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       # taz.de -- Kommentar Österreich und der ESC: Ein Land erkennt sich selbst
       
       > Weltoffen und tolerant? Conchita Wurst hat gezeigt, dass die
       > österreichische Gesellschaft viel weiter ist als ihre politische Elite
       > glauben macht.
       
   IMG Bild: Hysterischer Empfang für Conchita am Flughafen Schwechat in Wien.
       
       Was ist Österreich? Conchita Wurst und der bunte Wiener Life Ball, die
       größte Aids-Charity der Welt? Oder Alpen-Idylle und Burschenschafterbälle
       als Tummelplatz für Europas Rechtsextreme? International aufgefallen ist
       das Land eher durch abseitige Verbrecher, wie Wolfgang Priklopil, der die
       Schülerin Natascha Kampusch acht Jahre lang in seinem Keller gefangen
       hielt, oder Joseph Fritzl, der in einem Bunker mit seiner eingesperrten
       Tochter mehrere Kinder zeugte.
       
       Aber das Land ist vielfältiger. Biolandwirtschaft und energieautarker
       Wohnbau haben Verfechter nicht nur im progressiven Lager, sondern auch bei
       den Konservativen. Und der schrille Landwirtschaftsminister André
       Rupprechter von der ÖVP beweist, dass man im Herrgottswinkel sitzen und
       trotzdem für Schwulenrechte eintreten kann.
       
       „Österreichs Wurst ist die beste.“ twitterte also der Erzkatholik
       Rupprechter. Er hatte sich schon wiederholt gegen die Parteilinie für die
       Stärkung von Homosexuellenrechten starkgemacht und meint jetzt, „dass die
       Botschaft genau die richtige war“, nämlich Conchita Wursts Aufruf zu mehr
       Akzeptanz und Toleranz.
       
       Was das Einschwenken der ÖVP auf seine Linie betrifft, gab er sich im
       Ö1-Radio-Interview gebremst optimistisch. Er sprach von einem
       „Evolutionsprozess, der begonnen hat“, und: „Es gibt entsprechende
       Prozesse, die wir eingeleitet haben.“
       
       Das Problem seiner Kollegen in der Politik ist, dass sie zu zaghaft
       auftreten, um ja nicht den konservativen Boulevard gegen sich aufzubringen
       oder Angriffsflächen für Rechtspopulisten zu bieten.
       
       ## Flächendeckende Toleranz
       
       Conchita Wurst aber hat den Augenblick höchster Popularität genutzt, um
       ihre Botschaft für Akzeptanz und respektvollen Umgang in die Welt zu
       tragen. Und plötzlich steht (fast) ganz Österreich hinter dem
       Travestiekünstler mit der Perücke und dem Bart. Für alle, die es bisher
       nicht gewagt haben, diese Toleranz flächendeckend einzufordern, ist jetzt
       der Moment gekommen, sich aus der Deckung zu wagen. Gesundheitsminister
       Alois Stöger (SPÖ) hat es ausgesprochen: „Es geht auch darum, das zu tun,
       wofür die Gesellschaft reif ist. Und ich habe den Eindruck, dass die
       Gesellschaft reifer ist als manche Parteien“.
       
       Wenn Österreicher im Ausland erfolgreich sind, springt die Politik
       natürlich schnell auf den Popularitätszug auf. Von Bundespräsident Heinz
       Fischer abwärts wurden Kommuniqués verschickt, wie stolz man sei. Selbst
       Vizekanzler und ÖVP-Chef Michael Spindelegger, der zur Homoszene und
       nichttraditionellen Lebensentwürfen ein eher distanziertes Verhältnis
       pflegt, wollte nicht fehlen. Allerdings konnte er sich nicht dazu
       durchringen, Conchita Wurst direkt anzusprechen. Das ganze Land sei „stolz
       und freut sich mit Thomas Neuwirth über die große europäische Anerkennung“.
       
       FPÖ-Chef Heinz Christian Strache rang sich schließlich als letzter der
       Parteichefs einen Glückwunsch ab. Seine erste Facebook-Botschaft ließ noch
       erkennen, wie schwer es ihm fiel, dem vor dem Wettbewerb noch verspotteten
       Künstler symbolisch die Hand zu reichen. Nach Protesten vieler seiner
       Facebook-Freunde korrigierte er aber nach einigen Stunden in „Ich
       gratuliere“. Nur sein Kandidat für die EU-Wahl Harald Vilimsky blieb
       konsequent. Er outete sich als Fan von Udo Jürgens und wünscht sich einen
       Bewerb, „wo ein Österreicher in deutscher Sprache singt“.
       
       Vielleicht bedurfte es ja wirklich der Strahlkraft der „Queen of Austria“,
       dass Österreich sich nicht nur zu Lipizzanern, Mozartkugeln und
       Alpengipfeln bekennt, sondern auch zu Toleranz, Vielfalt und einer offenen
       Gesellschaft. Mehrheitsfähig ist das allemal.
       
       12 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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