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       # taz.de -- Die Ostgrenze der Europäischen Union: Andere Russen als drüben
       
       > Daugavpils im Osten Lettlands ist mehrheitlich russisch. Multikulti ist
       > gelebte Realität. Was denken die Menschen über die Krim-Annexion und ihre
       > Zukunft?
       
   IMG Bild: Daugavpils: Der Bär kommt nur selten zum Steppen auf dem Einheitsplatz vorbei.
       
       DAUGAVPILS taz | Vier Kirchen stehen auf dem Berg der Kirchen von
       Daugavpils. Eine russisch-orthodoxe Kirche, deren Kuppeln golden in der
       Sonne leuchten. Eine katholische mit zwei weißen, barocken Türmen. Eine
       Kirche in Backsteingotik, die die Lutheraner nutzen, und ein Gotteshaus der
       Altgläubigen. Aus Protest gegen die Liberalisierung ihrer Orthodoxie flohen
       sie einst aus Russland.
       
       Die vier nebeneinanderstehenden Kirchen sind so etwas wie das Symbol der
       multireligiösen und multikulturellen Stadt im äußersten Osten Lettlands.
       Bis nach Russland, Weißrussland und Litauen sind es nur wenige Kilometer.
       Doch der Berg der Kirchen erhebt sich nicht etwa im Zentrum von Daugavpils,
       sondern liegt abseits an seinem Rand. Und die russischen Kirchen sind von
       Zäunen umgeben.
       
       Das Stadtzentrum wird von ganz anderen Institutionen geprägt. Da ist die
       Bar „Klondaike“, ein Paradies für Zocker. Und da sind die Supermärkte
       „Maxima“ und „Iki“. Eine Piazza, einen Platz, auf dem sich die Bürger zum
       Flanieren und auf einen der auch hier beliebten Milchkaffees treffen
       könnten, gibt es nicht. Stattdessen Parkplätze, die sich in riesigen Parks
       mit noch riesigeren Denkmälern verlieren. Wo sich die Jugendlichen am
       Wochenende mit ihren Wodkaflaschen zwischen Autos niederlassen.
       
       Neben Iki und Klondaike existiert in Daugavpils noch eine weitere wichtige
       Institution. In einem etwas heruntergekommenen einstöckigen Haus, an dem
       ein schwarz-rot-goldenes Schild mit der Aufschrift „Erfolg“ hängt, hat der
       „Verein der Dünaburger Deutschen“ seinen Sitz. Denn Dünaburg, wie
       Daugavpils auf Deutsch heißt, wurde im 13. Jahrhundert von deutschen
       Rittern gegründet.
       
       ## Businesskostüm und Dirndl
       
       Zum „Erfolg“ gelangt man durch eine unscheinbare Glastür. Hinter ihr öffnet
       sich ein schmaler Gang, von dem aus eine steile Treppe in den ersten Stock
       führt. Eine Ladenglocke kündigt den Besucher an. In einem Raum, der kaum
       zehn Quadratmeter misst, sitzen etwa ebenso viele junge Männer und Frauen
       vor Computern und einer großen Deutschlandfahne.
       
       Die Ladenglocke ertönt ziemlich häufig, die Besucher fragen nach
       Fortbildungskursen, brauchen Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche oder
       wollen einfach nur ihre Smartphone-Fotos auf den Flachbildschirmen
       bearbeiten. Die Sprache jedoch, in der sich beim Dünaburger Verein der
       Deutschen alle unterhalten, ist nicht Deutsch und auch nicht Lettisch,
       sondern Russisch.
       
       Vorsitzende von „Erfolg“ ist Olga Jesse. Sie ist gerade einmal 31 Jahre alt
       und trägt zu ihren mehr roten als braunen Haaren gern strenge, schwarz-grau
       gemusterte Kostüme. Wobei sie bei öffentlichen Veranstaltungen das Kostüm
       schon einmal gegen ein Dirndl tauscht. Olga Jesse scheint ständig unter
       Strom zu stehen. Seit den Zeiten der Kreuzritter sei ihre Familie im
       Baltikum ansässig, erzählt sie zwischen zwei Telefonaten, nur das adelige
       „von“, das so viele deutschbaltische Familien im Namen tragen, sei
       irgendwie abhanden gekommen.
       
       Olga spricht fast perfekt Deutsch, arbeitet für die Stadtverwaltung und ist
       so gut vernetzt, dass sie stets eine der ersten Ansprechpartnerinnen für
       Auswärtige ist. Olga kennt sich gut aus mit den Anträgen für EU-Gelder.
       Auch die Bundesrepublik zahlt für die Bewahrung der deutschen Kultur im
       Ausland.
       
       So hat „Erfolg“ tatsächlich Erfolg. Mit 30 Angestellten ist der Verein der
       Deutschen die größte und bekannteste NGO der Stadt, dabei leben im 100.000
       Einwohner zählenden Daugavpils gerade noch 250 Deutsche. Doch Olga Jesse
       gibt unumwunden zu, dass es ihr um mehr geht als um die Deutschen von
       Dünaburg. Ihr Ziel ist die „Wiedergeburt der Stadt“. Dafür engagiert sich
       sich in einer Partei, die sich nicht rechts oder links nennt, sondern
       „Lettgallen“. Lettgallen, das ist nicht nur die kulturell vielfältigste
       Region Lettlands, sondern auch die ärmste. Wer das Zentrum von Daugavpils
       gesehen hat, weiß, was Olga Jesse mit Wiedergeburt meint.
       
       ## Die Krim Lettlands
       
       Jesse kümmert sich besonders um die sozial Benachteiligten von Daugavpils,
       und genau darum geht es auch dem zweiten populären Politiker der Stadt.
       Jurij Zajcev ist mit 26 Jahren noch jünger als Olga. Stolz trägt er das
       Abzeichen des Stadtratsabgeordneten am Revers seines dunkelblauen Jacketts
       und bezeichnet sich als ein „Antifaschist“ und „europäischer Russe“.
       Allerdings spricht er außer Russisch keine europäische Sprache.
       
       Selbst diejenigen, die von Zajcevs Positionen wenig halten, loben ihn für
       seine Sozialpolitik. Der Jurist war als Beobachter des
       Unabhängigkeitsreferendums auf der Krim und ist überzeugt, dass es dort
       demokratischer als bei Wahlen in Lettland zugegangen sei.
       
       Mit seinen 55 Prozent russischsprachigen Bewohnern wird Daugavpils in den
       Medien gern als die Krim Lettlands bezeichnet und die angebliche
       Unterdrückung der russischen Sprache in Lettland ist auch das ganz große
       Thema Zajcevs: „Die Letten wollen, dass ich meine russische Sprache
       vergesse. Doch genauso wie meine Vorfahren, die Altgläubigen, ihre Religion
       verteidigten, so werde auch ich mich wehren. Falls Russisch nicht zweite
       Amtssprache in Daugavpils wird, könnten sich die Ereignisse auf der Krim
       hier wiederholen.“
       
       Das ist eine Drohung und Zajcev registriert genau, wie sein Publikum darauf
       reagiert. Denn ganz so russisch-national, wie es auf den ersten Blick
       scheint, ist der 26-Jährige nicht gestrickt. Schon zu Anfang des Gesprächs
       bekennt er sich zu der multikulturellen Tradition seiner Heimatstadt und
       ringt daher bei der Frage, auf welcher Seite er im Kriegsfall stehen würde
       – auf der Russlands oder Lettlands – minutenlang um eine Antwort. Um
       schließlich zu sagen: „Auf meine Straßennachbarn werde ich wohl nicht
       schießen.“
       
       ## Schulunterricht auf Russisch
       
       Tatsächlich kommt beim Spaziergang durch Daugavpils nicht der Eindruck auf,
       dass Russisch unterdrückt wird. Egal, ob bei Klondaike, Iki oder im Café
       Vesma, wo Zajcev gerade sitzt – die Beschriftungen sind Lettisch, doch
       gesprochen wird fast ausschließlich Russisch. Die Letten stellen in dieser
       lettischen Stadt gerade einmal 16 Prozent der Bevölkerung, und so ist die
       „lingua franca“ der Einfachheit halber Russisch.
       
       Selbst in Schulen, wo sechzig Prozent des Unterrichts dem Gesetz nach auf
       Lettisch stattfinden sollten, werden meist nur die Prüfungen in der
       Landessprache durchgeführt. Denn auch die Lehrer sprechen besser Russisch
       als Lettisch. Wenn jemand über Einschränkungen der eigenen Sprache klagen
       könnte, so sind es die Letten.
       
       „Das Sprachenthema wird von russischen Politikern zur Mobilisierung vor
       Wahlen benutzt und es zieht besonders bei den sozial Schwachen“, sagt dazu
       der Historiker Dmitrijs Olemnovics, der an der Universität von Daugavpils
       lehrt. Dem 37-Jährigen geht es, wie Olga Jesse und Jurij Zajcev, um die
       Wiedergeburt seiner Heimatstadt. Und doch wird nun zum ersten Mal deutlich,
       dass es trotz aller Bekenntnisse zu Multikulti wichtig ist, welcher Kultur
       man sich in erster Linie zugehörig fühlt.
       
       Olemnovics versteht nicht wirklich, dass UNO und EU Lettland wegen der
       Frage der fehlenden Staatsangehörigkeit der Russen unter Druck setzen:
       „Viele Russen wollen keinen lettischen Pass, weil ihnen die alte
       sowjetische Staatsbürgerschaft viele Vorteile bringt. Sie können ohne Visum
       nach Russland reisen, Frauen haben schon mit 55 Jahren Anspruch auf Rente
       aus Russland. Dass sie nicht wählen können, ist ihnen weniger wichtig.“ Und
       genau deshalb hält der Historiker eine Entwicklung wie auf der Krim für
       nicht wahrscheinlich.
       
       ## „Die von hier“
       
       „Die Russen in Lettland sind anders als die Russen in Russland“, erzählt
       etwa Olga Krushinskaya, die junge, russischsprachige, lettische
       Geschäftsführerin des Augsburger Unternehmens Ziegler. „Sie sind
       disziplinierter, einfach europäischer.“ Und der Historiker stellt fest:
       „Die Menschen hier reden nicht viel über Politik. Sie definieren sich über
       persönliche Beziehungen. Sie bezeichnen sich als ’Tudejci‘, was so viel
       bedeutet wie ’die von hier‘. Die Nationalität ist da viel weniger wichtig.“
       
       Eine Lettin, deren Eltern keine lettische Staatsbürgerschaft haben, ist die
       22-jährige Elina Griskane. Falls sie dadurch Nachteile hat, ist ihr dies
       nicht anzumerken. Im Gegenteil. Die Germanistikstudentin fährt zu
       Showdance-Wettbewerben ins Ausland, jobbt abends in einer Kneipe und lehnt
       die Propaganda des russischen Staatsfernsehens über die Krim ab. Auch daher
       will Elina unbedingt an den Europawahlen teilnehmen.
       
       Ihre vier Kommilitoninnen äußern sich zurückhaltender – obwohl sie alle gut
       Deutsch sprechen. Die russischstämmige Anastasija Cizevsksa meint, dass die
       Ukraine-Krise keine Auswirkungen auf ihr Leben habe. „Wir wollen nur in
       Ruhe zusammenleben.“ Die Lettin Ilze Ivanova hat diese Ruhe nicht. Sie
       macht sich Sorgen, weil der Freund ihres Bruders meint, dass Lettgallen
       Teil Russlands werden sollte. Und: Die lettische Familie will nicht
       vergessen, welches Leid die Deportation des Urgroßvaters nach Sibirien mit
       sich brachte. Auch wenn dies mehr als ein halbes Jahrhundert her ist.
       
       Doch eigentlich wollen die jungen Frauen viel lieber über ihre Zukunft
       reden. Ob sie ins Ausland gehen oder in Daugavpils bleiben, um Deutsch zu
       unterrichten. Die Politik, die überlassen sie lieber Politikern wie Olga
       Jesse oder Jurij Zajcev. Ein wenig erinnern die fünf Studentinnen an die
       Kirchen des Kirchbergs von Daugavpils. Sie stehen nebeneinander. Friedlich,
       doch ohne Berührung.
       
       Die Wiedergeburt einer Stadt müsste wohl anders aussehen. Und so könnten
       sich für Russlands Präsidenten Wladimir Putin doch noch unerwartete Chancen
       ergeben. Wie warnte ausgerechnet der russisch-nationale Jurij Zajcev: „Der
       Westen muss aufpassen. Auf uns und auf sich.“
       
       11 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Herre
       
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