeben, wonach die Jugendkriminalität in
       der Gegend gering ist. Bei der Präsentation der Studie nannte Pfeiffer als
       Gründe „intakte Strukturen“, ein „Wertekonzept, das allgemein geteilt wird“
       und ein „funktionierendes Vereinsleben“. Das erschwere es den Jugendlichen
       „auszuscheren und dumme Sachen zu machen“.
       
       Saufen meinte er damit freilich nicht, denn da liegt die Quote drei Prozent
       höher als im Bundesdurchschnitt. Auch dafür ist recht eindeutig das
       „funktionierende Vereinsleben“ verantwortlich – Horrido!
       
       16 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schnase
       
       ## TAGS
       
   DIR Schützenvereine
   DIR Tradition
       
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